Pädagogischer Tag

Und auch wenn es niemand mehr hören kann, so muss an dieser Stelle und gerade zu diesem Thema immer und immer wieder gesagt werden, dass unsere Gesellschaft einem tiefgreifenden Wandel unterzogen ist, und dieser Wandel ist der sogenannte Demographiewandel. Und auch weil es doch immer und immer noch Menschen gibt, denen man immer und immer wieder und nicht nur an dieser Stelle gesagt hat, dass unsere Gesellschaft eben diesem Wandel unterzogen ist, so bleibt doch die Zahl derjenigen Menschen, die anscheinend nicht verstanden haben, dass ein so genannter Demographiewandel kein Naturgesetz ist, dass er nicht einfach vom Himmel gefallen ist wie ein Winter, der nicht dem Frühling weichen will, bemerkenswert gross.

Und eben aus diesem Grunde hat die reformpflege beschlossen, heute, hier und jetzt einen so genannten „Pädagogischen Tag“ zu veranstalten.

Nein, nein, jetzt bitte nicht weiter klicken! Die reformpflege weiss natürlich, dass es auf der ganzen weiten Welt nichts gibt, das gerade berufstätige LeserInnen („-Innen“ = pädagogisch-korrekte Schreibweise für „Leserinnen und Leser“. Gerne auch verwendet für FussgängerInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen, PolitikerInnen usw. usf.), die in Personalunion auch Mütter oder Väter sind und von denen es in der Pflege ja einige geben soll, so zuverlässig dazu veranlasst, augenblicklich ein Messer zwischen die Zähne zu klemmen wie diese zwei Worte: Pädagogische Tage. Das sind jene Tage des Jahres, an denen die Kindergärtnerinnen, Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen oder verallgemeinernd: PädagogInnen sich fortbilden. Und wenn PädagogInnen sich fortbilden, dann ist das selbstredend eine ausserordentlich und ungeheuer wichtige Angelegenheit, die alle PädagogInnen gleichzeitig angeht, weshalb sie natürlich ihre Kindergärten, Kindertagesstätten und Grundschulen zuschliessen müssen, und das durchaus und nicht selten und bevorzugt an Werktagen auch nach den Ferien, wenn die LeserInnen, welche jetzt bitte wieder das Messer aus dem Mund nehmen – Danke! -, gerade glaubten ein wenig aufatmen zu können, da sie es vermeintlich geschafft hatten, auch während der Ferien ihren Beruf als auch ihre Aufgaben als liebende und manchmal auch allein erziehende Mutter oder als liebender und manchmal auch allein erziehender Vater von Schul- und/oder Kindergartenkindern irgendwie und unter grösstmöglicher Strapazierung von Familie, Freundeskreis, Nachbarn, Arbeitgebern als auch Geldbörse und nicht selten mit schlechtem Gewissen unter einen Hut zu bringen. Pädagogische Tage sind die Tage im Jahr, welche berufstätige Eltern aber auch die Stations- und Pflegedienstleitungen der Pflege regelmässig in die Verzweiflung treiben, da sie die ohnehin nicht selten üppig bemessenen Schliesstage unserer so wertvollen pädagogischen Institutionen noch verlängern und somit die Dienstplangestaltung zu einer ausserordentlich vertrackten Angelegenheit werden lassen.

Dazu muss man wissen, dass gerade die Betreuung der Kleinsten in den Kindergärten und Kindertagesstätten in den weitaus meisten Kommunen zu einer nicht eben billigen Angelegenheit geworden ist. Die Personalzahlen, die ein Kindergarten oder eine Kindertagesstätte vorzuhalten hat und die durch die Kommunen und die Eltern zu finanzieren sind, werden natürlich – wie könnte es anders sein – treudeutsch durch eine Verordnung gesetzlich vorgeschrieben. Das heisst, je mehr Kinder beispielsweise eine Kindertagesstätte betreuen will und je weniger Schliesstage die Einrichtung hat, desto mehr Erzieherinnen sind gesetzlich vorgeschrieben, was die Personalkosten selbstredend erhöht. Und da ist es dann ärgerlich, wenn Gemeinden und Eltern einen beispielsweise 28-Schliesstage-teure Kindertagesstätte finanzieren, bei den Eltern aber tatsächlich 32 – 36 Schliesstage ankommen, weil die geschätzten PädagogInnen sich noch zusätzlich mehrere pädagogische Tage gönnen oder einen jährlichen Betriebsausflug unternehmen oder bestimmte Werktage zu halben Feiertagen erklären, die laut Feiertagsgesetz eigentlich gar keine Feiertage sind. Damit wir uns nicht falsch verstehen: PädagogInnen sollen sich fortbilden, PädagogInnen dürfen miteinander einen Betriebsausflug unternehmen, am Gründonnerstag um 12 Uhr Feierabend machen oder auch Fasching feiern, wenn aber an einem Werktag die KiTas wegen eines Pädagogischen Tages ganztags oder wegen eines nicht gesetzlichen Feiertages wie dem Faschingsdienstag halbtags geschlossen wird, dann kommen bei den Eltern anderthalb Schliesstage an, und diese sollten auch als Schliesstage gezählt werden, denn es gibt für Eltern keinen Unterschied zwischen „Brutto- und Netto-Schliesstagen“. Zumal die Betreuung in den KiTas je nach Alter und zeitlichem Umfang ziemlich grosse Lücken in das Familienbudget reissen können, monatliche Beiträge von über 500 Euro keine Seltenheit und in dieser Höhe nur schwer zu vermitteln sind, wenn die KiTa an 36 gesetzlichen Werktagen jährlich geschlossen ist, also bei 12 vollen Monatsbeiträgen nur etwas mehr als 10 Monate Öffnungszeit auch wirklich zur Verfügung steht. Offensichtlich fehlt es hier an gesetzlichen Regelungen, die den Spielraum der KiTas im Sinne der Eltern etwas einengen könnten, wobei man auch hier nicht verallgemeinern sollte, es gibt sehr wohl Kommunen, die ihrer Verpflichtung gegenüber den steuer- und beitragszahlenden Eltern vorbildlich nachkommen und nicht jede Gesetzeslücke oder Unwägbarkeit in Verordnungstexten allein zum Vorteil der PädagogInnen auslegen.

Anderswo gibt es anscheinend stringentere gesetzliche Regelungen oder Leitlinien, denn auch die PädagogInnen der Grundschulen haben den pädagogischen Tag aufgrund akuten Urlaubsmangels natürlich längst für sich entdeckt. Der baden-württembergische Landesrechnungshof rügte, dass im Schuljahr 2006/2007 entgegen den ausdrücklichen Leitlinien des Kultusministeriums die pädagogischen Tage an 700 untersuchten allgemein bildenden Schulen nicht in der unterrichtsfreien Zeit veranstaltet wurden, wodurch allein an diesen Schulen 18.000 Schulstunden ausgefallen sind, was einem rechnerischen Gegenwert von immerhin 1 Million Euro entspricht. Die Landesregierung gelobte daraufhin Besserung, die Zahl der pädagogischen Tage, welche auf die Unterrichtszeit entfielen, konnte bis 2012 auf ein Drittel reduziert werden. Die Begründung der Schulen aber, warum immer noch und überhaupt pädagogische Tage während der Unterrichtszeit stattfinden müssen, weil nämlich Eltern und Schüler in die pädagogischen Tage einbezogen werden müssten oder Referenten nur während der Unterrichtszeit zur Verfügung stünden, ist mehr als nur fadenscheinig, was allerdings die Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft und Finanzen, Tanja Gönner, anders sah, als sie in der Sitzung im Mai 2012 zu Protokoll gab:„Die Aussage ihres Vorredners, wonach Eltern während der Ferien mehr Zeit als in der Unterrichtszeit hätten, um sich in die Gestaltung eines Pädagogischen Tags einzubringen, würde sie unter Verweis auf die Lebenserfahrung mit einem Fragezeichen versehen.“

Nun weiss man nicht konkret, welche Lebenserfahrung Tanja Gönner ihr eigen nennt, zu der Lebenserfahrung der allermeisten berufstätigen Eltern gehört es aber, ihre Urlaubstage auf die Ferientage ihrer Kinder zu legen. Nur – so viel Urlaubstage, dass sie 14 Wochen Schulferien oder 36 KiTa-Schliesstage vollständig abdecken könnten, erhält vielleicht Tanja Gönner aber ansonsten kein Mensch, weshalb es völlig absurd ist, zu argumentieren, es passe in die Lebenserfahrungen berufstätiger Eltern auch noch während der Unterrichtszeit einen Tag Urlaub einzureichen, um gemeinsam mit ihren Kindern und deren PädagogInnen irgendeinem ferienunabkömmlichen Dozenten zu lauschen.

Es ist sonderbar, dass in einem Land, indem jede Kleinigkeit bis in das letzte und unwichtigste Detail geregelt ist, gerade die Vorschul- und Grundschulpädagogik derartige Freiheiten geniessen, die Schliesszeiten der KiTas derart variabel verlängerbar sind und auch das Kultusministerium erklärt, es wolle lediglich darauf „hinwirken“, schulische pädagogische Tage nur noch während der Ferienzeit zu veranstalten anstatt ein eindeutiges Verbot auszusprechen. Eine Erklärung der Ursachen des pädagogischen Privilegs könnte vielleicht darin zu suchen sein, dass Kinder kostbar sind und in Zeiten der geringen Geburtenrate immer kostbarer geworden sind, was auf ihre professionellen Kümmerer irgendwie abstrahlt und deren gesellschaftlichen Status erhört. Da verwundert es nicht, von den PädagogInnen der Vor- und Grundschule immer wieder zu hören, KiTa und Grundschule seien schliesslich keine Verwahranstalten sondern hätten einen pädagogischen Auftrag, der gewissermassen über allem steht und von ausserordentlich gesellschaftlicher Wichtigkeit ist, weshalb es die Eltern auch untertänigst zu dulden hätten, wenn die KiTa oder die Grundschule mal wieder als „Verwahranstalt“ ausfällt.

Wie aber ist es denn um die Erfüllung dieses pädagogischen Auftrages in den Grundschulen bestellt?

Im letzten Dezember erschien ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in welchem mal wieder die Quintessenz zweier internationaler Studien bezüglich der Grundschulen präsentiert wurde und in dem auch zu lesen ist:

„Die Studien offenbaren vielmehr die enorme Leistung der Pädagogen. Obwohl Deutschland für seine Grundschüler gerade einmal die Hälfte von dem ausgibt, was in EU-Staaten üblich ist, konnten sich die Kinder international im oberen Drittel halten.“

Des Weiteren sieht der Autor aber auch Indizien und Gründe für soziale Ungerechtigkeit, „…die der Staat nie vollständig (wird) ausgleichen können…“:

„Gemeint ist vor allem die Unwucht bei der Empfehlung für höhere Schulen wie das Gymnasium. Dies ist der Skandal in diesen eigentlich unspektakulären Untersuchungen. Jahr um Jahr, Studie um Studie haben die Fachleute bemängelt, Pädagogen ließen sich in ihrem Urteil zu sehr von der sozialen Herkunft der Kinder leiten. Nun zeigt sich: es hat sich nichts gebessert. Der Nachwuchs aus bildungsbürgerlichem Hause hat eine fast dreieinhalb Mal so hohe Chance, fürs Gymnasium vorgeschlagen zu werden, als Kevin oder Murat aus dem Arbeiter- oder Hartz-IV-Haushalt. Bei gleicher Leistung wohlgemerkt.“

Als Gründe für diese Benachteiligung werden angeführt:

„Was dabei gerne vergessen wird: sozialer Aufstieg fängt bereits in der Grundschule an – und in viel zu vielen Fällen endet er auch dort – durch mangelnde Förderung, Desinteresse der Eltern und unfaire Bewertungen durch Lehrer.“

Mangelnde Förderung oder Desinteresse der Eltern mögen Gründe dafür sein, dass Kinder im zarten Alter von 9-10 Jahren, gerade dem Sandkasten entwachsen, bereits durch den Rost der sozialen Selektion fallen, es gibt aber auch Gründe für die „enorme Leistung“ der Pädagogen, die deutschen Grundschüler im oberen Drittel von zwei internationalen Vergleichen gehalten zu haben. Und diese Gründe lassen sich vornehmlich besichtigen in den Kinderzimmern, Esszimmern und Wohnzimmern deutscher Mittelschichtfamilien, finden sich in den Schulranzen von Kindern mit 30 kg Körpergewicht, die ein Sammelsurium von Kopien, Schulbüchern, Arbeitsheftchen und Wochenplänen mit einem Gesamtgewicht von manchmal 7 kg schultäglich zwischen Grundschule und Elternhaus hin- und her schleppen müssen, damit zuhause eine Heerschar von vornehmlich Frauen, deren eigene Ausbildung auf deutschen Universitäten und Fachhochschuken den Steuerzahler mitunter zig Millionen an Euro gekostet hat, sich tagtäglich durch einen Wust an Grundschulbildungsmaterialien hindurcharbeitet, der einigen Schulbuchverlegern eine goldene Nase garantiert, um den lieben Kleinen jeden Nachmittag im sich verschärfenden sozialen Wettbewerb der Eltern um die besten Zukunftschancen ihrer Kinder zu verklickern, was Herr oder Frau PädagogIn ihnen heute Vormittag eigentlich vergeblich mitzuteilen versucht hat.

Und diese Erkenntnis fusst nicht auf irgendwelchen internationalen Vergleichsstudien sondern spiegelt sich tatsächlich in der Lebenserfahrung des Autors, der während der insgesamt achtjährigen Grundschulkarriere seiner beiden Kinder miterleben durfte oder musste, wie demotivierte Kinder nach der Schule zuhause wütend und überfordert ihre Arbeitsmaterialien in die Ecke feuerten, sodann mühsam und hauptsächlich durch ihre Mutter mental wieder aufgebaut werden mussten, um sich anschliessend gemeinsam und stundenlang durch eine verwirrende Vielfalt eben dieser Arbeitsmaterialien zu arbeiten, immer unterbrochen von Telefongesprächen mit anderen Eltern, die sich ab einem gewissen Zeitpunkt schon routinemässig gegenseitig über den derzeitigen Stand des schulischen Anforderungsprofils informierten. Es sind nämlich hauptsächlich die Eltern, welche ihre Kinder durch die Grundschulkarriere coachen. Wenn man also von der „enormen Leistung der Grundschulpädagogen“ spricht, dann bezeichnet diese immer nur die Spitze des Eisberges und verhehlt die enorme pädagogische Anstrengung zuhause. Gerade deshalb ist es auch kaum verwunderlich sondern vielmehr zwangsläufig und evident symptomatisch für eine Grundschule, die einen Grossteil der Aufgabe schulischer PädagogInnen auf elterliche PädagogInnen abwälzt, dass Kinder wie Murat und Kevin auf der Strecke bleiben, da deren Mütter eben nicht „desinteressiert“ sind sondern vielmehr bildungsfern, nicht selten alleinerziehend und/oder berufstätig. Diese Mütter könnten die pädagogische Grundlagenarbeit der Mittelschicht-Mütter gar nicht leisten, selbst wenn sie es wollten, da es ihnen schlicht an Zeit, an Geld, am entsprechenden kulturellen Hintergrund aber auch aufgrund ihrer prekären Lebenslage an dem Selbstbewusstsein mangelt, zu erkennen, dass ihre Kinder sehr wohl in der Lage wären, die Herausforderungen der Grundschule zu meistern. Kevin und Murat haben in diesem System nicht die geringste Chance, im Grunde sind sie verlorene Kinder von der ersten Klasse an.

Dabei kann man diesen Missstand noch nicht einmal den Grundschulen direkt anlasten, dort gibt es erwiesenermassen kompetente und engagierte PädagogInnen, es gibt aber auch viele PädagogInnen, die erfahrungsgemäss im falschen Beruf unterwegs sind und die, erst einmal verbeamtet, durch den ganzen pädagogisch-behördlichen Apparat, bestehend aus Grundschule, Schulamt, Regierungspräsidium und Kultusministerium, bis zur Pensionierung mitgeschleppt werden müssen. Natürlich weiss der Rektor einer Grundschule, dass es nur wenige Stunden dauern wird, nachdem er den Namen der Kollegin XY bekanntgegeben hat, die zum neuen Schuljahr die 1A übernehmen wird, bis die ersten erschreckten Eltern, die über „ihre“ Grundschule und deren pädagogisches Personal in der Regel meist gut informiert sind, anrufen, um zu versuchen ihr Kind in der 1B zu platzieren. Was soll der Rektor aber machen? Er muss mit dem Personal arbeiten, das er hat und das ist nicht immer das beste.

Und so gehen dann weitere Schulreformen in das Land und steigen die Personalkosten der Kommunen, nur für die berufstätigen Eltern und vor allem die berufstätigen Mütter, da braucht man(n) sich nicht in die Tasche zu lügen, ändert sich nichts. Sie bringen ihre Kinder während der pädagogischen Tage weiterhin zu Familie, Freunden oder Nachbarn, bezahlen KiTas, bezahlen Tagesmütter und sind spätestens mit Beginn der Grundschule vor die Wahl gestellt, ob sie ihre eigene Karriere der Grundschulkarriere ihrer Kinder opfern oder umgekehrt.

Dass Deutschland über eine niedrige Geburtenrate verfügt, hat Gründe – und die offensichtliche Unvereinbarkeit von Familie und Beruf ist einer davon.

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