Gefundene Fressen

Und natürlich muss man das Folgende nicht lesen. Und natürlich muss man das Folgende auch nicht schreiben. Da es hier schon oft gelesen und geschrieben steht. Weshalb es nicht neu geschrieben wird. Sondern nur konstruiert aus altem Geschriebenen und Gelesenen. Wie aus einem Baukasten zusammengesetzt. Aus alten Wörtern und Sätzen einen nicht neuen Text gebaut, in dem steht, was jeder wissen kann, aber nur die Wenigsten zur Kenntnis nehmen oder im Gedächtnis behalten wollen. Und es lieber vergessen. Vergessen, um sich dann wieder zu empören. Und sich zu gefallen in der Empörung, wenn sie wieder einmal im Fernsehen wackeren Aufklärungsjournalisten dabei zuschauen, wie sie undercover unhaltbare Mißstände in zwei deutschen Pflegeheimen und einem Pflegedienst aufdecken. Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei der Aktion um keine zufällige Stichprobe handelte, denn offenbar wusste man ziemlich genau, wo man suchen musste, verwundert die Tatsache, dass man oder die wackeren Undercover-Journalisten der Pflege etwas unterstellen, was vielleicht sogar die Grundunterstellung der Pflege ist. Man unterstellt ihr, sie sei anders. Man unterstellt ihr, sie sei nicht von dieser Welt. Und hat dann nach Aufdeckung der Mißstände gefälligst überrascht, so ehrlich empört zu sein, dass Pflege eben nicht anders ist, in ihr nicht die besseren Menschen arbeiten, sie vielmehr Teil dieser Welt ist, in welcher es, wie in jeder anderen Branche eben auch schwarze Schafe gibt.

Und?

Interessiert das irgendjemanden?

Vermutlich nicht. Sonst wäre man nicht jedes Mal auf´s Neue so wahnsinnig überrascht. Von der Pflege, die so böse sein kann.

Im Ernst. Was würden Sie machen, wenn Sie ein in die Jahre gekommener Undercover-Journalist wären, der für ein bisschen mehr Einschaltquote bei einem privaten Fernsehsender sorgen soll? Wen würden Sie journalistisch unterwandern? Na, die üblichen Verdächtigen eben. Oder nicht? Also, die Autowerkstätten, von denen bekannt ist, dass sie pfuschen. Die Gebrauchtwagenhändler, die die Tachos zurückdrehen, bevor sie die Karren nach Osteuropa verticken. Die Filialen einer Bulettenbratkette, deren neuer Geschäftsführer schon seit Monaten negative Schlagzeilen machen kann, weil sein verschnarchter Franchisegeber ihn viel zu lange hat gewähren lassen. Die Schlachthöfe, in denen osteuropäische Schlachter mit Werkverträgen für Hungerlöhne schuften, während der Schlachthofbesitzer Millionen in einen Fussballverein steckt. Die Wett-Mafia, die Fussballspiele verschiebt. Die Banker, die schon wieder kräftig zocken, nachdem sie mit Steuermilliarden gerettet werden mussten. Die Journalisten, die Interviews faken und Geschichten erfinden. Die Politiker, die Lobbyinteressen nachgeben und deren Klientel grosszügig mit Wahlgeschenken bedenken, die von zukünftigen Generationen bezahlt werden müssen. Die Pharmafirmen, die ebenso sinnlose wie überteuerte Medikamente auf den Markt bringen. Die Ärzte, die falsch und gefährlich behandeln, aber nie belangt werden. Und, und, und…

Allesamt gefundene Fressen. Wenn man nur weiss, wo man suchen muss, um die schwarzen Schafe stellvertretend für eine ganze Branche an den Pranger stellen zu können.

Wo ist der Erkenntnisgewinn?

Es gibt keinen Erkenntnisgewinn, denn dass es in jeder Branche Menschen gibt, die ihren Job gut und ehrlich machen und andere, die das eben nicht tun, wussten wir schon vorher. So wie wir auch schon vorher wussten, dass es Aufgabe des Staates, der Exekutive und Judikative ist, den schwarzen Schafen aller Branchen das Handwerk zu legen und sie gegebenenfalls einer gerechten Strafe zuzuführen.

Was ist also das Problem?

Das Problem ist die Grundverlogenheit mit der in regelmässigen Abständen immer frisch nach dem letzten Skandal auf Pflege eingedroschen wird. Da ist dann von der Pflegemafia die Rede, von den unhaltbaren Zuständen, von Abzocke und kriminellen Strukturen. Eine Tirade nach der anderen ergiesst sich über Pflege und alle enden mit der Schlussfolgerung, dass die Gesetze dringend geändert werden müssen, damit sich die Zustände bessern. Ganz so, als ob man es nicht besser wüsste oder zumindest besser wissen könnte. Denn die Pflege, die wir heute haben, ist das Produkt der gesetzlichen Vorgaben, nach denen die Legislative Pflege definiert. Und gerade hier liegt der Grundfehler von Pflege, denn die Legislative denkt Pflege in ihren Gesetzen vor allem aus der Perspektive ihrer institutionellen Wohnform.

Fahren Sie dieses Jahr in Urlaub? Wenn ja, wie haben Sie Ihren Urlaubsort ausgesucht? Wahrscheinlich haben Sie Ihren Urlaubsort allein nach der Grösse und Beschaffenheit des dortigen Hotel- oder Pensionszimmers ausgesucht. Deshalb nehmen Sie es auch in Kauf, dass Ihr Hotel oder Ihre Pension im Industriegebiet von Caracas oder in einem Vorort von Damaskus liegt, denn Sie haben ja gar nicht vor, Ihre Unterkunft zu verlassen. Sie wollen einfach nur Ihren gesamten Urlaub im Bett liegen oder auf der Couch sitzen und ansonsten Fernsehgucken oder die Wand anstarren. Gut, ab und zu kommt jemand vorbei, bringt Essen und Trinken und sorgt sich auch sonst um Ihr körperliches Wohlergehen. Versprochen! Ganze 14 Tage lang. Wie? Das ist Ihnen nicht genug? Sie wollen etwas erleben? Sie wollen betreut werden? Erfüllte Urlaubstage in Gemeinschaft? Sie wollen kommunizieren und gestalten? Tja, tut uns leid, aber das sieht das Urlaubsgesetz nicht vor. Vielleicht ist Ihr Reiseleiter so blöde und bietet diese Leistungen kostenfrei an, denn gesetzlich verpflichtet ist er dazu nicht. Und bezahlt wird auch nichts. Nein, wirklich nicht! Aber dafür wohnen Sie doch so schön. Was soll das heissen, das ist Ihnen nicht genug? Sie haben noch andere Bedürfnisse? Jetzt seien sie mal nicht so undankbar, der Gesetzgeber hat das Urlaubsgesetz nämlich gerade überarbeitet. Bald gibt’s noch weniger Betreuung und mit dem schön Wohnen ist es dann auch vorbei. Kostet dann leider ein bisschen mehr. Aber dafür übernimmt die Urlaubskasse einen grösseren Anteil.

Es ist wie mit allem. Eine Gesellschaft hat immer die Pflege, die auch gewollt ist. Denn es sind die gewählten Politiker, die Pflege definieren und die deshalb auch dafür verantwortlich sind, die Qualität der Pflege, die sie definiert haben, wirksam zu kontrollieren. Wenn es also keine andere Pflege gibt, und die bestehende nicht wirksam kontrolliert wird, dann ist das politisch so gewollt. Und wie allgemein bekannt, unterliegt auch die politische Willensbildung vielfältigen Faktoren. Nur einer davon ist die öffentliche Meinung, die die Politik auffordert, endlich neue Gesetze zu erlassen, die aber letztendlich im Interesse Weniger und wider das bessere Wissen der verantwortlichen Fachpolitiker dafür sorgen werden, dass in der Pflege nach dem gefundenen das grosse Fressen endlich beginnen kann.

Kommentieren

Sie müssen angemeldet sein, um kommentieren zu können.