Reformpflege?

Was ist das? Reformpflege ist ein möglicher Weg in der Weiterentwicklung von Pflege. In jedem der hier bisher veröffentlichten Artikel stecken reformpflegerische Ideen, Gedanken und Überzeugungen. Da die Artikel zum grossen Teil unzusammenhängend erschienen sind, nicht alle zueinander in Bezug stehen und dem interessierten Leser natürlich nicht zuzumuten ist, alle Texte zu lesen, hat reformpflege die bisherigen Kernthesen an dieser Stelle noch einmal in komprimierter Form veröffentlicht und in einen direkten Zusammenhang gebracht.

1.
Ein wesentliches Kennzeichen von Pflegeheimen ist ihre Totalität. Durch diese oft kritisierte Totalität können sie allen anderen vollstationären Versorgungsformen hinsichtlich der professionellen Betreuungsqualität als auch ihrer effizienten Finanzierung überlegen sein, wenn sie dieses wesentliche Kennzeichen positiv umdeuten und im Sinne der Reformpflege als Pflege total definieren, also nicht nur in der Lage sind, unterschiedliche Betreuungsbedarfe innerhalb der Bewohnerschaft zu identifizieren sondern diese Bedürfnisse auch bezüglich ihrer pflegerischen, sozialen, emotionalen und psychischen Individualität möglichst umfassend zu erfüllen wissen. Zu diesem Zweck hat Reformpflege alle zur Verfügung stehenden Ressourcen qualitativ zu kontrollieren und als Produktionsmittel für Pflege selbst einzusetzen. Alle einsetzbaren Formen und Funktionen haben primär der Funktion von Reformpflege zu folgen. Hierzu zählen neben der Architektur ausdrücklich auch eine hauseigene Küche und die Hauswirtschaft. Die Funktion der Reformpflege ist nicht in erster Linie Pflege, die Funktion der Reformpflege ist die tagtägliche Konstruktion von individuellen Lebens- und Erfahrungsräumen in Sozialität. Das ist durch den herkömmlichen Pflegebegriff alleine nicht zu leisten.

2.
Reformpflege bedient sich deshalb eines erweiterten Pflegebegriffes. Pflege bleibt nicht stehen bei der Erfüllung rein somatischer Bedürfnisse, seien diese grund- oder behandlungspflegerischer Natur. Reformpflege beinhaltet verschiedene Kompetenzen, neben der rein pflegerischen ausdrücklich u. a. auch therapeutische und pädagogische. Therapie steht hierbei nicht unter dem Primat der Pflege. Therapie und Pflege ergänzen sich, sind gleichberechtigt, eröffnen somit unterschiedliche Blickwinkel auf gleiche Problemstellungen und arbeiten mit- und füreinander. Pflege ist Therapie, Therapie ist Pflege. Über ihre eigene Kernkompetenz hinaus hat Pflege eigene therapeutische Kompetenzen zu erwerben, um diese in die tagtäglichen Arbeitsabläufe zu integrieren, ebenso, wie die therapeutische Kernkompetenz durch pflegerisches Wissen erweitert werden muss. Das impliziert eine lernende Pflege.

3.
Abgeleitet von dem Prinzip der Pflege total und erst ermöglicht durch die Erweiterung des Pflegebegriffes haben sich Einrichtungen der Reformpflege ein umfassendes Betriebssystem zu geben. Dieses Betriebssystem ist demode: es arbeitet an 365 Tagen im Jahr, es homogenisiert die Betreuungsbedarfe der Bewohner in Gruppen und passt die Inhalte der Gruppenarbeit so bestmöglich an die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten des jeweiligen Bewohners an. Im Fokus von demode steht der bestmögliche therapeutische Input zum bestmöglichen Zeitpunkt. demode arbeitet strukturell und inhaltlich. Strukturell, da demode jeden Tag immer wieder die gleichen Rituale ausübt. Das vermittelt Bewohnern mit Demenz oder einer anderweitig eingeschränkten Selbstkompetenz Verlässlichkeit und Sicherheit. Inhaltlich, da die Strukturen mit alternierenden therapeutischen Inhalten, den demodulen, bespielt werden, um vorhandene Ressourcen von Menschen mit Demenz zu stärken bzw. zu fördern. Demzufolge hat demode drei Ziele: die Entschleunigung der Krankheit durch gezielte Förderung und Erhaltung verbliebender kognitiver Ressourcen, die Einbettung der Menschen mit Demenz in ein spezifisches therapeutisches Setting, welches auch während der Demenz ein grösstmögliches Mass an Lebensqualität bereitstellt und die Anpassung der therapeutischen Massnahmen an die unterschiedlichen Verlaufsstadien der Demenz.

4.
Reformpflege ist kein abgeschlossener sondern bleibt immer ein offener Prozess. Reformpflege hat sich in ihrer täglichen Arbeit als auch in ihrer eigenen Entwicklung zu reflektieren. In den werktäglichen Übergaben, an denen Therapie und Pflege teilnehmen, sind die pflegerischen und therapeutischen Massnahmen bezüglich ihrer Zielführung zu überdenken und gegebenenfalls neu zu justieren oder weiterzuentwickeln. Die werktäglichen Übergaben können bei Bedarf auch zu einem Demenzzirkel werden, d. h. ein multiprofessionelles Team mit unterschiedlichen Kompetenzen und Sichtweisen erlebt und versteht „unverständliches“ Verhalten von Menschen mit eingeschränkter Selbstkompetenz in der gemeinsamen Diskussion anders und besser als wenn eine jede Profession dieses soziale Phänomen isoliert betrachten würde. Diese einfache Tatsache eröffnet nicht nur die Möglichkeit zu einem hermeneutischen Verstehen von Menschen mit Demenz, sie gibt Reformpflege auch unterschiedliche Lösungsansätze an die Hand. Denn es gibt nicht nur pflegerische Lösungen für pflegerische Probleme, es gibt auch therapeutische und umgekehrt. Das erweitert den Werkzeugkasten der Reformpflege entscheidend und vermeidet die üblichen pflegerischen Scheuklappen, denn „(w)enn mein einziges Werkzeug ein Hammer ist, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.“ (Abraham Maslow).

5.
Reformpflege als Pflege total ist in der Betreuung von Menschen mit Demenz dann zielführend, wenn es ihr gelingt in der tagtäglichen Dialektik zwischen Autonomie und Heteronomie ein gesundes Mass zu finden. Gesund ist das Mass dann, wenn es die Lebensqualität und Selbstbestimmung des betreuten Menschen befördert, also wenn nur so viel der beschädigten Bewohnerautonomie durch professionelle Heteronomie substituiert und ausgeglichen werden muss wie absolut notwendig. Dieses gesunde Mass auch zu finden, ist Ausdruck reformpflegerischer Professionalität.

6.
Reformpflege ist selbstbewusste Pflege und zwar im eigentlichen Wortsinne: ihrer selbst bewusst. Sie weiss um ihre Aufgaben, deren Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten. Selbstbewusste Pflege muss aber auch bereit sein, ihren eigenen Begriff von Pflege zu verteidigen, sollte sie ihre Anliegen oder das öffentliche Ansehen von Pflege generell verletzt oder bedroht sehen. Sie muss dies allein schon aus Gründen des Selbstschutzes tun, denn Pflege ist ihre Lebensgrundlage. Reformpflege kann auch deshalb mit bereits bestehenden Vorstellungen oder Definitionen von Pflege in Konflikt geraten, vor allem dann, wenn diese Definitionen erkennbar nicht entlang der Notwendigkeiten für eine Verbesserung von Pflege formuliert worden sind sondern anderen Prioritäten folgen. Reformpflege ist dankbar für Ratschläge und Empfehlungen Dritter, sie ist aber in der alltäglichen Arbeit Experte genug, um diese gegebenenfalls auch zu kritisieren, selbstbestimmt andere Wege zu gehen und ihre eigenen Standards zu definieren.

7.
Reformpflege ist professionelle Pflege und somit kommerzielles Denk- und Handwerk. Das auszusprechen ist ein Gebot der Redlichkeit und gilt natürlich nicht nur für Reformpflege exklusiv: Pflege hat immer ihren Wert.

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