Zugegeben: Texte der reformpflege in der jüngsten Vergangenheit enthielten für Einige einige Zumutungen. Zumutungen für diejenigen, welche sich über ihre “sehr guten” Pflegenoten gefreut haben und gar nicht verstehen können, warum diese zweifelhaft sein sollen. Zumutungen für diejenigen, welche wieder einmal nur unser aller Bestes wollten und gar nicht verstehen können, warum das nicht endlich Alle verstehen. Zumutungen für diejenigen, welche keine Veränderung wünschen, weil sie sich in der real existierenden Pflegewelt bestens eingerichtet haben oder diese massgeblich definieren und gar nicht verstehen wollen, warum diese kleine Pflegewelt nicht allen gefällt. Zumutungen über Zumutungen, kleine und grosse, und jede einzelne von ihnen eine Zumutung, um noch grössere Zumutungen zu verhindern, denn die Geschichte dieser kleinen Pflegewelt lehrt, dass die meisten Zumutungen nur in dieser Welt sind, da die vorhergehenden Zumutungen die nachfolgenden Zumutungen nicht verhindern konnten. Und weil natürlich auch der folgende Text für Einige einige Zumutungen enthält, sei schon jetzt gleich vorweg gesagt, dass eine bestimmte Zumutung ganz gewiss nicht in diesem Text steckt oder in einem vorhergehenden Text steckte, weder versteckt noch unterschwellig, und diese Zumutung ist die Zumutung der Religionskritik. reformpflege achtet und respektiert die religiösen Empfindungen und Überzeugungen jedweden Glaubens und jedweder Konfession zutiefst. reformpflege ist ganz ausdrücklich kein Blog der Religions- sondern immer ein Blog der Pflegekritik. Dass diese Verwechselungsgefahr überhaupt besteht, hat mit der teilweise gemeinsamen Tradition der Pflege und des Christentums zu tun. Es ist ein Verdienst der christlichen Kirchen der Pflege eine geistige Grundlage und Heimat gegeben zu haben, welche sie durch ihre eigene Geschichte trugen. Die geistige Grundlage der historischen Pflege ist die Idee der tätigen Nächstenliebe und ihre alleinige Heimat waren über Jahrhunderte die Bruder- und Schwesterschaften der christlichen Kirchen. Und auch wenn sich Pflege seit dem Mittelalter natürlich verändert hat, professionelle Gesundheits- und Altenpflegerinnen die Mönche und Schwestern von einst längst abgelöst haben, bedingt Geschichte Gegenwart und ragt diese Tradition der Pflege bis in die Neuzeit hinein. Pflege ist in unserer Zeit ein eher unpopulärer Beruf, was damit zusammenhängen mag, dass eine Motivation diesen Beruf zu ergreifen, das Bedürfnis dem Nächsten zu helfen und zu dienen, immer seltener geworden ist. Diejenigen, die diesen Beruf dennoch ergriffen haben und auch in ihm verblieben sind, müssen über eben jene Motivation noch verfügen, denn anders lässt es sich nicht erklären, dass Pflege trotz massiver Überstundenlast und krasser Unterbesetzung auf vielen Stationen immer noch irgendwie funktioniert. Einhergehend mit ihrer Professionalisierung ist Pflege aber auch kommerzialisiert worden – spätestens mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wird der Dienst am Nächsten durch ein sozialversichungsrechtliches Entgeltsystem entsprechend vergütet. Und auch wenn Pflege damit zu einem Milliardengeschäft geworden ist, halten einige Trägerverbände gerne am Mythos der tätigen Nächstenliebe fest, der aber in ihrem Geiste nur noch Marketingcharakter besitzen kann. In einer Welt, deren Marketingagenturen uns lehren wollen, auch Hamburger und Pommes Frites zu lieben, mag ein solches Vorhaben in den Vorstandsetagen der Pflege beiläufig abgenickt werden; es trifft aber in den Pflegeheimen auf Menschen, die den Gedanken der Nächstenliebe als im Beruf gelebte zwischenmenschliche Solidarität noch ernst nehmen und die diesem eigenen Anspruch durch die ausgedünnten Schichten im Pflegealltag immer weniger gerecht werden können. Es ist diese Diskrepanz zwischen realer und verkündeter Solidarität, zwischen Kommerz und Nächstenliebe, welche Pflege immer mehr erodieren und letztlich kollabieren lassen wird. Die Diskrepanz zwischen einem Pflegebegriff, der in den Vorstandsetagen schon längst ideell entkernt und kommerziell substituiert wurde, aber auf Station immer noch traditionell gelebt werden soll und will. Diese Diskrepanz ist das Grunddilemma der modernen Pflege und bezeichnet nichts anderes als ein grundsätzliches und sehr schwerwiegendes Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn Bundesgesundheitsminister Rösler, der das Land demnächst mit einer Pflegereform beglücken will, sagt: “Ganz wichtig ist es zudem, das Image des Pflegeberufs aufzuwerten. Das Ziel muss sein, dass Jugendliche bei ihren Freunden geachtet werden, wenn sie einen Pflegeberuf ergreifen – und nicht belächelt.” (SZ, 10.09.2010), dann hat er damit nur bedingt recht. Ja, es ist für die Zukunft der Pflege überlebenswichtig, dass die Lebensentscheidung junger Menschen auch aus Nächstenliebe und/oder menschlicher Solidarität einen Pflegeberuf zu ergreifen, wieder stärker gesellschaftlich anerkannt wird. Dazu wird es aber nicht hinreichen, das Image der Pflegeberufe bloss aufzuwerten, es mit einer PR-Kampagne ein wenig aufzubretzeln, es ist vielmehr notwendig, die Glaubwürdigkeitslücke zwischen Kommerz und Solidarität zu schliessen und Pflege wieder sich selbst zurückzugeben. Es ist noch nicht unmöglich, die Arbeitsbedingungen zu schaffen, in welcher sich auch die Idee der Nächstenliebe oder der Solidarität frei entfalten kann. Alles, was es dazu braucht, ist ein gesunder Ausgleich zwischen den Interessen einer nachhaltigen Ökonomie und den Interessen der Pflege. Eine Ökonomie der freien Pflege, die versteht, dass die Idee der professionellen Solidarität der eigentliche und unverzichtbare “Markenkern” von Pflege ist und die um die unbedingte Notwendigkeit weiss, die wirtschaftlichen Grundlagen dieser Solidarität auch selbst erwirtschaften zu müssen. Es gibt für eine glaubwürdige Pflege kein Loskommen von der Liebe. Denn das ist die grösste Zumutung: eine Pflege im Namen der Nächstenliebe, die dieselbe schon längst dem rasenden Profitstreben unserer Zeit geopfert hat.
Nachtrag:
reformpflege wurde in der jüngsten Vergangenheit für bestimmte Texte, welche die Transparenzprüfungen und deren Umstände zum Thema hatten, kritisiert. reformpflege wollte niemanden zu nahe treten, wir sind jedoch überzeugt, dass der so genannte Pflege-TüV der Glaubwürdigkeit der Pflege einen Bärendienst erwiesen hat. Prüfungen wie der Pflege-TüV beinhalten immer implizite Unterstellungen. Sie unterstellen, dass wir unsere Arbeit nicht ordentlich machen könnten. Sie unterstellen, dass unsere Bewohner vor uns geschützt werden müssten. Diese Unterstellungen sind demütigend, haben aber ihre Geschichte. Wenn eine Prüfung wie der Pflege-TüV so gestrickt ist, dass nicht nur der Eindruck erweckt wird, das Prüfungsergebnis solle verwässert, der Bewohner und dessen Angehörige sollen getäuscht werden, dann ist das letztlich schädlich für uns alle. Die Pflegetransparenzprüfung ist nur das bisher letzte Instrument von vielen, mit denen Pflege zu ihrer vorgeblichen Besserung bisher drangsaliert worden ist. Weitere werden folgen, sollte das grundsätzliche Vertrauen in Pflege nicht endlich wiederhergestellt werden. Wir können dem Anspruch an unsere eigene Glaubwürdigkeit nicht entkommen.