Gottseibeiuns

Es kreiste der Berg und gebar – ja was eigentlich? Ein neues Heimgesetz oder ein Wohnteilhabegesetz, wie es neuerdings heisst, ganz frei nach dem Motto „Wohnst Du noch oder teilhabst Du schon?“ Nein, die baden-württembergische Landesregierung gebar natürlich keine Maus. Wie könnte sie nur. Sie gebar den „Gesetzentwurf für unterstützende Wohnformen, Teilhabe und Pflege“ (behördendeutsche Abkürzung: WTPG), welches endlich das verstaubte Landesheimgesetz ablösen soll und das derzeit im Anhörungsverfahren verschiedenen Verbänden und Gremien zur Stellungnahme vorliegt und von dem die baden-württembergische Sozialministerin gemeinsam mit ihrem und unserem Ministerpräsidenten per Pressemitteilung verlautbaren lässt: „Wir reagieren damit auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Anders als früher wollen heute die Menschen, die Hilfe und Begleitung im Alltag oder Pflege benötigen, so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung leben und nicht mehr allein die Wahl haben zwischen Heim oder häuslicher Pflege. Sie wollen vielmehr entsprechend ihrem jeweiligen Hilfebedarf aus einer breiten Palette von Wohn- und Betreuungsformen die für sie beste Alternative auswählen.“

Ist doch schön, wenn Politiker so genau wissen, was Menschen wollen, wiewohl natürlich genau die Grünen schon immer am besten wussten, was Menschen wollen (und sollen), obwohl man sich gerade im vorliegenden Falle kaum der Zeiten entsinnen mag, da Menschen eben nicht so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung verbleiben wollten und stattdessen schon vor der Zeit fröhlich und bei guter Gesundheit in ein Pflegeheim umzogen, weshalb es ja bereits heute einen bunten Strauss an Dienst- und Betreuungsleistungen gibt, die teilweise von der Pflegekasse finanziert werden und die ein möglichst langes Verbleiben von pflegebedürftigen Menschen in deren vertrauter Umgebung garantieren sollen. Und auch neue Wohnformen werden selbst die Grünen wohl kaum erfinden können, denn schon heute steht es jedem pflegebedürftigen Menschen frei, wo und wie und mit wem er wohnen und teilhaben will, sei es in den eigenen vier Wänden, zusammen mit anderen pflegebedürftigen Menschen in einer selbst organisierten Wohngemeinschaft oder in dem pflegepolitischen Gottseibeiuns, eben dem Pflegeheim. Letzteres, die Erfindung von neuen Wohnformen für pflegebedürftige Menschen, ist aber auch nicht Gegenstand des Gesetzentwurfes, Gegenstand des Gesetzentwurfes ist vielmehr die Regelung der staatlichen Aufsichtspflicht über die Wohnformen für pflegebedürftige Menschen als auch die Festsetzung bestimmter Mindeststandards für diese Wohnformen, welche dann noch durch die Formulierung ergänzender Verordnungen verbindlich festgezurrt werden sollen. Und hier differenziert das Sozialministerium zunächst einmal drei Wohnformen für pflegebedürftige Menschen in Baden-Württemberg:

Selbst organisierte ambulant betreute Wohngemeinschaften für pflegebedürftige Menschen, die nicht unter Anwendung des neuen Gesetzes fallen, die nicht durch staatliche Aufsichtsbehörden hinsichtlich ihrer erbrachten Pflegequalität kontrolliert werden und die keinerlei Anforderungen bezüglich der zu erbringenden räumlichen, baulichen und personellen Ausstattung zu erfüllen haben, da sie rechtlich nicht anders behandelt werden als anderweitiger privater Wohnraum.

Ambulant betreute Wohngemeinschaften mit nicht mehr als acht Personen, die nicht selbst organisiert sind sondern durch einen Anbieter verantwortet werden, erhalten im Gesetzentwurf gewissermassen einen Sonderstatus, da sie nur sehr geringe Standards zu erbringen haben, wenn der Vermieter, der gerne auch Anbieter von Pflegedienstleistungen sein kann, seinen Mietern freie Wählbarkeit der Pflegedienstleistungen einräumt, dieses auch glaubhaft nachweist und nicht mehr als zwei dieser Wohngemeinschaften in räumlicher Nähe zueinander betreibt, die auch nicht Bestandteil einer Pflegeeinrichtung sein, noch irgendwelche Büroräume eines Pflegedienstes beherbergen dürfen.

Alle anderen Einrichtungen oder Wohngemeinschaften, die pflegebedürftige Menschen beherbergen und pflegen, fallen unter die volle Anwendung des neuen Heimgesetzes, d. h. werden von einer Regulierungswut und Verordnungsmacht getroffen, die beinahe schon hysterisch-paranoide Züge annimmt, da eigentlich so ziemlich nichts ungeregelt und unverordnet bleibt. Rechtsverordnungen diktieren die bauliche Ausgestaltung der Einrichtungen hinsichtlich Grösse, Barrierefreiheit und Beschaffenheit, fordern Personalschlüssel, Fachkraftquote, Qualifizierungen von Einrichtungsleitung, Pflegedienstleitung und Fachbereichsleitung, dringen auf Durchsetzung der Bewohnerrechte, der Wahl eines Bewohnerbeirates, der Bildung eines Fürsprechergremiums und natürlich soll wieder alles regelmässig durch die zuständigen Behörden, die staatlichen Heimaufsichten, geprüft werden, wobei diesmal auch der Prüfbericht der Heimaufsichten neben den Prüfberichten der Medizinischen Dienste in den Einrichtungen nicht nur “öffentlich” ausgehängt sondern auch jedem Neukunden vor Unterzeichnung des Heimvertrages ausgehändigt werden muss, was wiederum und irgendwie nachvollziehbar belegt werden soll.

Demgegenüber erfreuen sich die ambulant betreuten Wohngemeinschaften, welche durch einen Anbieter betrieben werden, die also ebenfalls einen rein kommerziellen Charakter besitzen, auch und gerade wenn sie so genannt frei-gemeinnützig sind, erstaunlicher Freiheiten. Die Qualität des Wohnens hat lediglich „angemessen“ zu sein und unter angemessen versteht das Sozialministerium: „…wenn zumindest für jeweils vier Personen in der Wohnung ein Waschtisch, eine Dusche und ein WC verfügbar sind und die Grundfläche der Wohnung einschliesslich der Küche, des Sanitärbereichs, des Flurs, der Vorräume und Abstellflächen (ohne Kellerräume) (! – rp) für jede Bewohnerin und jeden Bewohner eine Fläche von 25 qm aufweist.“ Keine Rede von Barrierefreiheit, von Aufzügen, Mindestgrösse der Zimmer, Pflegebad, Hygiene etc. Ähnlich anbieterfreundlich zeigt sich der Gesetzentwurf auch hinsichtlich der personellen Ausstattung, hier wird lediglich gefordert, dass die „Beschäftigten“ eine irgendwie persönliche und fachliche Eignung (konkreter wird der Gesetzestext hier nicht) für die zu leistende Tätigkeit haben. Der Anbieter einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft hat demnach nur sicherzustellen, dass „(i)m erforderlichen Umfang eine Präsenzkraft täglich anwesend ist; erforderlich ist (…) in der Regel eine Präsenz von 24 Stunden täglich…“ In diesem Zusammenhang verwundert es dann schon nicht mehr, dass die anbieterbetriebenen Wohngemeinschaften nur in den ersten drei Jahren der „Gründungsphase“ regelmässig durch die Heimaufsichten kontrolliert werden sollen und danach nur noch anlassbezogen, d. h. wenn den Heimaufsichten Mängel bereits und vielleicht bekannt geworden sind.

Es ist ein seltsam Ding dieser Gesetzentwurf, spricht er doch zu Engel und Teufel gleichermassen. An die Teufel der stationären Einrichtungen, denen man offensichtlich alles liederliche zutraut, denen man schutzbedürftige Menschen mit Demenz nicht einfach ausliefern will, weshalb sie unter strengen gesetzlichen Schutz gestellt werden, was zu Folge hat, dass die Teufel der stationären Einrichtungen durch den Gesetzentwurf und den ihn flankierenden Verordnungen unablässlich geschurigelt, gemassregelt, geprüft, kontrolliert und beaufsichtigt werden; und an die Engel der ambulant betreuten Wohngemeinschaften, an jene mit den reinen Herzen, denen Stuttgart offenbar nichts böses zutraut, weshalb man ihnen eine unkontrollierte, billig zu habende und äusserst lukrative Spielwiese eröffnet, auf der so ziemlich alles erlaubt ist. Und das ist nicht nur seltsam, das ist auch noch schizophren, denn wer – glauben die Herrschaften in Stuttgart – werden denn die Betreiber und Anbieter der neuen ambulant betreuten Wohngemeinschaften sein? Es werden grösstenteils jene sein, die bereits stationäre Einrichtungen betreiben. Es werden die mutmasslichen Teufel sein, die mittels dieses Gesetzentwurfes, wenn er denn so Gesetz wird, als Engel in ihren Himmel aufsteigen.

Nachtrag: reformpflege begrüsst ausdrücklich die Anerkennung von Pflege-WGs als alternative Wohn- und Pflegeform. reformpflege stellt aber auch fest, dass der Staat eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen schwächsten Bürgern, den Menschen mit Demenz, hat, die mit zunehmender Demenz ihre Interessen nicht mehr selbst vertreten können. Diesen Menschen den staatlichen Schutz zu entziehen ist nicht nur grob fahrlässig sondern eigentlich ein Skandal, zumal der vorliegende Gesetzestext das Schutzbedürfnis dieser Menschen, so lange sie nur in stationären Einrichtungen leben, wenn auch überzogen aber im Grundsatz sachlich richtig und explizit anerkennt, sich seiner Fürsorgepflicht aber entledigt, sobald sie in eine andere Wohnform umziehen.

Kommentieren

Sie müssen angemeldet sein, um kommentieren zu können.