Das Piepsen der Matratzen

Florence Nightingale ist ihr nie begegnet: der Dekubitusmatratze. Ein pflegerisches Hilfsmittel, das zur Dekubitusprophylaxe eingesetzt wird. Das heisst, sie soll einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass ein Wundliegegeschwür, das ist ein Dekubitus, bei immobilen bettlägerigen Bewohnern gar nicht erst entsteht. Aus diesem Grund nennt man sie auch Anti-Dekubitusmatratze. Es gibt unterschiedliche Arten dieser Matratzen, die gebräuchlichste dürfte wohl die so genannte Wechseldruckmatratze sein. Ein System bestehend aus einer “Luftmatratze” und einem kleinen Kompressor, welche miteinander durch Luftschläuche verbunden sind. Der Kompressor be- und entlüftet die verschiedenen Kammern der Matratze abwechselnd, be- und entlastet dadurch die aufliegende Haut wechselseitig, verhindert Dauerdruckstellen und vermeidet so die Unterbrechung oder Verschlechterung der Sauerstoffversorgung der betroffenen Hautzellen, was eine der Hauptursachen von Wundliegegeschwüren ist. Die Dekubitusmatratzen sind praxisbewährt, effektiv und deshalb wertvolle Instrumente zur Dekubitusvermeidung. Das heisst, wenn sie denn funktionieren würden. Leider versagen Dekubitusmatratzen aber nach einer gewissen Zeit ihren Dienst. Sie gehen auf Störung, weil die Matratzen undicht werden. Piepsen nervtötend, da die Membrane der Kompressoren ausgeleiert sind oder es geht ihnen einfach die Luft aus aufgrund irgendwelcher Probleme in der Elektronik. Ein Phänomen, das man in allen Pflegeheimen der Republik beobachten kann: Die Qualität der verwendeten Hilfsmittel und nicht nur die der Dekubitusmatratze nimmt kontinuierlich ab. Warum ist das so?

Bevor ein pflegebedürftiger Bewohner eine Dekubitusmatratze auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung erhält, muss diese verordnungsfähig sein. Verordnungsfähig ist eine Dekubitusmatratze erst dann, wenn die gesetzlichen Krankenkassen den therapeutischen Nutzen der Dekubitusmatratze für erwiesen halten. Ist dieser Nutzen erwiesen, kommt die Dekubitusmatratze mit allen anderen erwiesenermassen nützlichen Hilfsmitteln in ein Verzeichnis. Dieses Verzeichnis ist das so genannte “Hilfsmittelsverzeichnis der gesetzlichen Krankenkassen” und heisst Hilfsmittelverzeichnis und nicht Positivliste, weil es Positivlisten in Deutschland aus bestimmten Gründen nicht geben darf. Um nun ein erwiesenermassen nützliches Hilfsmittel erhalten zu dürfen, muss es ärztlich verordnet werden. Und wenn ein solches Hilfsmittel ärztlich verordnet wird, fängt es an, die Krankenversicherung Geld zu kosten. Dekubitusmatratzen können die Krankenkassen verhältnismässig viel Geld kosten: je nach Modell und Qualität bis zu 4.000 Euro. Die Kassen, die gesetzlich zur Wirtschaftlichkeit verpflichtet sind, versuchen daher die Kosten für die Dekubitusmatratzen in den Verhandlungen mit den Lieferanten, den Sanitätshäusern, zu drücken. Die Hersteller der Matratzen verlagern die Herstellung grösstenteils nach Südostasien, um die Rendite zu maximieren. Die Kassen gehen dazu über, die Matratzen, wie auch andere Hilfsmittel, dem Bewohner oder Patienten nur noch leihweise zur Verfügung zu stellen, um sie, wenn sie nicht mehr benötigt werden, desinfiziert und wiederaufbereitet, an den nächsten bedürftigen Versicherten weiterzureichen. Das könnte die Kosten noch mehr drücken, wenn nur die Hersteller nicht ihrerseits versuchen würden, die Lebensdauer der Matratzen zu begrenzen, indem sie noch billigere Komponenten verbauen – kaputte Matratzen kann man nicht mehr verleihen.

Und so piepst es allenthalben in den Pflegeheimen der Republik, telefonieren genervte Pflegende nach dem haustechnischen Dienst, versuchen ebenso genervte Haustechniker undichte Matratzen zu flicken oder aus den Überbleibseln von leihweise ausgelieferten und nicht abgeholten Dekubitusmatratzen ein funktionsfähiges System zusammen zustöpseln, und ahnen wahrscheinlich noch nicht einmal, dass sie lediglich die leidtragenden Zeugen eines wirtschaftlichen Verteilungskampfes sind, dessen vorderste Frontlinie mitten durch das Bett eines pflegebedürftigen Menschen verläuft.

Anfang August, mitten im Sommerloch, die Zeiten waren aus journalistischer Sicht wohl ein wenig trübe, schaffte es eine Meldung an prominente Stellen von Zeitungen, Online Nachrichten und Fernsehsendungen. Die Berliner Zeitung brachte sie am 09.08.2010 als Aufmacher auf der Titelseite. “Pflege wird stärkster Wirtschaftszweig” stand da zu lesen und die staunende Leserschaft wurde im Fortgang des Artikels davon unterrichtet, dass ausgerechnet die Pflegebranche die Automobilindustrie als grössten Arbeitgeber in Deutschland abgelöst hatte. Hintergrund der Nachricht war eine Studie des Wifor-Instituts der Technischen Universität Darmstadt, wonach 2008 in der Pflege 1,12 Millionen Menschen beschäftigt waren, in der Automobilindustrie hingegen “nur” 749.000. Das eigentlich Erstaunliche an dieser Meldung war aber nicht die hohe Zahl der Beschäftigten sondern dass die Meldung – auch und gerade im Bezug auf die Automobilindustrie – ohne viel Aufhebens von der Pflege als Wirtschaftszweig sprach. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich für eine Branche, in der sich viele Leistungserbringer immer noch hinter einer mittlerweile etwas bemüht wirkenden Mildtätigkeit verschanzen, obwohl sie am Monatsende ihre Rechnungen schreiben – wie alle anderen auch. Natürlich ist Pflege ein Wirtschaftszweig, denn wenn es noch nicht einmal den Gemeinnützigen gelingt, ihre Leistungen unentgeltlich anzubieten – ja, sie oft sogar noch mehr nehmen müssen als ihre freie Konkurrenz und das, obwohl der Bau ihrer Einrichtungen nicht selten ganz oder teilweise vom Staat subventioniert wurde, so ist dies für den Rest der Pflege selbstredend völlig unmöglich.

Pflege ist aber nicht nur Wirtschaftszweig, Pflege ist auch Kind dieser Gesellschaft. Und wenn man weiss, dass der Umsatz der Branche im Jahre 2007 insgesamt 27 Milliarden Euro bemaß, so wird es einen nicht sehr verwundern, dass der stärkste Wirtschaftszweig nicht viel anders funktioniert als andere Kinder dieser Gesellschaft, wie beispielsweise die Pharmaindustrie oder die Energiewirtschaft. Branchen, für die Subventionen oder Sozialversicherungsgelder eine massgebliche Rolle spielen und die deshalb auf ein gewisses Wohlwollen der Politik angewiesen sind. Wer auf das Wohlwollen der Politik angewiesen ist, sucht ihre Nähe und sollte in der Lage sein, seine Anliegen stark zu positionieren. Neben dem üblichen Verteilen von mehr oder weniger verantwortungsvollen Posten an aktive und ehemalige Politiker, bedeutet dies, dass das Thema besetzt werden muss. Das Thema heisst Pflege und es wird besetzt durch Argumente. Und so setzt deshalb ein unaufhörliches Geschwätz ein, das davon kündet, was Pflege ist, wie Pflege sein muss, wie man Pflege noch verbessern kann und wie die verbesserte Pflege am besten geprüft werden sollte. Und dieses Geschwätz wird getragen und befeuert von Experten, Sachverständigen, Trägerverbänden, Politikern, Verbraucherschutzorganisationen und Berufsverbänden. Es schallt einem entgegen aus Zeitungen, Online Nachrichten und Talkshows und wird noch verstärkt durch Interviews von Angehörigen, die sich live und im Brustton der ehrlichen Empörung darüber echauffieren, dass ihre Mütter oder Väter im Pflegeheim nun schon seit 5 Wochen in ihrem Dekubitus liegen, schon 5 Monate dehydriert sind und bereits 30 Kg an Gewicht verloren haben. Und das sorgt natürlich für noch mehr Empörung und damit für noch mehr Geschwätz und alle sind so damit beschäftigt, echauffiert zu sein, dass sich keiner fragt, wie denn die interviewten Angehörigen so lange zuschauen können, wenn ihre Mütter und Väter in ihrem Dekubitus liegen, nichts zu Trinken erhalten oder dramatisch an Gewicht verlieren. Aber ab einem gewissen Punkt hilft ohnehin nichts mehr, denn das Geschwätz verdichtet sich zusehends, es wird drängender, fordernder, es wird flankiert durch diskreteres Geschwätz in den Hinterzimmern und erreicht schliesslich sein Ziel: aus dunkel gewordenen Geschwätzwolken lassen die Regierungen endlich die erwünschten Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Vorschriften regnen und diese Gesetze, Verordnungen und Richtlinien schreiben vor, wie Pflege zu sein hat, wie Pflege zu verbessern ist und wie die verbesserte Pflege geprüft werden muss.

Und wenn dieser Regen auf Pflege fällt, schafft er eine Pflege, die sein soll und nicht sein kann, so wie er es schon ein dutzendmal zuvor getan hat und immer wieder wird tun müssen.

Und wenn diese Gesetze Dekubitusmatratzen wären, dann würden sie piepsen.

Und weil es mittlerweile immer mehr Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Vorschriften dieser Art gibt, würden sie alle zusammen piepsen – so laut – , dass es gar nicht mehr zum Aushalten wär’.

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