Wir Pflegebedürftigen

Wie reformpflege berichtete, hat die schwarz-gelbe Koalition inzwischen einen ersten Entwurf der Pflegereform vorgelegt, der auf ziemlich viel Begeisterung gestossen ist, sodass für die weitere Umsetzung der Pflegereform eigentlich nur das Schlimmste zu befürchten bleibt, zumal das eigentliche Kernstück der Reform, die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, jetzt wieder einmal verschoben worden ist. Und da die politisch verantwortlichen Protagonisten sich nicht wirklich mit Pflege auskennen, sie vielmehr aus anderen Berufen in die Politik gewechselt sind, sie einstmals ihre Auskommen in der Wirtschaft, genauer in der Bankwirtschaft fanden und gerade Daniel Bahr während seiner Beiratstätigkeit bei der Ergo Versicherungsgruppe AG sogar Gelegenheit hatte, diese, seine spezifischen Bankwirtschaftskenntnisse noch um spezifische Kenntnisse über kapitalbildende Versicherungsmathematik zu erweitern, ist es nur auf den ersten Blick tröstlich, dass nun wieder ein Expertenbeirat eingesetzt werden muss, der den Herrn Bahr berät, wie der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, der bereits 2009 durch einen Expertenbeirat erarbeitet wurde, jetzt, 2012, zügig umgesetzt werden kann.

Nun ist „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ ein wunderschönes deutsches Wort, fast so schön wie „Begutachtungsassessment“, das zwar kein rein deutsches Wort ist, aber dennoch ziemlich wichtig klingt. Begibt man sich auf die Spuren dieses wunderschönen, rein deutschen Wortes, und begibt man sich so auf die Spuren, wie es derzeit allgemeiner Usus ist, so findet sich, dass Wikipedia dieses Wort eben nicht findet, seinen Sinn nicht anzugeben mag, was insofern erstaunlich ist, da doch immerhin eine ganze Expertenkommission voller Professoren und Doktoren eingesetzt wurde, die keinen anderen Zweck verfolgten, als eben diesen Begriff zu überprüfen, ihn neu zu definieren, um sodann auf ganzen 157 Seiten dem Bundesministerium für Gesundheit zu berichten, was von Wikipedia augenscheinlich aber nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Damit aber nicht genug, sorgt doch auch der Wikipedia-Eintrag zur „Pflegebedürftigkeit“ gleich mit dem ersten Satz für Verwirrung, der da behauptet: „Pflegebedürftigkeit bezeichnet einen Zustand, in dem eine Person durch eine Krankheit oder Behinderung dauerhaft nicht in der Lage ist, alltäglichen Aktivitäten und Verrichtungen selbstständig nachzugehen und deshalb Hilfe zur Bewältigung der daraus resultierenden Defizite benötigt.“, was im Umkehrschluss eigentlich nur bedeuten kann, dass eine Person, die nicht krank oder behindert ist, auch keiner Pflege bedarf, was wiederum Unsinn ist, denn eine jede Person, sei sie krank oder behindert oder gesund, bedarf der Pflege, sie bedarf der Körperpflege, der psychischen Pflege, der sozialen Pflege, der seelischen Pflege usw., was wiederum nur bedeuten kann, dass wir alle pflegebedürftig sind, und zwar eigentlich und immer und zu jeder Zeit. Wir sind pflegebedürftig als Säuglinge, Kleinkinder, Teenager, Erwachsene, Senioren, Demente, Nicht-Demente usw., wir schleppen unsere eigene Pflegebedürftigkeit jeden Tag mit uns herum, gehen mit unserer eigenen Pflegebedürftigkeit jeden Abend zu Bett, stehen jeden Morgen mit unserer ureigenen Pflegebedürftigkeit wieder auf, betrachten sie im Spiegel, sehen sie in unseren Bartstoppeln, im zerzaustem Haar, spüren sie in den Knochen, in unserem Gedärm, fühlen sie als ein Bedürfnis nach Wärme, nach Sicherheit, nach Zuwendung, nach einem Anderen, nach etwas anderem usw., und unterscheiden uns lediglich hinsichtlich des Grades der Autonomie, indem wir selbst in der Lage sind, dieser ureigenen Bedürftigkeit nachzukommen oder eben nicht, das heisst, der erste Satz des Wikipedia-Eintrags müsste eigentlich lauten: „Heteronom versorgte Pflegebedürftigkeit bezeichnet einen Zustand…usw. usf.“, da der Zustand, den Wikipedia eigentlich erklären will, eben immer nur ein Zustand der beschädigten Autonomie, der defekten Eigensorge ist und sein kann. Es ist das einzige Verdienst der Demenz, dass sie die Unzulänglichkeit des historischen Pflegebegriffs offenbart hat, der in der Tradition der Medizin stehend, wahre Pflegebedürftigkeit immer nur in körperlichen Gebrechen verortet und selbst wenn in der psychiatrischen Tradition stehend, als Pflege, immer nur körperliche Ausgeglichenheit herzustellen hatte. Es ist die Demenz, die grausam deutlich gemacht hat, dass der historische Pflegebegriff schon der Defekt an sich ist, der die Autonomie eines Menschen zerteilt, ihm eine Pflegebedürftigkeit oder eben eine heteronom zu versorgende Bedürftigkeit nur dann zugesteht, wenn sie in Pflegeminuten an seinem Körper, an einem Defekt im Defekt abzulesen ist, statt auch an einem Defekt in seinem psychischen Erleben, an seiner Sozialität und somit an seiner Autonomie in ihrer Gänze. Eine traurige Reduktion auf einen Organismus, der nicht mehr fähig ist, „die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer“ (Wer denkt sich so etwas nur aus? Und wer kopiert diesen Satz aus dem SGB XI dann fast wortwörtlich nach Wikipedia?) eigenverantwortlich durchzuführen und diese Unfähigkeit dann bei Bedarf nach den Standards von irgendwelchen Begutachtungsassessments den Begutachtern des MDK vorzuführen hat. Die generelle Pflegebürokraten-Denke, das Kategorisieren menschlicher Betreuungs- und Pflegebedarfe in Stufen, unterstellt, dass der Aufwand einer professionellen Pflege- und Betreuungsqualität in den unteren Stufen weit geringer ist als in den oberen. Und eben dieses Unterstellen ist schon der Irrtum selbst, der auch nicht richtiger wird, wenn man jetzt, wie geplant, aus drei fünf Pflegestufen macht, um die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz besser zu berücksichtigen, denn wenn man die spezifischen Bedürfnisse dieser Menschen aufrichtig und besser berücksichtigen wollte, dann könnte man wissen, dass eine Heimaufnahme eigentlich und immer und grundsätzlich aus einem einzigen Grund erfolgt und das ist eine beschädigte Autonomie, die den Betroffenen nicht mehr erlaubt, ihrer Bedürftigkeit in Eigensorge nachzukommen, was unterschiedliche Ursachen haben kann. Und wenn man jetzt mal unterstellt, dass es die Aufgabe einer modernen Pflege sein sollte, sich dieser beschädigten Autonomie anzunehmen, sie durch pflegerische, also professionelle Heteronomie so zu ergänzen, dass sie die noch gesunden Anteile der Autonomie nicht erstickt, dann ist es völlig unsinnig zu sagen, dieser Mensch ist „nur“ dement, seine Demenz ist aber noch nicht so manifest, dass sie sich in erhöhter körperlicher Pflegebedürftigkeit niedergeschlagen hat, der „ist“ deshalb nur Pflegestufe I, weil eben die durch die beginnende Demenz angegriffene Autonomie anders ergänzt, anders supplementiert werden muss als eine angegriffene Körperlichkeit, sie muss therapeutisch supplementiert werden und nicht pflegerisch, und sie bedarf gerade in der ersten Phase der Demenz einer sehr aufwendigen Supplementation, da eben der noch gesunde Anteil der Autonomie immer noch, wenn auch nicht jeder Zeit, so doch hin und wieder, wenn auch manchmal nur intuitiv, „versteht“, dass er gerade im Begriff ist, durch den beschädigten Anteil der Autonomie nach und nach zerstört zu werden, was Verzweiflung, Wut, Trauer in abgrundtiefer Hilflosigkeit zur Folge haben kann und wird. Da die Demenz aber meistens ein Prozess ist, wird der kleiner werdende „gesunde“ Teil irgendwann vergessen, er wird sich faktisch selbst vergessen und wird nach diesem Sich-Selbst-Vergessen zu einer „anderen“ Autonomie, die einer anderen professionellen Supplementation bedarf, deren Hauptaugenmerk nicht mehr auf der Vermeidung „negativer“ (und somit eigentlich gesunder) affektiver Impulse liegt, sondern sich darauf konzentrieren sollte, bei gleichzeitigem Anstieg der körperlichen Pflegebedürftigkeit, eine emotionale Geborgenheit herzustellen, indem die stationäre Pflege eine therapeutische und pflegerische Lebenswelt schafft, die dieser nun fast „kleinkindlichen“ Bedarfslage gerecht wird. Und weil der Prozess Demenz meistens unerbittlich ist und nur in seltenen Fällen in irgendeiner seiner Phasen eine längere Pause einlegt, wird sich auch diese Bedarfslage – mal schneller, mal langsamer – wieder verändern, benötigt eine dann fast vollkommen ausgehöhlte Autonomie wieder eine andere Supplementation, da sie jetzt tatsächlich zu einer grösstenteils bedürftigen Körperlichkeit geworden ist, „(deren) gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer“ nun fast vollständig von Pflege übernommen werden muss, deren Techniken aber beispielsweise durch Basale Stimulation oder WellCare therapeutisch aufgeladen sein sollten. Wenn man diese Zeilen, die alltägliche Praxis reflektieren, liest, so wird man anerkennen müssen, dass die heteronom versorgte Pflegebedürftigkeit tatsächlich unterschiedliche Phasen (oder wenn man so will: Stufen) kennt, dass sich diese Phasen aber hinsichtlich des dafür notwendig zu betreibenden Aufwandes nicht unterscheiden, da der Prozess Demenz eben nicht nur pflegerische Herausforderungen bereithält sondern auch therapeutische und dass je mehr die therapeutischen Herausforderungen während des Prozesses der Demenz abnehmen, die pflegerischen zunehmen. Dieser Prozess ist also genauer gekennzeichnet nicht nur durch eine Dialektik zwischen Autonomie und Heteronomie sondern auch durch eine Dialektik zwischen therapeutischer und pflegerischer Professionalität, da sich die Intensität der notwendigen therapeutischen Interventionen mit der sich auflösenden Demenz-Autonomie verringert und die Notwendigkeit der rein pflegerischen Interventionen in gleichem Masse zunimmt. Eine Pflegereform, welche den Anspruch hat, die Situation von Menschen mit Demenz zu verbessern, Pflege also ausnahmsweise einmal von der Bedürftigkeit der Betroffenen her zu denken, hat dieser Tatsache Rechnung zu tragen, und das tut sie nicht, indem sie drei, fünf oder sechzehneinhalb Pflegestufen erfindet, wenn die stationäre Pflege eigentlich nur eine Pflegestufe braucht, da sich der professionelle Aufwand in jeder Phase der Demenz gleicht. Dass diese sich nun anbahnende Pflegereform nur wenig Interesse hat, die Situation von Menschen mit Demenz wirklich zu verbessern, zeigt schon ihr erkennbares Bemühen, die Betreuung von Menschen mit Demenz für ein wenig mehr Betreuungsgeld hauptsächlich in die ambulante Pflege zu verlagern, die dieser Aufgabe aber professionell gar nicht gerecht werden kann. Es ist die Demenz, die nicht nur den Defekt des bisherigen Pflegebedürftigkeitsbegriffes entlarvt hat sondern nun auch die Unzulänglichkeit des Pflegestufenmodells offenbart, das immer noch versucht, die Bedingungen der ambulanten, stationären und teilstationären Pflege über den gleichen drei- oder fünfstufigen Kamm zu scheren, obwohl doch schon längst offensichtlich sein sollte, dass für eine ambulante Pflege, die das leistet, was sie leisten kann, nämlich die Versorgung hauptsächlich körperlicher Pflegebedürftigkeit und die punktuelle Entlastung von betreuenden und pflegenden Angehörigen, das Pflegestufenmodell zwar nach wie vor eine Berechtigung haben kann, die es für die stationäre und teilstationäre Pflege, die eine professionelle Betreuung von Menschen mit Demenz leisten könnten, aber nicht mehr haben wird, wenn man den Betreuungsbedarf von Menschen mit Demenz endlich als gleichrangig mit dem allgemeinen körperlichen Pflegebedarf anerkennen würde.

Die Abschaffung der Pflegestufen in der stationären und teilstationären Pflege wäre aber nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch die einzige Möglichkeit, das Pflegeversicherungsgeld einzusparen, welches derzeit im behördendeutschen Begutachtungs-, Neubegutachtungs-, Wiederbegutachtungs- und Widerspruchsverfahrens-Wahnsinn tagtäglich verbrannt wird, ganz zu schweigen davon, dass die Abschaffung der Pflegestufen die Pflegeheime endlich von dem leider nicht immer unbegründeten Verdacht befreien würde, ihre Bewohner aus Kostengründen gerne in die nächsthöhere Pflegestufe „pflegen“ zu wollen.

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