McPflege – Teil 2

Es gibt Sätze, die sind förmlich zu Tode zitiert worden. Und einer dieser Sätze stammt von Winston Churchill und redet von der Statistik. Und wenn auch dieser Satz gerade heute immer noch seine Berechtigung hat, so sei er hier verschwiegen.

Das Folgende ist schwere Kost, schwer, weil jetzt die Zahlen reden, die eigentlich für Klarheit sorgen sollen, aber auch gerne benutzt werden, um Unklarheit zu schaffen, wenn sie denn überhaupt genannt werden. Aber reformpflege hat Grundlegendes versprochen und Grundlegendes ist zuweilen schwere Kost. Die weiteren Teile von McPflege werden wieder leichter zu lesen sein, wie auch für den einen oder anderen trotzdem schwer verdaulich.

„Ab 2011 ist der Bedarf an Pflegeheimen gedeckt.“ gab das Sozialministerium Baden-Württemberg schon 2009 bekannt, es sei deshalb nicht mehr notwendig, den Bau oder Umbau von Pflegeheimen mit jährlichen 50 Millionen Euro an allgemeinen Steuermitteln wie in all den Jahren zuvor zu subventionieren. Denn nun, so gab das Ministerium des Weiteren bekannt, sei mit 86.000 stationären Pflegeheimplätzen im Ländle der Zustand der Bedarfsdeckung erreicht. Man ziehe sich nach getaner, notwendiger Arbeit zurück und überlasse es dem freien Mark, zukünftig vielleicht noch notwendige Kapazitäten in Eigenregie zu erstellen und auch zu finanzieren. Das ist in Zeiten einer klammen Landeskasse und noch klammeren Gemeindekassen natürlich eine durchaus löbliche Einstellung, wenn nur der freie Markt, sofern es diesen überhaupt jemals gegeben hat oder geben wird, durch die jahrelangen staatlichen Eingriffe in denselben nicht bereits erhebliche Deformationen erlitten hätte.

Ein Jahr später, Anfang 2010 wird das Aus der Pflegeheimförderung nochmals bekräftigt. 95.000 stationäre Heimplätze stünden den Baden-Württembergern auch Dank der unermüdlichen Bemühungen der Landesregierung zur Verfügung, eine wohnortnahe pflegerische Versorgung der Bürger sei somit gewährleistet. Die Pflegeheimförderung wird für die Jahre 1997 bis 2009 mit 660 Millionen Euro beziffert, was zusammen mit dem Fördergeld von 2010 einem Gesamtvolumen der Pflegesubventionen von 710 Millionen Euro entspricht.

Bei all den Erfolgsmeldungen irritieren die unterschiedlichen Angaben über die tatsächlich verfügbaren Plätze im Land, mal sind es 86.000 Plätze und nur ein Jahr später bereits 95.000. Nun ist der baden-württembergischen Pflegeheimförderung einiges zuzutrauen, eine Steigerung der Pflegeheimkapazität um über 10 % innerhalb eines Jahres schafft aber auch sie nicht. Welche Zahl stimmt also? Die Differenz zwischen den beiden Zahlen ist schon deshalb bemerkenswert, da das Ministerium als auch das statistische Landesamt sehr wohl um die genaue Platzzahl im Land wissen sollten, traktieren sie doch alle zwei Jahre alle Pflegeheime im Land mit einem umfangreichen Fragebogen, dessen Bearbeitung verpflichtend ist und in dem so ziemlich nach allem und zuallererst nach der Zahl der verfügbaren Plätze gefragt wird. Wenn es also zu einer Verwirrung um die genau zur Verfügung stehenden Plätze gekommen ist, so kann diese nicht darin begründet sein, dass das Ministerium es nicht besser wüsste. Aber vielleicht scheint man die mit vielen Millionen gepäppelte Zahl nur sehr ungern an die grosse Glocke hängen zu wollen. Denn es ist schon bemerkenswert, dass die baden-württembergische Pflegestatistik 2007 diese nicht ganz unwichtige Zahl verschweigt und auch die jüngst veröffentlichen Eckdaten der Pflegestatistik 2009 (zusätzliche pdf-Datei) in ihrer schütteren Umfänglichkeit die Platzzahl wiederum unterschlagen und lediglich auf die Anzahl der Heime und deren Belegung verweisen und den interessierten Leser ansonsten mit allerlei Belanglosigkeiten abspeisen.

Versucht man die Zahl der in Baden-Württemberg verfügbaren Heimplätze anhand der veröffentlichten Eckdaten der Pflegestatistik 2007 herzuleiten, ergeben sich zunächst unterschiedliche Ergebnisse:

Rechnung 1

Die Statistik 2007 zählt insgesamt 83.951 belegte Heimplätze und beziffert den Auslastungsgrad der Pflegeheime auf 87 %.

(83.951 : 87) x 100 = 96.495 Heimplätze

Rechnung 2

Die Statistik zählt 2007 insgesamt 1.384 Pflegeheime mit durchschnittlich 66 Plätzen je Pflegeheim.

1.384 x 66 = 91.344 Heimplätze.

Rechnung 3

Die Statistik 2007 weist aus, dass für 1000 Einwohner von Baden-Württemberg je 9 Heimplätze zur Verfügung standen. Laut dem statistischen Landesamt hatte das Land 2007 10,749 Millionen Einwohner.

10.749 x 9 = 96.741 Heimplätze.

Der Unterschied zwischen dem ersten und dem letzten Ergebnis lässt sich bei einigem guten Willen noch durch Rundungsdifferenzen erklären. Das zweite Ergebnis fällt jedoch derart aus dem Rahmen, dass mit einer der Variablen etwas nicht stimmen kann. Die bundesweite Pflegestatistik 2009, die voll umfänglich vorliegt, beziffert die durchschnittliche Platzzahl aller deutschen Heime mit 72. Hält man Baden-Württemberg zugute, dass sehr grosse Einrichtungen mit über 200 Plätzen nicht so oft vorkommen wie in den neuen Bundesländern, wo zum Teil ganze Plattenbaukomplexe nach der Wende zu Pflegeheimen umfunktioniert worden sind, dann könnte man die durchschnittliche Platzzahl von 72 für Baden-Württemberg vorsichtig auf 69 reduzieren, um den hiesigen Verhältnissen besser gerecht zu werden. Rechnet man mit der verbesserten Variable, so ergeben sich 96.496 Heimplätze, was fast exakt dem Ergebnis der Rechnung 1 entspricht. Man kann also mit einiger Sicherheit annehmen, dass Baden-Württemberg 2007 über ca. 96.500 Heimplätze verfügte.

Über welche Platzzahl verfügt Baden-Württemberg im Jahre 2009? Da die genaue Platzzahl in den bisher veröffentlichten Eckdaten der Pflegestatistik 2009 verschwiegen wird und auch zwingend davon auszugehen ist, dass sich an dieser Informationspolitik vor den anstehenden Landtagswahlen nichts mehr ändern wird, kann die verfügbare Platzzahl 2009 nur auf Basis der Zahlen von 2007 hochgerechnet werden.

2007 verfügte Baden-Württemberg über 1.384, im Jahr 2009 laut Statistik bereits über 1.466 Pflegeheime, das ist ein Zuwachs um 5,9 %. Unterstellt man, dass die durchschnittliche Platzzahl gleichgeblieben oder nur geringfügig gesunken ist, so ergibt sich für 2009 eine verfügbare Platzzahl von 102.193 Pflegeheimplätze, die hier nach dem Gebot der vorsichtigen Schätzung gleich auf 100.000 abgerundet wird. 2010 wurden von der Landesregierung noch einmal 50 Millionen Euro in einen bereits völlig übersättigten „freien“ Markt gepresst, weshalb zwingend davon auszugehen ist, dass die verfügbare Pflegeplatzanzahl noch einmal um schätzungsweise 2 % angestiegen ist. Diese nochmalige Steigerung bleibt jedoch hier ausdrücklich unberücksichtigt, da noch keine „sicheren“ Daten vorlegen.

„Ab 2011 ist der Bedarf an Pflegeheimen gedeckt.“ verlautbarte das Sozialministerium 2009. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus, der Bedarf ist nicht nur gedeckt, er ist übererfüllt: Stieg die Zahl der stationären Heimbewohner von 2007 bis 2009 lediglich um 0,8 %, wurde die Kapazität der baden-württembergischen Pflegeheime im gleichen Zeitraum um 5,9 % erhöht, so dass im Jahr 2007 eine Überkapazität von 12.549 und im Jahr 2009 von 15.981 Heimplätzen zu Buche schlägt. Heimplätze, zum Grossteil finanziert durch allgemeine Steuermittel, die heute und auch in den nächsten Jahren kein Mensch braucht. Wann aber ist in unserer alternden Gesellschaft mit einer Bedarfsdeckung zu rechnen? Das statistische Landesamt legte 2007 eine Vorausberechnung der Pflegebedürftigkeit im Lande vor. Basierend allein auf den demographischen Fakten, ohne Berücksichtigung etwaiger medizinischer oder pharmazeutischer Neuerungen im Bereich der Demenztherapie oder des derzeitigen Trends zur ambulanten Pflege, der sich nach Ansicht von Experten noch verstärken wird, rechnet das Landesamt die Pflegebedürftigkeit in dieser Studie bis zum Jahr 2030 hoch. 2005 benötigte das Land durchschnittlich 7,3 Pflegeplätze auf 1000 Einwohner, bis 2030 soll diese Quote um 32,9 % ansteigen, das Land würde sodann 9,7 Pflegeheimplätze auf 1000 Einwohner benötigen. Allerdings nehmen aufgrund des Demographiewandels auch die Bevölkerungszahlen ab. Baden-Württemberg würde nach Prognose des Landesamtes im Jahr 2030 nur noch 10,373 Millionen Einwohner aufweisen können. Berechnet man anhand dieser Variablen den Pflegeplatzbedarf für 2030, so erhält man die Zahl von 100.618 Pflegeplätzen. Das heisst, das nach dieser Studie eine Bedarfsdeckung der derzeitigen Pflegeheimkapazitäten erst in zwanzig Jahren zu erwarten wäre, zu einem Zeitpunkt also, da die Mehrzahl der momentan bestehenden Heime ohnehin wieder sanierungsbedürftig sein werden.

Um der Fairness die Ehre zu geben, auch wenn sie an dieser Stelle eine Einbahnstrasse bleiben wird, sei darauf hingewiesen, dass das statistische Landesamt zwei Jahre nach seiner oben genannten Studie plötzlich eine „Alternativberechnung“ der zu erwartenden Pflegebedürftigkeit veröffentlichte (oder veröffentlichen musste), wonach der Pflegebedarf auf einmal förmlich explodiert und 2031 135.781 stationär Pflegebedürftige zu erwarten seien, also eine Bedarfsdeckung bis ca. 2023, genauer hatten sie es nicht, zu realisieren wäre.

Dass dem nicht unbedingt so sein muss, zeigt die Reaktion der Landesregierung, die auch die in ihrem Namen prognostizierte Verkürzung der Wartezeit nicht abwarten wollte oder konnte und deshalb beschloss, die Angelegenheit ein wenig zu beschleunigen und den ganzen vielen Millionen der Pflegeheimförderung eine bundesweit einzigartige Verordnung hinterherzuschicken, die eine gewisse marktbereinigende Wirkung entfalten soll: die LandesHeimBauVerordnung (behördendeutsche Abkürzung: LHeimBauVO. reformpflege berichtete). Besagte Verordnung schreibt allen Heimen, ob sie gefördert sind oder nicht, die Realisierung sehr hoher baulicher Standards bis 2019 zwingend vor, die viele bestehende Pflegeheime, die nicht gefördert wurden, deshalb kostenbewusster gebaut werden mussten und auch älteren Datums sein können, aus baulichen oder finanziellen Gründen nicht werden erfüllen können. Der Zweck dieser Verordnung ist entgegen allem vordergründigen Gutmenschengetue allein die Eliminierung von Überkapazitäten, das Angleichen von Angebot und Nachfrage und die Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen der geförderten Einrichtungen, die mit Steuermitteln wesentlich grosszügiger gebaut werden konnten und trotz der erhaltenen Subventionen in Baden-Württemberg zumeist teurer sind als die nicht geförderten.

Wer die Verhältnisse kennt, für den ist es nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass eine Landesregierung insgesamt 710 Millionen Euro an Steuermitteln in eine Branche subventioniert, um nach Auslaufen der Förderung gesetzliche Anstrengungen zu unternehmen, die durch die Pflegeheimförderung entstandenen Überkapazitäten wieder abzuschmelzen. Wer die Verhältnisse nicht kennt, für den bleibt es auch auf den zweiten Blick oft unverständlich, warum die öffentliche Hand 710 Millionen Euro an Steuermitteln in eine Branche subventioniert, deren privat-gewerbliche Vertreter jeden Tag beweisen, dass eine vergleichbare oder gar bessere Qualität auch ohne öffentliche Subventionen und inklusive Kapitaldienst erbracht werden kann, zumal die öffentlichen Kassen klamm sind und gerade die Kommunen nicht wissen, wie sie den Ausbau der Kindergartenkapazitäten finanzieren sollen, für dessen Durchsetzung sich Landes- als auch Bundespolitiker gerne feiern lassen.

Warum ist das so unverständlich? Vielleicht weil sich mit Kindergärten, abgesehen von ein paar wenigen Luxuskindergärten für die Superreichen, kein Geld verdienen lässt? Und weil ein gern missbrauchtes Argument für die Pflegeheimförderung ist, dass es sich bei den geförderten Heimen fast ausnahmslos um so genannte gemeinnützige Einrichtungen, mithin Non-Profit-Einrichtungen, handelt, die sich anders nicht finanzieren könnten? Und wenn dem so ist, warum bauen sie keine Kindergärten?

Letztendlich ist die Pflegeheimförderung im Verbund mit der LandesHeimBauVerordnung nichts anderes als der staatlich-dirigistische Versuch, die Pflegelandschaft in Baden-Württemberg zugunsten der grossen Sozialkonzerne Caritas, Diakonie etc. umzuschichten. Die Nähe zwischen der Politik und den so genannten Gemeinnützigen ist in Deutschland nichts Ungewöhnliches, sie ist in Baden-Württemberg nur besonders ausgeprägt und wird uns in dieser Fortsetzungsreihe noch weiter beschäftigen.

Den Preis für diese Umschichtung zahlen viele kleine Einrichtungen, die sukzessive vom Markt verschwinden werden. Den Preis zahlt aber auch Pflege, die nicht nur durch die so genannten gemeinnützigen Sozialkonzerne sondern auch durch die mit ihnen im Gleichschritt marschierenden privat-gewerblichen Konzerne, welche die staatlich verlangten Zulassungsbedingungen noch finanzieren können, immer mehr vereinnahmt, kommerzialisiert und ideell entkernt wird. Auch ein Punkt, der an dieser Stelle noch weiter analysiert werden soll.

Die nächste Folge von McPflege beschäftigt sich aber zunächst mit den Möglichkeiten, trotz offiziell anerkannter Gemeinnützigkeit völlig legal viel Geld zu verdienen.

1 Kommentar zu „McPflege – Teil 2“

  1. [...] 13. März dieses Jahres veröffentlichte reformpflege einen Bericht, in dem sie der (damaligen) baden-württembergischen Landesregierung vorwarf, über die Jahre [...]

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