Form follows function. Welche Form hat Pflege?

Ein Blog, der sich dem Anspruch verpflichtet hat, die Möglichkeiten zu einer neuen Pflege zu reflektieren, muss auch ihre erste Form untersuchen. Die erste Form der Pflege, das sind ihre Zimmer, Türen und Flure: die Einrichtung als solches, die in ihrer architektonischen Konzeption die ersten Grundvoraussetzungen für Pflege in ihren Mauern festschreibt, die Pflege ein Dach gibt, ihre Laufwege determiniert und ihr ein Mehr oder Weniger an organisatorischer Flexibilität abverlangt. Mauern können einengen oder Raum geben, aussperren oder behüten. Mauern definieren die erste Form der totalen Institution Pflegeheim.

Welche Form hat Pflege? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Form der Pflege nicht frei wählbar ist. Die Form der Pflege hat Vorschriften zu befolgen. In Baden-Württemberg heisst diese Vorschrift: “Verordnung des Ministeriums für Arbeit und Soziales zur baulichen Gestaltung von Heimen und zur Verbesserung der Wohnqualität in den Heimen Baden-Württembergs“, kurz: “Landesheimbauverordnung“ oder noch kürzer: “LHeimBauVO“.

Vorschriften sind praktisch, sie ersparen einem die Mühen eigener Gedanken und Planungen und haben den Zweck, eine erwünschte Ordnung herzustellen. Die LHeimBauVO wünscht demzufolge die Erhaltung von Würde, Selbstbestimmung und Lebensqualität der Heimbewohner. Sie weiss, dass “Heime (…) in erster Linie Wohnraum (sind)“, der “den Bestrebungen zur Normalisierung der Lebensumstände in stationären Einrichtungen zu entsprechen” hat. Sie verortet diese Normalisierung fast ausnahmslos in Einzelzimmern von mindestens 14 m² Grösse und weist dem einzelnen Bewohnern einen Anteil an gemeinschaftlich genutzten Aufenthaltsbereichen von mindestens 5 m² zu. Des Weiteren regelt sie akribisch die Ausstattung des Pflegeheims bezüglich Art und Anzahl der Nasszellen, der Notwendigkeit von Funktionsräumen oder der Erreichbarkeit des Pflegebades. Damit definiert die LHeimBauVO nicht nur einen sehr hohen und teuren Standard, sie schreibt diesen auch allen Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg mit einer Übergangsfrist von zehn Jahren zwingend vor. Bei der allgemeinen Baukonzeption jedoch, der eigentlichen Form, bleibt die LHeimBauVO indifferent:

“In den Heimen soll den Bewohnern grundsätzlich die in Privathaushalten übliche und ansonsten, soweit notwendig, eine an körperliche und kognitive Einschränkungen angepasste oder anpassbare Wohnausstattung zur Verfügung stehen. (…) Die Bau- und Raumkonzepte müssen weiterhin so gestaltet werden, dass den jeweils besonderen Bedürfnissen unterschiedlicher Bewohnergruppen im Hinblick auf Selbständigkeit und Sicherheit Rechnung getragen wird.”

Das sind letztlich Allgemeinplätze und Forderungen, deren Erfüllung wohl jede bestehende Pflegeeinrichtung schon heute für sich in Anspruch nehmen wird. In den Sätzen steckt ein “irgendwie”, ein “nicht so wichtig”, das in merkwürdigem Kontrast zu der Akribie steht, mit welcher die selbe Verordnung Quadratmeterzahl, Einzelzimmerstatus und Ausstattungsstandards festlegt. Kritiker unterstellen der LHeimBauVO deshalb auch, dass ihr eigentlicher Sinn darin bestünde, den baulichen Standard der mit allgemeinen Steuermitteln aus der Pflegeheimförderung finanzierten Pflegeheime für alle anderen Pflegeheime verbindlich vorzuschreiben. Dies hätte in spätestens zehn Jahren eine marktbereinigende Wirkung, da für viele bestehende privat finanzierte Pflegeheime die dann notwendigen Umbauarbeiten zu teuer und nicht finanzierbar wären oder die Umlegung der dann anfallenden Investitionskosten auf den Pflegesatz sie zu teuer und nicht mehr konkurrenzfähig werden liesse.

Um bereits hier Missverständnissen vorzubeugen: reformpflege teilt selbstverständlich die in der LHeimBauVO zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass Heimbewohner das Recht auf eine Privat- und Intimsphäre haben. Wer könnte dem widersprechen? Drei- und Mehrbettzimmer sind schon lange nicht mehr zeitgemäss und waren es vermutlich nie. Auch unterstützt reformpflege die Forderung nach Hebung des Ausstattungsstandards. Jedes Bewohnerzimmer sollte über einen eigenen Sanitärbereich verfügen bzw. diesen mit nur einem anderen Bewohnerzimmer teilen müssen, so lange die Bewohner körperlich nur irgendwie in der Lage sind, diese Nasszellen, insbesondere die geforderten Duschen, auch zu nutzen. reformpflege steht dem Anspruch der LHeimBauVO alle Pflegeheime im Land fast ausschliesslich mit Einzelzimmern auszustatten jedoch kritisch gegenüber. Doppelzimmer können gerade in der Betreuung von Menschen mit schwerer Demenz einen therapeutischen Nutzen haben.

Welche Form hat Pflege? Die Form der Pflege hat die Funktion der Pflege zu unterstützen. Das ist keine sonderlich überraschende Erkenntnis. Funktion meint in diesem Kontext aber gerade nicht die Funktion des Wohnens und des sich “Aufenthaltens“. Pflege hat auch nicht die Funktion, die Bedürfnisse einer politischen Klientel zu befriedigen sondern sollte bereits durch ihre Form auf die Erfüllung der Bedürfnisse ihrer eigenen Klientel, der pflegebedürftigen Menschen, vorbereitet sein. Pflege sollte deshalb eine Idee davon haben, wie diese Bedürfnisse sinnvoll zu befriedigen sind und ihre Mauern um diese Idee der eigenen Funktion herum bauen. Hat Pflege lediglich die Idee des Wohnens und Aufenthaltens, baut sie auch Heime des Wohnens und Aufenthaltens. In diesem Sinne ist demode nur eine Idee von vielen möglichen, eine Funktion von vielen denkbaren und wenn Form ihrer Funktion folgt, könnte Pflege immer mindestens genauso viele Formen haben, wie Ideen von sich selbst. Das aber würde voraussetzen, dass die LHeimbauVO und andere Vorschriften selbst Raum lassen für einen kreativen Ideenwettbewerb und der daraus vielleicht resultierenden Formenvielfalt statt pflegerische Kreativität zu behindern, indem Heime als Wohnräume vordefiniert werden.

Welche Form hat demode? Die Mauern unserer Einrichtung bestanden schon vor der Implementierung von demode. Auch wenn in den letzten Jahren immer wieder bauliche Veränderungen vorgenommen wurden, erfordern die architektonischen Gegebenheiten doch jeden Tag eine gewisse organisatorische Flexibilität. Es ist deshalb ausserordentlich verlockend, an dieser Stelle einmal umgekehrt zu verfahren und die bauliche Form an die Funktion anzupassen und somit die Mauern selbst zu flexibilisieren – wenn auch leider nur in Gedanken.

Aufgrund des erweiterten und differenzierten Pflegebegriffes impliziert demode eigentlich drei Formen in einer. demode differenziert die Spezifität der Betreuungsbedarfe der Menschen mit Demenz je nach Verlaufsstadium der Demenzerkrankungen in drei Gruppen: leichte, mittlere und schwere Demenz. Jeder Betreuungsbedarf ist anders zu begleiten, weshalb die Gruppen homogen zu halten sind. Das wiederum impliziert die vertikale Differenzierung der Pflegeeinrichtung in insgesamt drei Pflegegeschosse. Station I für die leichten, Station II für die mittleren und Station III für die schwereren Verlaufsstadien der Demenz.

demode ist eine Gruppentherapie, weshalb auf jeder Station zentrale Gruppenräumlichkeiten vorzusehen sind. Die Gruppenräume werden tagtäglich therapeutisch genutzt. Unter Berücksichtigung therapeutisch effizienter Gruppengrössen als auch der Wirtschaftlichkeit sollte die Pflegeeinrichtung nicht grösser aber auch nicht kleiner sein als 80 Betten. Unter dieser Grösse können die benötigten therapeutischen Ressourcen wirtschaftlich nicht dargestellt werden – sollte die Einrichtung signifikant grösser sein, würden die Gruppen therapeutisch ineffizient bzw. wären weitere therapeutische Ressourcen notwendig aber in der wirtschaftlichen Relation nur schwer finanzierbar.

Die Umsetzung des therapeutischen Konzepts demode hat unmittelbare Konsequenzen auf den alltäglichen Heimbetrieb. Die Bewohnerzimmer der Stationen I und II werden tagsüber während der Gruppenarbeit allenfalls für die Mittagsruhe genutzt und sind ansonsten menschenleer. Pflegestützpunkte sind aus diesem Grund auf den ersten beiden Stationen nicht zwingend erforderlich. Die pflegerische Versorgung aller Bewohner könnte idealerweise von nur einem Pflegestützpunkt auf der dritten Station erfolgen.

Demenz ist ein Prozess.

Mit dem Fortschreiten der Demenzerkrankungen, werden die Menschen in der Regel pflegebedürftiger. Je pflegebedürftiger die Bewohner werden, desto höher ziehen sie in der Einrichtung um. Die Station III beherbergt so ausschliesslich schwer pflegebedürftige, schwer demente und grösstenteils immobile Bewohner. Die vertikale Differenzierung der Bewohnerschaft homogenisiert die Betreuungsbedarfe nach Stationen und garantiert gerade den schwerst pflegebedürftigen Bewohnern damit am Tag und in der Nacht kürzere Wege der Pflegenden und somit eine intensivere Zuwendung. Pflege ist Handarbeit und deshalb zu teuer, um Zeit und damit Geld in den Treppenhäusern liegen zu lassen.

Die Zimmer gruppieren sich in zwei Flügeln um die Gruppenräume. Zur Vermeidung längerer Flure und zur Halbierung der Laufwege ist es wünschenswert, die Zimmer in einem Rundgang anzuordnen. Alle Einzelzimmer sind baulich absolut gleich zu gestalten, das erleichtert den Bewohnern die Orientierung im neuen Zimmer, sollten sie aufgrund des Fortschreitens der Demenz in das nächsthöhere Stockwerk umziehen.

Die Ausgestaltung der Gruppenräume differiert zwischen den unterschiedlichen Gruppen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Gruppenräume innenarchitektonisch desto “enger” und “einfacher” zu gestalten sind, je höher der Grad der Demenz der betroffenen Menschen ist. Alle Gruppenräume sollten jedoch über eine breite Fensterfront nach Süden verfügen, die möglichst lange Tageslichtphasen gewährleistet. Die Tageslichteinwirkung für die Bewohner der dritten Station, das ist die für basale Stimulationen empfänglichste und bedürftigste Bewohnergruppe, sollte durch Oberlichter noch maximiert werden können.

Bei den hier vorgestellten Überlegungen handelt es sich nur um eine mögliche gedankliche Schablone eines Pflegeheims. Diese Mauern gibt es in dieser Form noch nicht, vieles bleibt unbedacht und muss erst noch weiter entwickelt werden. Aufgrund der tagtäglichen Erfahrungen mit dem bereits existenten Betriebssystem demode in den bestehenden Mauern, können wir jedoch schon jetzt feststellen, dass die Zimmer der mobilen Bewohnerschaft eigentlich nur zum Schlafen aufgesucht werden. Ohne die Form an sich anzutasten, verändert demode bereits die Funktion der Pflege. Aus Wohnraum wird Schlafraum und aus Aufenthaltsräumen Gruppenräume, die wiederum den sozialen Raum erst eröffnen, der eine Grundvoraussetzung ist für den von der LHeimBauVO geforderten Erhalt von Würde, Selbstbestimmung und Lebensqualität. Menschen bleiben auch in der Demenz soziale Wesen, was nutzt ihnen ein Einzelzimmer so gross wie eine Turnhalle, wenn sie dort vom Leben isoliert vor sich hin wohnen? Das impliziert aber nicht, dass Doppelzimmer grundsätzlich die bessere Wahl sind. Sie sind lediglich ein Mittel zur Wahl, das als therapeutische Ressource nutzbar gemacht werden kann. Es gibt nun einmal Bewohner mit Demenz, die sich nachts im Einzelzimmer verloren fühlen und dort regelmässig Angstgefühle entwickeln. Die Anwesenheit eines anderen Menschen kann ihnen diese Angst nehmen. Es ist hierbei noch nicht einmal eine besondere affektive Nähe zwischen zwei Menschen erforderlich, es genügt oft schon die durch leise Bettgeräusche und hörbare Atemzüge intuitiv vermittelte Gewissheit, nicht allein zu sein. Form hat der Funktion zu folgen und Doppelzimmer können die Funktion haben, Ängste zu nehmen. Insofern irrt die LHeimBauVO: Heime sind nicht in erster Linie Wohnraum, sie können aber ein Raum sein, der seine Formen therapeutisch so einsetzt und definiert, dass auch Bewohnern mit einer krankheitsbedingt beeinträchtigten Selbstkompetenz die geforderte Würde, weitestgehende Selbstbestimmung und Lebensqualität erhalten werden kann. Heime werden dann zu Lebensraum – und das sollten sie in erster Linie auch sein.

2 Kommentare zu „Form follows function. Welche Form hat Pflege?“

  1. [...] Wirkung entfalten soll: die LandesHeimBauVerordnung (behördendeutsche Abkürzung: LHeimBauVO. reformpflege berichtete). Besagte Verordnung schreibt allen Heimen, ob sie gefördert sind oder nicht, die [...]

  2. [...] still und leise wurde die Landesheimbauverordnung (behördendeutsche Abkürzung: LHeimBauVO – reformpflege berichtete) verändert. Die geänderte Fassung der LHeimBauVO tritt rückwirkend zum 01.09.2009 in Kräft und [...]

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