Der dritte Makel

Die so genannte Pflegetransparenzprüfung hat in der Zwischenzeit schon viel Prügel einstecken müssen und meistens zurecht. Die methodischen Mängel sind inzwischen hinlänglich bekannt und oft kritisiert worden, eine gute Zusammenfassung im Detail findet sich u. a. hier.

Aber jetzt soll endlich alles besser werden: zur Zeit sitzen die Verantwortlichen, die Mitglieder der “Pflege-Selbstverwaltung”, ein Gremium bestehend aus den Pflegekassen, dem Sozialhilfeträger und dem noch verbliebenen überwiegenden Teil der Trägerverbände zusammen und beraten auf Grundlage der Pflege-Transparenzvereinbarung (behördendeutsche Abkürzung: PTV) über Verbesserungsmöglichkeiten. Das Prüfsystem, zu dem es nach Ansicht der “Pflege-Selbstverwaltung” keine Alternative gibt, soll bereits bis Ende dieses Jahres ersten kurzfristigen Veränderungen unterworfen werden. Wie einem Positionspapier der freien Wohlfahrtspflege zu entnehmen ist, sollen mittel- bis langfristige Verbesserungen im Laufe der nächsten Jahre folgen. Am Ende eines mehrjährigen Entwicklungsprozesses soll sodann ein perfektes System stehen. Offensichtlich begreift man die Entwicklung des Prüfsystems mangels anderer Alternativen als ein “learning by doing” am lebenden Objekt und eingedenk der bisherigen Erfahrungen mit dem Pflege-TÜV kann man dieses Ansinnen nur als Drohung auffassen.

Im folgenden Text soll untersucht werden, ob das Ziel einer perfekten Pflegetransparenz überhaupt realisierbar ist oder nur ein Traum bleiben darf. Es wird sich dabei finden, dass beim Procedere der Pflegetransparenzprüfung sich einige “Pflege-Selbstverwalter” auf der Suche nach dem heiligen Gral der Transparenz zwangsläufig in Widersprüche verstricken müssen, andere sich beklommen an das Gedicht vom Zauberlehrling erinnert fühlen und wie im richtigen Leben auch – immer nur dieselben gewinnen.

Selbst wenn es gelingen sollte, das Prüfsystem hinsichtlich Objektivität, Validität und Reliabilität perfekt zu entwickeln, was getrost bezweifelt werden darf, blieben zwei grundsätzliche Makel immer bestehen und diese betreffen die Kriterien der Durchführung der Prüfung selbst.

Der erste Makel ist, dass die Prüfungen sukzessiv erfolgen müssen. Um eine halbwegs objektives Ergebnis zu erhalten, müssen alle Einrichtungen den gleichen Prüfkriterien unterworfen werden. Da aber nicht alle der über 10.000 Einrichtungen aus Kostengründen zum selben Zeitpunkt geprüft werden können, müssen alle Prüfkriterien von Anfang an bekannt sein, damit die Einrichtungen die erst später geprüft werden, keinen Vorteil daraus ziehen könnten, dass anfangs geheime Prüfkriterien im Laufe der bundesweiten Prüfungen bekannt würden. Das hat zur Folge, dass sich alle Einrichtungen auf die Prüfungen vorbereiten können, die Fortbildungs- und Beratungsbranche anspringt und schon nach kurzer Zeit passgenaue Antworten selbst für eigentlich zu vermeidende regionale Kolorierungen des Pflege-TÜVs wie aus dem Katalog bestellbar sind. Das würde nicht besonders ins Gewicht fallen – ja, wäre sogar zu begrüssen, wenn auch gute Pflegequalität wie aus dem Katalog bestellt werden könnte. Bestellbar sind aber nur die Antworten, die gebraucht werden, um echte pflegerische Mängel durch lapidare Belanglosigkeiten auszugleichen. Ein echter pflegerischer Mangel wäre eine unterlassene Dekubitusprophylaxe (Frage 7: Werden erforderliche Dekubitusprophylaxen durchgeführt?) mit dem entsprechenden Ergebnis eines Wundliegegeschwürs, das beispielsweise im Pflege-TÜV durch vorhandene schriftliche Verfahrensanweisungen zu Erster Hilfe in Notfällen (Frage 35) ausgeglichen werden kann – Papier ist geduldig, Fleisch nicht.

Das ist wohl der Grund, weshalb nach dem Gesundheitsforum Baden-Württemberg nun auch die AOK auf ihrer Webseite Pflegeheimnavigator die verschiedenen Prüfkriterien unterschiedlich gewichtet und ungeachtet der Gesamtnote vor schlechten Noten bei bestimmten Risikofaktoren warnt. Man scheint sich bei den Kassen zunehmend der mit den Pflegetransparenzprüfungen übernommenen Verantwortung bewusst zu werden, vollständig gerecht wird man ihr aber immer noch nicht.

Der zweite Makel betrifft die intransparente Prüfungssituation vor Ort. Selbst wenn man die weichen Ausgleichkriterien verwerfen und nur noch die personalintensiv zu erarbeitenden Gütekriterien, wie u. a. die Dekubitusprophylaxe, den Ernährungszustand, die Flüssigkeits- oder die Wundversorgung prüfen würde, hätte man keine abschliessende Gewissheit über die tatsächliche Qualität erlangt. Pflegeheime, die erhebliche Mängel bei diesen Gütekriterien aufweisen, wissen in der Regel um diese Mängel. MDK-Prüfer, die 10% der Bewohner der jeweiligen Pflegeheime bezüglich der an ihnen ausgeübten Pflegequalität zu überprüfen haben, können nur Bewohner prüfen, die auch “da” sind. Bewohner, die in einer doppelten Pflegedokumentation verschwinden oder gerade gestern ins Krankenhaus verlegt worden sind, kann der MDK nicht examinieren. Ganz zu schweigen davon, dass diese Heime bei der Auswahl der 10%-Stichprobe einfach auch nur “Glück” haben können. Das mögen Einzelfälle sein, aber diese Einzelfälle bilden sich in der Prüfstatistik ab: das Photo eines Wundliegegeschwürs, welches reformpflege veröffentlicht hat, stammt aus einer Einrichtung, die bei der Frage 7 als auch bei der Risikofaktorfrage 8 (Basieren die Maßnahmen zur Behandlung der chronischen Wunden oder des Dekubitus auf dem aktuellen Stand des Wissens?) beide Male eine glatte 1,0 erhalten hat. Je grösser die Einrichtung, desto unübersichtlicher die Prüfsituation. Abhilfe ist nur zu schaffen, wenn die Einrichtung bereits vor der Prüfung transparenter wäre, als sie nach der Prüfung sein kann oder wenn die Prüfer tatsächlich 100% der Bewohnerschaft examinieren würden, was bei über 700.000 Heimbewohnern allein schon aus Kostengründen utopisch ist.

In diesem Sinne helfen der AOK ihre Risikowarnhinweise auf dem Pflegeheimnavigator nur sehr bedingt weiter. Denn die Kassen prüfen mit einem ungeeigneten Instrument ein Etwas, von dem sie nicht wissen, was es ist. Und sie sind verpflichtet, Ergebnisse zu verkünden, von deren Güte sie nicht mehr überzeugt sein können. Sie werden sich also weiter mit haftungsrechtlichen Eventualitäten und Risiken befassen müssen.

Der Pflege-TÜV ist nicht zuletzt auch deshalb angetreten, um schlechte Pflege zu identifizieren. Prüfinstrumente dieser Art aber identifizieren bestenfalls doofe Pflege, wobei die Mengen der doofen und der schlechten Pflege – wie man sieht – leider nicht deckungsgleich sind.

Wenn es stimmt, dass die Pflegetransparenzprüfungen jährlich 100 Millionen Euro kosten, dann ist der Gegenwert erschreckend dürftig. Man kann sich auch für weniger Geld nachhaltiger den Ruf ruinieren. Dabei sind in den 100 Millionen noch nicht einmal die Kosten miteinberechnet, die von den Heimen für die Vorbereitung auf die Prüfungen aufgewendet werden mussten. Viel Zeit und Geld, viel pflegerische Ressourcen, welche den Bewohnern entzogen und in ein von Anfang an hoffnungsloses Projekt investiert wurden. Sollten die Ankündigungen ernst gemeint sein und die Pflegetransparenzprüfungen in einem mehrere Jahre währenden Prozess weiterentwickelt werden, ist damit eine gigantische und sinnfreie Vernichtung von Zeit und Geld faktisch vorprogrammiert.

Da ist es doch weitaus sinnvoller, die Trägerverbände als die Repräsentanten der Prüfobjekte kümmerten sich eigenverantwortlich um eine transparente Qualität in ihren Reihen und trügen auch die Kosten dafür, anstatt diese zu sozialisieren. Denn ihre Mitgliedseinrichtungen sind ja die eigentlichen Verursacher der PTV, wie auch dem Positionspapier der Freien Wohlfahrtspflege zu entnehmen ist: “Denn letztlich ist das Instrument (die PTV) eine Reaktion der Politik auf den öffentlichen Druck. Insbesondere durch die negative und oft skandalisierende öffentliche Berichterstattung über Pflegeheime der letzten Jahre (…) wurde vom Gesetzgeber erwartet, zu dem [sic!] Themen Pflegequalität und Markttransparenz endlich tätig zu werden und vor allem schlechte Heime zukünftig erkennbar zu machen.”

Besonders einfach wäre dieses “Tätigwerden” wohl für die Verbände der gemeinnützigen Einrichtungen. Sie sind in ihren Gliederungen zumeist homogen durchstrukturiert, einige von ihnen betreiben auf einer gemeinsamen Basisplattform sogar Fachhochschulen und Universitäten, die wiederum über pflegewissenschaftliche Fakultäten oder Fachbereiche verfügen. Das KnowHow ist also durchaus vorhanden, lässt man jetzt noch ausreichend Produktionsmittel, sprich: Mitarbeiterstunden, folgen, dürfte einer ebenso richtungsweisenden wie atemberaubenden Qualitätssteigerung nichts mehr im Wege stehen. Dumm nur, dass ihnen just jetzt das jahrzehntelang propagierte überstundenlegitimierende Märchen vom “Pflegenotstand” als sich selbst erfüllende Prophezeiung bleischwer auf die Füsse fällt. Und ihnen dämmert, dass der bis 2020 prognostizierte Mangel von 300.000 Pflegefachkräften nicht durch noch mehr Überstunden kompensiert werden kann.

Etwas schwieriger gestaltet sich das “Tätigwerden” für die privaten Verbände. Sie sind heterogen strukturiert, bündeln die Interessen von grossen Aktiengesellschaften bis hin zu kleinsten Familienunternehmen. Alles autonome Mitglieder, die sich durch den Verband kaum in die Unternehmensführung hinein regieren lassen werden. Seit Gründung der privaten Verbände setzten diese rigoros auf Wachstum. Im Glauben, nur grosse Verbände können politisch durchsetzungsfähig sein, wurde in der Vergangenheit jede Einrichtung ungeachtet ihrer Qualität als Mitglied aufgenommen. Diese Strategie hatte sicherlich ihre Berechtigung, spätestens seit der Pflegetransparenzprüfung ist jedoch ein Punkt erreicht, an dem die Verbände sich zwischen Quantität und Qualität entscheiden sollten. Warum? Im Gegensatz zu der homogenen und durchschnittlichen Qualität der gemeinnützigen Einrichtungen ist die qualitative Bandbreite der privaten Pflege ausserordentlich gross, sie reicht im Grunde von hervorragender bis armseliger Güte. Eine qualitätsnivellierende Pflegetransparenzprüfung, die darauf getrimmt ist, durchschnittliche Pflegequalität zu einer “sehr guten” zu erklären, schadet damit im härter werdenden Wettbewerb vor allem jenen Einrichtungen der privaten Pflege, die eine überdurchschnittliche Qualität anbieten, und nützt den durchschnittlichen Einrichtungen am meisten.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt ist der normative Charakter der Prüfung. Die Pflegetransparenzprüfung ist der Maßstab, dem sich alle Pflegeeinrichtungen zu unterwerfen haben, er definiert Pflege verpflichtend. Die Umsetzung dieses Maßstabes, die Implementierung des prüfungsrelevanten Ausgleichswissen, ist gerade für kleinere bis mittelgrosse Pflegeeinrichtungen mit einem hohen Aufwand verbunden, sie können nicht auf ein Netzwerk eigener Expertenteams und Referenten zurückgreifen, wie es für die Einrichtungen gemeinnütziger oder gewerblicher Sozialkonzerne selbstverständlich ist. Das ist umso schädlicher, als sich unter diesen kleineren Einrichtungen jene Heime finden, die sich wegen des stärker werdenden Wettbewerbs und ihrer knappen Ressourcen ausserordentlich innovationsbereit zeigen müssen und aufgrund ihrer schlanken Organisationsstrukturen auch in der Lage sind, schnell brauchbare Konzepte zu erarbeiten und umzusetzen. Die fortwährende Implementierung prüfungsrelevanter Erfordernisse und anderer Vorschriften, so unsinnig diese auch sind, verschleisst die Ressourcen dieser Einrichtungen zuverlässig und begünstigt so eine zunehmend gleichgeschaltete Pflege. In einer Zeit, in welcher Pflege sich wieder einmal im Umbruch befindet, die zukünftigen Herausforderungen gewaltig sind und die Krankenhauspflege seit Einführung der Fallpauschalen bald nur noch rudimentär oder im Spezialistentum überleben wird, sind praxisbewährte ausserklinische Pflegekonzepte und nicht nur solche der Altenpflege wertvoller denn je.

Die privaten Verbände befinden sich somit nicht nur bei den Verhandlungen in der “Pflege-Selbstverwaltung” sondern grundsätzlich im Dilemma: entweder sie unterstützen die Mainstreampflege der grossen gewerblichen Sozialkonzerne, deren operativen Ziele sich kaum von denen der gemeinnützigen unterscheiden, voll und ganz und beschädigen damit die Interessen dieser kleineren Einrichtungen oder sie verknüpfen die Mitgliedschaft innerhalb ihres Verbandes an verbandsinterne Qualitätsansprüche, denen sich alle Mitglieder zu verpflichten haben. Letzteres ist kaum zu erwarten, weshalb es mehr als wahrscheinlich ist, dass sich auch in der Dauerpflege und ihrer Transparenzprüfung die Qualitätskriterien der Konzernpflege durchsetzen werden.

Das ist der dritte grundsätzliche Makel und anders als bei den ersten beiden ist er nicht allein durch die spezifischen Durchführungskriterien der Pflegetransparenzprüfung bedingt, er ist vielmehr schon in ihrer Entstehung politisch eingewoben.

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