Black Boxes

Von Oliver Zajac und Alexandra Friebel

Black Box oder FlugschreiberBlack Box oder auch Flugschreiber, wie er in Flugzeugen verwendet wird, um die Flugdaten als auch die Wortlaute der Piloten fortwährend aufzuzeichnen.

Jede Demenz fällt in anderes Leben, löscht andere Erinnerungen, zerstört andere Erfahrungen und vernichtet andere Fähigkeiten. Ein Etwas wie die Demenz gibt es nicht. Es gibt immer nur eine andere Demenz von anderen Menschen mit anderen Biographien und einem anderen Verlauf. Demenz ist uns, die wir keine oder noch keine Demenz entwickelt haben, ein sehr spezielles Anderes, weil wir zu dieser Erfahrungswelt noch weniger Zugang finden als zu den normalen Erfahrungswelten der normalen Anderen, die keine oder noch keine Demenz entwickelt haben. Wollen wir die Lebensäusserungen der normalen Anderen verstehen, so übersetzen wir sie in der Regel in unsere eigene Erfahrungswelten und hoffen dort die Entsprechungen zu finden, welche uns helfen sollen, die Lebensäusserungen aus den anderen Erfahrungswelten zu dechiffrieren, so dass wir glauben, sie zu verstehen. Wir müssen hierbei zwingend voraussetzen, dass sich unsere eigenen Erfahrungswelten und die anderen Erfahrungswelten gleichen, denn sonst lassen sich die Entsprechungen nicht finden, die eine annähernd gelungene Dechiffrierung des Anderen scheinbar erst ermöglichen. Wir wissen und vergessen dennoch gerne, dass unsere Entsprechungen und die anderen Lebensäusserungen nie ganz deckungsgleich sein können, da diese immer aus den Erfahrungswelten der Anderen stammen und wir so eigentlich nie wirklich voll und ganz verstehen, was da aus anderen Erfahrungswelten in unsere eigene fällt. Um wie viel schwerer muss es uns also erst fallen, Lebensäusserungen zu verstehen, die aus anderen Erfahrungswelten stammen, welche gerade im Begriff sind, vernichtet zu werden. Und die sich, je weiter diese andere Vernichtung voranschreitet, umso radikaler von den unseren Erfahrungswelten unterscheiden, die nicht oder noch nicht vernichtet werden.

Wenn durch das Fortschreiten der Demenz die Erfahrungswelt des Anderen ihm und uns immer mehr entgleitet, wird seine Erfahrungswelt uns zwangsläufig zu einer Black Box, für deren Inhalte wir kaum noch Entsprechungen haben. Eine begleitende Therapie für Menschen mit Demenz ist aber darauf angewiesen, nach Lebensäusserungen von Menschen mit Demenz zu suchen, die uns ein annäherndes Verständnis ihrer Gefühls- und Erfahrungswelten auch dann noch ermöglichen, wenn die Menschen uns schon längst nicht mehr mitteilen können, “wie es ihnen geht”. Im Idealfall lassen sich in diesen Lebensäusserungen von vielen Anderen Muster erkennen, die bei aller Individualität der unterschiedlichen Verläufe der Demenz und der jeweiligen Einzigartigkeit der Erfahrungswelten, die von ihr vernichtet werden, ein Gleiches ausdrücken, das uns helfen kann, die Vielen besser zu verstehen bzw. unabhängig von der medizinischen Diagnose schon ahnen zu können, in welchen Erfahrungsraum der Einzelne als nächstes eintreten wird, da wir wissen, in welcher Erfahrungswelt die Vielen schon waren. Im Folgenden stellen wir Bilder vor, die allesamt von Menschen gemalt wurden, die an Demenz erkrankt sind. Alle Bilder sind im Haus Tanneck entstanden und zwar im Rahmen der alltäglichen Arbeit. Die Bilder wurden nicht zum Zwecke dieses Artikels gemalt sondern im Verlauf von Jahren gefertigt, aufbewahrt und archiviert, dann wieder hervorgekramt, gesichtet und bedacht und zum Anlass dieses Textes gemacht. Alle Werke sprechen für sich selbst, sind hier nicht Gegenstand einer “tiefenhermeneutischen” Analyse sondern werden dem Betrachter zum eigenen Erfahren überstellt – ergänzt durch kurze fachfrauliche Erläuterungen:

Im Folgenden soll ein “chronologischer” Überblick über verschiedene formale Gestaltungsmomente gegeben werden, wie sie sich im Verlauf der Demenz beobachten lassen. Neben bestimmten Darstellungsweisen zeigt sich in den Bildern auch inhaltlich eine Auseinandersetzung mit der veränderten Lebenswelt. Die Gestaltungen der Menschen, die sich in einem frühen Stadium der Demenz befinden, zeigen oftmals gegenständliche, komplexe Bildwelten. Während des Malens beschäftigen sie sich mit ihrer veränderten Lebenssituation. Inhaltlich tauchen dann oft Häuser in den Gestaltungen auf. Hr. A. beispielsweise wird im Malen die Erinnerung an sein Heimatdorf zugänglich. Während er es zeichnend aufbaut, rekonstruiert er es und erinnert sich. Seine Darstellungsweise ist sehr detailliert und zeigt ein reichhaltiges Erleben.

(1)

Auch Herr B. beschäftigt sich mit dem Haus (Abbildungen 2 und 3), in dem er aufgewachsen ist. In seiner Art zu zeichnen, zeigt sich eine beginnende veränderte Darstellung: das Haus wird nicht perspektivisch verkürzt, sondern “aufgeklappt” abgebildet.

(2, 3)

Dies ist ebenso Anzeichen einer beginnenden Regression wie die Deformation der Figur (Abbildung 4). In der verzerrten Menschdarstellung zeigt sich die zunehmende Auflösung der Schemata mit deren Hilfe wir unsere Wahrnehmung ordnen: Der Kopf sitzt ein bisschen schräg direkt auf dem Oberkörper, die Gestalt wirkt insgesamt ein bisschen wacklig und macht eine Unsicherheit deutlich, die sich langsam ausbreitet.

(4)

Auch die Auflösung der klaren Form wird in diesem Bild anschaulich, so wird die Zeichnung oberhalb des ganz an den Bildrand gedrängten Hauses zunehmend gestisch.

Indem die Gestaltschemata aufgelöst und durchlässiger werden, kommt es zu ungewohnten ästhetischen Verbindungen, wie in diesem Bild von Frau C. (Abbildung 5), die ihre Pflanze zunächst mit Blüten und dann mit einem Haus schmückte.

(5)

Die Auflösung der Form nimmt mit Fortschreiten der Demenz zu. Im Gestalten bekommt man als Betrachter das Gefühl, dass eine anfänglich klare Vorstellung im Verlauf verloren geht bzw. vergessen wird. Das Schema Baum wird mit dem Stamm begonnen, kann aber nicht weitergeführt werden (Abbildung 6), ein Haus wird angelegt und im weiteren Malen fast völlig überdeckt (Abbildung 7).

(6, 7)

Bisweilen erwecken diese Bilder auch den Eindruck der existenziellen Auseinandersetzung mit der Auslöschung der eigenen Person durch das nahende Lebensende:

(8)

Aus dem zunehmenden Erleben von Auflösung und Unsicherheit heraus entstehen auch sehr stereotype Darstellungsweisen beispielsweise die ständige Wiederholung einer Form oder Ornamente. Die Wiederholung einer einfachen Form oder klare geometrische Muster geben mitunter Orientierung und Halt.

(9, 10, 11, 12)

Auch ganze Bildmotive können auf diese Weise wiederholt werden. Herr D. beispielsweise malt immer wieder Häuser. Mit großem Eifer und Konzentration beginnt er dieses Motiv immer wieder neu und in gleichem Aufbau:

(13, 14, 15)

Ein Motiv, das er seltener aber auch bisweilen wiederholt ist dieser Tisch. Auch er erinnert im Aufbau sehr an das Haus, vor allem die Wiese und die Pflanzen werden auf immer dieselbe Weise dargestellt.

(16, 17)

Die geometrischen Muster und Ornamente können Ausdruck eines zunehmenden Erlebens von Leere und Stagnation sein…

(18, 19)

…oder auch eine Darstellung des Überfliessens, der Grenzen- und Formlosigkeit:

(20, 21)

Dieses Überfliessen findet sich mit Fortschreiten der Demenz auch im Überschreiten der Bildgrenzen, vor allem dann, wenn die Malerei zunehmend gestisch wird (Abbildungen 22 – 24).

(22, 23, 24)

Die Bilder erinnern dann auch an die Kritzelzeichnungen von Kindern, eine Gegenbewegung zu diesem “undeutlicher werden” ist das Ubernehmen von Schrift, von Worten in die Bilder, wobei auch das Malen selbst manchmal mit dem verwandten Schreiben verwechselt wird.

(25, 26)

Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Form im Verlauf der Demenz zunehmend verlorengeht, und einer eher gestischen, abstrakten Darstellungsweise weicht.

Sehr eindrücklich zeigt ein Bild von Frau E (Abbildung 27) die zunehmende Leere in einer Erfahrungswelt, in der die Sicherheit als auch die Halt gebende Struktur und Ordnung verlorengehen.

(27)

Einsamkeit und Leere im inneren Erleben zeigen sich auch in der Aufteilung und Ausnutzung des Bildraumes.

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Diese können im Auge des Betrachters andererseits auch zu einer offeneren, oft sehr ästhetischen Gestaltung führen:

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Die Gestaltungsweise kann also durch den Grad der Demenz geprägt sein, wodurch ein Verlauf der Erkrankung sichtbar gemacht werden kann.

So findet sich bei einem schweren Grad der Demenz eine Verarmung des Ausdrucks, der Kreativität und der Gestaltverlust. Auch kann die Demenz, wie gezeigt wurde, manchmal einhergehend mit einer Bewegungsunruhe zu Kritzelbildern führen. Die eher abstrakte Darstellungsweise, die sich mit fortschreitender Erkrankung entwickeln kann, führt aber auch zu einer Konzentration auf Farbe und Form, und bringt oftmals sehr ästhetische und biographisch besetzte Bilder hervor. Es kann so zu einer zuvor nicht zugänglichen Gestaltungskompetenz kommen, aus der heraus im Auge des Betrachters sehr schöne und ausdrucksstarke Bilder entstehen können.

(30, 31, 32, 33)

Anscheinend gab oder gibt es eine Diskussion, ob Werke wie die weiter oben Kunst sein dürfen oder nicht, da deren Urheber ja demenzbedingt schlecht oder nicht mehr zu reflektieren verstehen, sie demnach nicht mehr in der Lage wären, Werke echten künstlerischen Wertes zu schaffen. Die Beantwortung dieser Frage – so blödsinnig sie auch gestellt sein mag, da ihr ein ziemlich dürftiges Verständnis von Kunst innewohnt – spielt in dem hier vorliegenden Kontext keine Rolle. Die gezeigten Bilder sollten vielmehr verstanden werden als die Lebensäusserungen von Menschen, die wir gar nicht mehr verstehen können, selbst wenn wir sie verstehen wollen, da diese gerade ihren Verstand verlieren. Sie sollten also besser gar nicht verstanden werden. Und wenn wir uns bemühen, nicht zu verstehen, eröffnen uns diese Bilder vielleicht einen intuitiven Zugang zu den Erfahrungswelten der Anderen, der uns, die wir nicht oder noch nicht den Verstand verlieren, einen kleinen Begriff oder eine schwache Ahnung davon entwickeln lässt, was es heisst, von der Demenz um den Verstand gebracht zu werden.

Nachtrag:

Der Artikel “Black Boxes” bringt im Jahr 2011 zwei Neuerungen bei der reformpflege mit sich. Erstens, eine neue Kategorie “Black Box”, welche in loser Folge immer wieder mit Berichten über Annäherungen und Annäherungsversuchen an die Erfahrungswelten von Menschen mit Demenz angefüllt werden soll und zweitens, die Öffnung des Blogs gegenüber internen und externen Autoren und Co-Autoren, die dankenswerterweise ihr Wissen und ihre Erfahrungen der reformpflege in allen möglichen Kategorien zur Verfügung stellen.

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