Gefährliche Pflege

Vor einigen Tagen war der MDK da, zwei nette Menschen, alles Pflegefachkräfte mit den entsprechenden Weiterbildungen und Zusatzqualifikationen. Immer wenn der MDK da ist und eine so genannte Pflegetransparenzprüfung macht, und immer wenn die Heimaufsicht da ist und eine sogenannte regelmässige Heimbegehung macht, dann sind diese Prüfungen unaufgeregt und geprägt von gegenseitigem Respekt, da wir wissen, dass diese Prüfungen an sich leider notwenig sind und insbesondere die so genannte Pflegetransparenzprüfung, zu der wir eine sehr spezielle Meinung haben, die hier nicht weiter vertieft werden muss, da auch und gerade die so genannte Pflegetransparenzprüfung ja einer der widerwilligen Geburtshelfer dieses Blogs war und deshalb hier schon mehr als nur ausführlich besprochen worden ist, nach Regeln zu verlaufen hat, welche die Prüfenden nicht zu vertreten haben.

Und so nahm dann auch diese Prüfung ihren Verlauf, den sie immer nimmt, indem zunächst die immer gleichen Papiere geprüft, die immer gleichen Daten abgeglichen wurden, bis die Prüfer des MDK endlich dazu übergingen, die per Stichprobe ermittelten 10 % unserer Bewohner in persönlichen Augenschein zu nehmen. Und auch hier hatte sich innerhalb unserer Einrichtung eigentlich nichts verändert, was auch weniger erwähnenswert gewesen wäre, hätte sich in der Zwischenzeit nicht ausserhalb unserer Einrichtung etwas Entscheidendes verändert. Und dieses Entscheidende betraf einen der in unserer Einrichtung verwendeten Bauchgurte. In diesem Zusammenhang ist natürlich sofort und reflexhaft hinzuzufügen, dass wir Bauchgurte nicht nach eigenem Gutdünken verwenden, da es sich bei Bauchgurten, wie ja ein jeder weiss, um eine so genannte freiheitsentziehende Massnahme handelt, die durch einen gesetzlichen Betreuer befürwortet, deren Notwendigkeit durch einen Arzt attestiert und deren gerechtfertigte Verwendung durch einen Richter begutachtet und genehmigt werden muss. Die durch den MDK geprüfte konkrete freiheitsentziehende Massnahme war also befürwortet, attestiert, begutachtet und genehmigt, allerdings hatte die Herstellerfirma des Bauchgurtes, welcher für die freiheitsentziehende Massnahme verwendet wurde, vor wenigen Tagen die Produktrichtlinie geändert, wonach unser Bauchgurt nur noch Verwendung finden dürfte, wenn wir während der ganzen Zeit seiner Verwendung eine Sitzwache neben dem Bett und dem Bewohner und seinem Bauchgurt installieren würden, um sicherzustellen, dass sich der Bewohner nicht versehentlich mit und durch seinen Bauchgurt selbst stranguliert. Nun könnte man natürlich einwenden, dass der Bauchgurt eben Bauchgurt heisst, weil er dem im Bett liegenden Bewohner um den Bauch und nicht um den Hals angelegt wird. Und das könnte man vielleicht sogar witzig finden, wenn es nicht – wenn auch sehr selten – aber trotzdem immer wieder vorgekommen wäre, dass sich Bewohner des Nachts in den Pflegeheimen der Republik in ihren Betten mittels des Bauchgurtes selbst strangulierten. Dass dies vorgekommen ist, lag vornehmlich an drei Gründen: erstens, der Bauchgurt wurde falsch angelegt, zweitens, er wurde Bewohnern angelegt, die den Bauchgurt nicht tolerierten, ihn ablehnten, sich ihn zu entledigen suchten, und drittens wurden die Bewohner mit angelegten Bauchgurten nicht immer wieder und in kurzen Abständen durch die Nachtwachen kontrolliert. Und wenn auch dergleichen, die Selbststrangulation eines Bewohners mittels Bauchgurt, in unserer Einrichtung nie vorgekommen ist, hatten wir jetzt das Problem, dass beides, die genehmigte freiheitsentziehende Massnahme und der hierzu verwendete Bauchgurt, nicht mehr zueinander passten. Dazu muss man sagen, dass der Bauchgurt am Bett immer die ultima ratio der Sturzprävention darstellt, die nur angewandt wird, wenn alle anderen Mittel, beispielsweise eine Sturzmatte, eine Klingelmatte, eine engere Anbindung an das Schwesternzimmer und/oder ein bis auf den Boden absenkbares Niederflurbett ein nicht zu vertretenes Restrisiko offen lassen. Dieses Restrisiko in diesem Zusammenhang betrifft nur bestimmte Bewohner, in unserer Einrichtung sind es deren vier, die entweder stark dement oder geistig verwirrt sind als auch hochgradig sturzgefährdet, da sie noch über genug Kraft verfügen, um aufzustehen, aber nicht mehr genug Kraft besitzen, um stabil zu stehen, geschweige denn eine kurze Stecke ohne Hilfe zu gehen. Konkret bedeutet dies, dass die anderen Mittel zur Sturzprävention versagen könnten oder gar kontraindiziert sind, da diese Bewohner, nachdem sie beispielsweise aufgestanden sind, nach dem ersten wackeligen Meter über den Absatz der Sturzmatte stolpern könnten oder bereits gestürzt sind, bevor die durch Klingelmatte alarmierte Nachtwache herbeigeeilt ist und auch ein Niederflurbett nur die Fallhöhe aus dem Bett minimiert, aber einem stark sturzgefährdeten und verwirrten Bewohner, der noch das körperliche Vermögen hat, aus eigener Kraft aufzustehen, nicht wirklich helfen kann.

Wir haben immer und bewusst einen einfachen Bauchgurt verwendet, da er unserer Meinung die humanste ultima ratio darstellt, da der Bewohner sich in diesem Bauchgurt, der nichts anderes ist als ein Stoffgurt, welcher an einem weiteren Matratzengurt befestigt ist, drehen und wenden als auch den Oberkörper aufrichten kann, das heisst, der Bewohner ist in seiner Bewegungsfreiheit wesentlich weniger eingeschränkt als in anderen Fixier-Systemen, die es auch gibt und die weiterhin verwendungsfähig sind, da sie die Menschen noch an zusätzlichen Stellen des Körpers, entweder an den Oberschenkel oder mittels einer Schlaufe im Schritt fixieren und somit ein Herausrutschen des Bewohners nach unten durch den Gurt verhindern sollen. Diese Systeme sind zweifellos sicherer, haben aus unserer Sicht aber entscheidende Nachteile, da sie den Bewohner stärker in seiner Bewegungsfreiheit einschränken als auch Verletzungen im Intimbereich verursachen können. Wir standen also vor der Frage, wie wir in dieser Angelegenheit zukünftig verfahren sollen: mehr Fixierung mit einem Plus an Sicherheit oder ein bewusster und gänzlicher Verzicht auf Bauchgurte mit einem Plus an Lebensqualität aber auch an Sturzrisiko.

Wir haben uns in Absprache mit Angehörigen und Betreuern dazu entschieden, keine Eskalation der Fixierung zu betreiben und somit überhaupt keine Bauchgurte mehr anzulegen. Unsere vier Bewohner erhielten jeweils eine individuelle Kombination aus den beschriebenen anderen Hilfsmitteln und werden zudem öfter von der Nachtwache kontrolliert. Unsere Erfahrungen sind bisher positiv und vielleicht waren wir bisher ein wenig übervorsichtig, wiewohl wir uns aber bewusst sind, dass eine Restgefahr immer bestehen bleibt. Wir sind aber überzeugt, dass dieses Restrisiko durch die Vermeidung stärker freiheitsentziehender Massnahmen, wie sie die weiterhin erlaubten Fixiergurte darstellen, jetzt gerechtfertigt ist. Und wer weiss, vielleicht hilft uns diese gefährlichere Pflege auch endlich das zu verstehen, was wir längst wissen, dass wir nämlich nicht immer alles regeln und kontrollieren können und dass selbst in einem überhütenden Pflegeheim immer ein Rest an normalem Lebensrisiko verbleiben muss – und dass genau das der Preis der Freiheit ist.

Kommentieren

Sie müssen angemeldet sein, um kommentieren zu können.