Das Jahr der Pflege

“2011 ist das Jahr der Pflege”, sagt Gesundheitsminister Rösler. Ob sich diese Prognose bewahrheitet, bleibt abzuwarten. Ganz sicher wird 2011 aber das Jahr der Pflegereform, d. h. irgendwann einmal nach den zunächst anstehenden Landtagswahlen. Glaubt man den Zeitungen, den Verlautbarungen von Parteien, Trägerverbänden und anderen Experten, sind die Probleme drängend: die Zukunft der Pflegeversicherung steht wieder einmal auf dem Spiel, der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist nicht mehr zeit- und bedarfsgerecht und vor allem der drohende Fachkräftemangel drückt die Branche. Fast jede Woche werden andere Horrorzahlen durchgegeben. Fehlten noch vor ein paar Wochen 200.000 Fachpflegekräfte bis 2020, hat sich der prognostizierte Mangel inzwischen bei 400.000 eingepegelt. Sind die Probleme wirklich so gravierend oder handelt es sich hierbei nur um das typische Ballyhoo verschiedener Interessengruppen, die im Vorfeld einer jedweden Reform den Teufel immer in den leuchtendsten Farben an die Wand malen, um für ihre Klientelen am Ende das Maximale herauszuholen? Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte am 07.12.2010 den Meinungssplitter einer erfahrenen Pflegedienstleitung, wonach es nach jeder Reform nur noch schlimmer geworden ist. Schaut man sich die Geschichte der Gesundheitsreformen an, wird man ihr beipflichten müssen. Wie sind also all die Stimmen, Meinungen und Befürchtungen einzuordnen? Handelt es sich hierbei um ein Jammern auf hohem Niveau aus Gründen der weiteren Profitoptimierung oder stehen wir wirklich ganz dicht vor dem Kollaps und sollten schnellstens anfangen, ostasiatische Pflegefachkräfte zu importieren, welche die Agonie der Pflege und Pflegeversicherung letztlich aber nur unwesentlich verlängern würden?

reformpflege denkt von unten nach oben, aus der eigenen Praxis in die Theorie. Wie also sieht es unten aus? Was wünschen wir uns?

Es ist uns egal, ob der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff drei, fünf oder zwanzig Stufen kennt, wenn nur der psychosoziale Betreuungsbedarf unserer Bewohner endlich der somatischen Pflegebedürftigkeit gleichgestellt wird. Diese Gleichstellung hätte Signalwirkung für Pflege und könnte so auch den immer wieder geäusserten Vorwurf entkräften, der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff belohne schlechte Pflege, da er die Pflegeeinrichtungen geldlich bevorteile, die ihre Bewohner in die nächsthöhere Pflegestufe “pflegen” oder sie kein finanzielles Interesse daran entwickeln lasse, den Pflegebedarf zu verringern bzw. den pflegerischen Allgemeinzustand ihrer Bewohner zu verbessern. Es ist nicht nur deshalb geboten, endlich ein komplementäres Vergütungssystem zu entwickeln, das neben den Pflegestufen auch Betreuungsstufen identifiziert, und somit den höheren psychosozialen Betreuungsbedarf der unteren bzw. mittleren Pflegestufen höher vergütet als den in diesen Pflegestufen erforderlichen Pflegebedarf. Kurz: je weniger Pflegebedarf sich eine Einrichtung psychosozial- und soziotherapeutisch erarbeitet, desto mehr darf sie für ihre therapeutischen Leistungen abrechnen. Das ist nicht utopisch und impliziert auch nicht unbedingt ein Mehr an Vergütung, vielmehr beweist u. a. demode, dass sinnvolle therapeutische Leistungen schon im bestehenden Vergütungssystem ohne Sonderpflegesätze finanziert werden können. Es ist aber notwenig, dass therapeutische Leistungen auch durch das Pflegeversicherungsgesetz (Der Name allein ist schon wenig förderlich) explizit in höherem Maße eingefordert und gesondert finanziert werden. Ein komplementäre System hat erwiesenermassen den Vorteil, dass durch den Einsatz anerkannter therapeutischer Fachkräfte zur psychosozialen und motogeragogischen Betreuung und der damit einhergehenden Minimierung des somatischen Pflegebedarfes der Einsatz von pflegerischen Fachkräften reduziert werden kann. (Wiewohl ganz sicher in irgendeinem Pflegeheimförderungsministerium wieder an einer gefördertenpflegeheimsfreundlichen Heimmindestpersonalverordnung gebastelt wird, welche dieses Modell realitätsfern konterkariert.)

Auch in diesem neuen System würden Pflegefachkräfte nicht überflüssig – ganz im Gegenteil. Unsere überalterte Gesellschaft braucht Pflegefachkräfte mehr denn je. Die Gesellschaft bzw. deren Politiker müssen sich aber langsam entscheiden, welche Pflege sie in Zukunft brauchen wollen. Und diese Entscheidung sollte nicht zuletzt unter der Massgabe getroffen werden, die Pflege als Beruf deutlich zu attraktivieren. Der Pflegeberuf sollte jungen Menschen eine Perspektive bieten, die über den jetzigen Horizont weit hinausgeht. Derzeit wird geplant, die Ausbildung der Kinder-, Alten- und Krankenpflege anfangs zusammenzulegen und die Ausbildungswege erst später zu spezialisieren. Die Praxis zeigt jedoch, dass sich die Anforderungsprofile an die verschiedenen Pflegeberufe in den letzten Jahren stark differenziert haben. So wird die Verweildauer in den Krankenhäusern immer kürzer. Die Krankenpflege leistet immer weniger Grundpflege und pflegt ihre Patienten aus Kostendruck schnellstmöglich transportfähig, während die Altenpflege als Dauerpflege ihre Bewohner auf deren letzten Lebensabschnitt begleitet und deshalb nicht nur durch den Anstieg der Demenzerkrankungen mehr und mehr auch sozialtherapeutisch gefordert ist. Sind diese unterschiedlichen Anforderungsprofile tatsächlich in einer Ausbildung unterzubringen oder ist der Spagat zu gross? reformpflege hat Zweifel, wiewohl wir anerkennen müssen, dass die Idee der Zusammenführung durchaus auch eine grosse Chance für Pflege birgt. Dann nämlich, wenn die teil- und vollstationären Einrichtungen, die bisher fast ausschliesslich für grundpflegerische Dienstleistungen an eingestuften Pflegebedürftigen vergütet werden, auch qualifizierte Grund- und Behandlungspflege für Jedermann anbieten dürften. Das wäre ein grosser Schritt hin zur Attraktivierung von Pflege, da er diesen Beruf von Beschränkungen befreien würde, für die es keine fachlichen Gründe oder Notwendigkeiten gibt. Es ist ist vielmehr zwingend davon auszugehen, dass auch der Bedarf an ausserklinischer Behandlungspflege steigen wird, da unsere Gesellschaft überaltert und immer weniger Behandlungspflege in den Krankenhäusern erbracht werden kann. Derzeit wird ein Grossteil der pflegerischen Nachsorge etwa nach einem Klinikaufenthalt durch ambulante Pflegedienste abgedeckt, die im Gegensatz zu ihren stationären Kollegen medizinische Behandlungspflege abrechnen dürfen. Der Gedanke, die qualifizierte pflegerische Nachsorge für Jedermann auch in stationäre Pflegeheime zu verlagern, ist nicht neu. Er ist bereits im SGB XI (§ 92b) verankert, die Umsetzung scheiterte aber bisher an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Krankenkassen. 2011 könnte das Jahr der Pflege werden, wenn dieser Weg endlich weiter beschritten wird. Wenn aus innovationsbereiten Pflegeheimen endlich Pflegehäuser oder echte PoliCare-Zentren würden, die ihre gesamte Bandbreite an professionellen Dienstleistungen, auch ambulanter und teilstationärer Art, ohne Beschränkungen eigenverantwortlich zu einer wohnortnahen und mittlerweile dringend gebotenen Verbesserung der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung einsetzen und auch abrechnen könnten.

Pflege kann viel mehr, sie muss es nur endlich dürfen.

2 Kommentare zu „Das Jahr der Pflege“

  1. Lars sagt:

    Hey Ich vermisse den Facebook Like Button? ;)

  2. Oliver Zajac sagt:

    danke für die anregung! und ja – wir werden darüber nachdenken! und über twitter auch…oder wie das heisst…

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