Stockholm-Syndrom

Manchmal setzen sich eigentlich und in dieser Zeit ganz selbstverständliche Wahrheiten nur sehr zögerlich durch, auch wenn man sie immer und immer wieder in den Zeitungen oder auf den Webseiten liest und eine dieser Wahrheiten ist – Achtung, Zitat!:

“Es geht zunehmend vor allem um die Frage, wie viel Geld der Patient einbringt. Und nicht mehr vorwiegend darum, welche Therapie der Patient wirklich benötigt und auch verträgt.”

Eine dieser schlichten Wahrheiten, die uns eigentlich ganz geläufig sein sollten, dennoch aber immer wieder erstaunen, auch und gerade, wenn sie durch Zahlen und Fakten belegt wird, wonach in Deutschland im europäischen Vergleich viel zu viel operiert wird, viel zu viele Medikamente verordnet werden, für die deutsche Krankenkassen und Patienten gemessen an den Preisen im europäischen Ausland auch noch viel zu viel bezahlen müssen.

Und vermutlich gibt es zwei Gründe, warum ausgerechnet diese schlichte Wahrheit sich nicht durchsetzen kann, sie immer noch nicht geglaubt wird, obwohl eigentlich ein Jeder weiss oder wissen könnte, dass sie wirklich wahr ist.

Zum einen ist es die besondere Situation, in welcher der Einzelne oder der Patient gerät, sobald er aufgrund eines Defektes, körperlicher oder psychischer Art, professioneller Hilfe bedarf. Und eigentlich müsste man schreiben, dass er in diesem speziellen Falle der professionellen Hilfe nicht nur bedarf, sondern ihrer sogar bedürfen muss, da ihm keine andere Alternative bleibt ausser vielleicht den Defekt zu ignorieren, was in den allermeisten Fälle zur Folge hätte, dass der Defekt, sei es ein Blinddarmdurchbruch, eine Leistenhernie, eine Krebserkrankung, eine Psychose oder was auch immer sich nurmehr verschlechtert, was sich letztendlich und ziemlich todsicher zu einer Existenzbedrohung auswachsen würde. Will und kann der Patient also nicht mehr ignorieren, muss er der Behandlung bedürfen, sieht er sich einem medizinisch-pharmazeutischen Apparat gegenüber, den er nicht im Mindesten durchschaut. Er weiss in der Regel nicht, wie sein Defekt am besten zu behandeln ist; er weiss nicht, welche Behandlungsalternativen es gibt; er weiss nicht, welche Erfolgsaussichten verschiedene Behandlungsarten haben, welche Risiken sie bergen, noch welche Kosten ihm, der Krankenkasse oder der Allgemeinheit erwachsen. Der Patient ist ahnungslos, er ist hilflos oder mit einem anderen Wort: er ist ausgeliefert.

Und eben dieses Ausgeliefert-Sein ist vermutlich die Ursache für den zweiten Grund, weswegen er der oben genannten schlichten Wahrheit nur ungern Glauben schenkt, denn wenn er schon ausgeliefert ist, so wünscht es sich der Patient, dann möchte er natürlich keinem Halunken ausgeliefert sein. Er möchte vielmehr Menschen ausgeliefert sein, die es gut mit ihm meinen, die das Bestmögliche für ihn unternehmen, ihm den Defekt nehmen, ohne ihm andere Defekte zuzufügen. Der Patient möchte gerne glauben, dass die Vertreter des medizinisch-pharmazeutischen Apparates ihm wohlgesonnen sind.

Was der Patient hierbei nur zu gern ausblendet ist, dass der medizinisch-pharmazeutische Apparat unter einem ökonomischen Primat steht. Deutschland hat immer noch zu viele Krankenhausbetten, viele Krankenhäuser arbeiten defizitär, der Kostendruck ist enorm, was nicht wenige Häuser zwingt, den Umsatz pro Patient zu maximieren und zwar unabhängig von der therapeutischen Notwendigkeit oder des besseren medizinischen Wissens.

Der Patient ist in einer Situation, in die er sich nicht freiwillig begeben hat, sondern durch einen Defekt gezwungen wurde, in der er sich einer undurchschaubaren Macht ausliefern musste, sein Wohl und Wehe von einer Gewalt abhängig macht, deren Motivation wenn überhaupt nur partiell im Interesse des Patienten ist, denn der Patient hat kein unmittelbares Interesse daran, dass die Klinik an ihm möglichst viel Umsatz erwirtschaftet, er hat immer nur ein Interesse daran, dass er möglichst schnell wieder gesund wird. Es gibt wenige vergleichbare Situationen und zumal in dieser existenzbedrohenden Ausprägung eigentlich nur eine, in der ein Mensch gegen seinen Willen in die Gewalt anderer Menschen gezwungen wird, deren Denken und Handeln er nicht durchschaut und von denen er sich erhofft, sie würden sich in seinem Sinne, zu seinem Wohl einsetzen, obwohl er eigentlich wissen sollte, dass dem nicht so ist: und das ist die Situation einer Geisel, die dem Geiselnehmer ähnlich machtlos ausgeliefert ist, von ihm abhängig gemacht wurde, dessen Denken und Handeln er nicht durchschauen kann, da sie anderen Motivationen folgen, die nicht die seinen sind und von denen er nur hoffen kann, dass sie ihm wohlgesonnen bleiben, obwohl sie höchstens gleichgültig sind.

Beide, der Patient und die Geisel, befinden sich in ihrer Situation aus Angst vor einer körperlichen oder psychischen Versehrtheit, und beide, der Vertreter des medizinisch-pharmazeutischen Komplexes und der Geiselnehmer, versuchen aus dieser Angst den maximalen Profit zu ziehen. Und beide Situationen, die des Patienten und der Geisel, sind geprägt durch einen grösstmögliche Asymmetrie, der Machtlosigkeit auf der einen und der Allmacht auf der anderen Seite. Was aber macht aus einem Menschen eine Geisel oder Patienten? Im Falle der Geisel scheint der Fall klar, zu einer Geisel wird ein Mensch, indem er sich durch unmittelbare Gewaltandrohung dem Willen eines anderen Menschen unterwirft. Wie verhält es sich aber bei einem Patienten? Wird er zur Geisel des Apparates allein durch seinen Defekt? Oder durch die aus Lobbyinteressen gestrickte Gesundheitspolitik, die danach trachtet, ihn, den Patienten, möglichst unmündig und ahnungslos zu halten, so dass er sich gar nicht wehren kann? Oder sind es wir alle, wir Geiseln des Apparats, die aus Patienten Geiseln machen, weil wir immer wieder die Erwartungen des Apparats erfüllen, brave Geiseln zu sein.

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