Klischeepflege

Ich wusste ja garnicht, dass es dieses Wort überhaupt gibt. Urinstichig. Und wahrscheinlich gibt es dieses Wort auch garnicht, denn ich konnte es nirgendwo finden, weder bei Wikipedia noch sonstwo in den Weiten des Internets ausser bei einem Artikel einer Autorin, die dieses Wort, das es nicht gibt, erfand, und ich wirklich der Letzte bin, der etwas dagegen hat, dass Wörter erfunden werden, weil es sie nicht gibt, und sie aus subjektiver Sicht notwendig werden, um etwas zu bezeichnen, das es gibt, selbst wenn das, was durch eben dieses Adjektiv bezeichnet wurde, etwas ist, das mir sehr am Herzen liegt.

Urinstichiges Pflegeheim.

Und weil die deutschen Wörter aus der gleichen Anzahl der immer gleichen Buchstaben gebildet werden, woran auch unzählige bundesdeutsche Kultusministerkonferenzen bisher wenig ändern konnten, bis auf die schlichte Tatsache, dass der meistgeschriebene Rechtschreibefehler vor der letzten Rechtschreibereform das “das” ohne sz war und danach das “das” ohne ss ist, wurden nicht nur in der jüngsten Vergangenheit bereits viele deutsche Wörter erfunden, die es zuverlässig ermöglichen, ohne neue Wörter erfinden zu müssen, den immer gleichen Gedanken mittels der immer gleichen Buchstaben in die immer gleichen Platitüden zu giessen, die zumindest von der Autorin, die die nächste Plattheit an prominenter Stelle zuletzt verwandt hat, besser hätte gewusst werden können.

Abgeschoben ins Pflegeheim.

Und da denkt man sich dann schon, wenn man dieses Substantiv und dieses Adjektiv und dieses Verb liest, dass das ein ziemlich schrecklicher Ort sein muss, dieses Pflegeheim, indem man abgeschoben in seine eigene Urinstichigkeit dem Ende entgegen dämmert, indem man abgesondert, suspendiert und davongejagt, in sein eigenes Elend verklappt wird, fast so wie Sondermüll, man nur noch ein jämmerliches Bündel Mensch ist, seine eigene heteronom zu versorgende Hilflosigkeit und sein ganz persönlicher Fleisch gewordener Pflegebedürftigkeitsbegriff, der jedem menschlichen Mitgefühl auf immer entzogen bleibt.

Es gibt, wenn man einmal von den Atomkraftwerken oder den Finanzämtern absieht, wohl keine Institution in Deutschland, der mehr gesellschaftliche Verachtung entgegengebracht wird, wie dem Pflegeheim. Wenn man sich fragt, woran das denn liegen kann, erinnert man sich natürlich der vielen Skandale der letzten Jahre, wenn Menschen im Pflegeheim zu wenig zu essen bekommen haben, zu wenig zu trinken oder fürchterlich wundgelegen sind. Das aber scheint nicht der alleinige Grund zu sein, denn auch Schlachthöfe haben ihre Skandale, trotzdem wird weiter Wurst gegessen. Im Grunde ist eigentlich keine Institution, auch nicht die Schulen oder Pfarreien, die ganze Zeit frei von Skandalen, Zweifeln, Korruption oder Missbrauchsverdacht, da alle Institutionen nun einmal menschliche Organisationsformen sind und nicht alle Menschen die ganze Zeit frei sein können von Skandalen, Zweifeln, Korruption oder Missbrauchsverdacht. Der Grund für die kontinuierliche Verachtung, die der Institution Pflegeheim entgegengebracht wird, muss also über die Erfahrung der Skandale hinausgehen, so wie sich auch bei der Verachtung für die Atomkraftwerke oder der Finanzämter ein tieferer Grund findet nicht in Fukushima oder der aktuellsten Steuerverschwendung, sondern in einer stark empfundenen Angst oder eben einem übersteigerten Geiz. Der Grund für die Verachtung der Institution Pflegeheim könnte demnach über den jüngsten Skandal hinaus, ja selbst über die allgemein übliche Verachtung des Alters hinausgehen, und einen tieferen Grund finden in der Verachtung der Hilflosigkeit, die eigentlich eine Angst vor der Abhängigkeit ist, und die noch genauer eine Abhängigkeit nicht nur von Anderen sondern gerade in ihrer Abhängigkeit durch den Anderen eine Abhängigkeit von sich selbst, von der eigenen Körperlichkeit und ihrer Bedürfnisse ist, deren Versorgung man in die Hände Anderer legen muss, da diese Abhängigkeit von sich selbst einfach nicht aufhört, versorgt werden zu müssen, auch wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen kann. Die Pflegeheime sind die Institutionen, in welchen diese Angst der Abhängigkeit von sich selbst verortet ist, sie markieren den Übergang aus einem vermeintlich selbstbestimmten Leben in eine institutionell versorgte Abhängigkeit. Und weil das so ist, schimpft man auf die Pflegeheime, diffamiert man sie, erklärt sie zu Orten des urinstichigen Abgeschobenseins, flieht ihnen und übersieht dabei ganz, dass man sich selbst nicht wird fliehen können.

Es stimmt, die Pflege steht angesichts der Demenz vor der vielleicht grössten Herausforderung ihrer Geschichte und letztendlich wird jeder von uns selbst entscheiden, wie er die Pflege von sich oder seinen Angehörigen organisiert, wenn es soweit ist, ob er über die notwendigen Mittel verfügt, eine Privatpflege zuhause zu bezahlen oder lieber in eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz zieht, die nicht dem Heimgesetz untersteht und deshalb auch nicht staatlich kontrolliert wird, oder sich eben doch einem Pflegeheim anvertraut. Einer Institution, die eine sehr wertvolle Ressource sein kann in der menschenwürdigen Pflege, Betreuung und Versorgung von 2.000.000 Menschen mit Demenz im Jahr 2030, von denen einige heute auch diese Zeilen gelesen haben.

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