Eigentlich hatte sich reformpflege fest vorgenommen, zu den so genannten Pflegetransparenzprüfungen zu schweigen. Zur Erinnerung: die Pflegetransparenzprüfung ist die Prüfung, welche die Pflege- und Betreuungsqualität eines jeden Heimes in Deutschland festzustellen hat. Zu diesem Zweck werden die Heime von zwei Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (behördendeutsche Abkürzung: MDK) unangemeldet besucht, die einen bestimmten Prozentsatz der Bewohner anhand vorgegebener Kriterien zu untersuchen haben sowie einen vorgegebenen und vorformulierten Katalog von insgesamt 64 Fragen abarbeiten müssen. Jede Antwort, jedes vorgefundene Untersuchungsergebnis wird mit einer Schulnote von 1 bis 5 bewertet, am Ende wird eine Durchschnittsnote ermittelt, wobei alle Fragen bzw. Einzelnoten im Grunde die gleiche Gewichtung haben. Die Durchschnittsnote wird im Internet veröffentlicht und sollte den zukünftigen Bewohner und seine Angehörigen, die sich mit dem Thema Pflege bis zu dessen notgedrungener, plötzlicher Aktualität noch nicht auseinandergesetzt hatten, durch ihre Einfachheit und Prägnanz in die Lage versetzen, die in Frage kommenden Pflegeheime zu vergleichen, um das beste und das geeigneste unter ihnen auszuwählen. Den betroffenen Heimen verbleibt nach Veröffentlichung die Möglichkeit, die Note an gleicher Stelle im Internet zu kommentieren sowie eine kurzfristige Nachprüfung zu beantragen, sollte das Ergebnis zu schlecht und somit ein Nachteil im Wettbewerb sein. Das ist – auf den ersten Blick – für alle Beteiligten ein faires und einfaches Verfahren, das nicht zuletzt das Ziel verfolgt, das allgemeine Niveau der Pflegequalität im Land zu heben.
reformpflege hat zu den so genannten Pflegetransparenzprüfungen bisher geschwiegen im Vertrauen darauf, dass ein Prüfsystem, welches lediglich Mindeststandards prüft und neben anderen methodischen Mängeln hierbei harte und weiche Prüfkriterien gleichermaßen gewichtet, also den positiven Ausgleich schlechter Noten wegen grober Pflegefehler oder unterlassener Betreuung durch gute Noten in weniger relevanten Bereichen befördert, sich eigentlich nur selbst diskreditieren kann. In Baden-Württemberg ist diese Diskreditierung dann auch am gründlichsten gelungen, der Landesdurchschnitt beläuft sich derzeit auf die fabelhafte Note 1,2 und es ist nicht zu erwarten, dass sich diese noch verschlechtert, da der MDK den Südwesten zur Zeit mit einer 1,0 nach der anderen überzieht, weil die Fragen schon vor den Prüfungen bekannt waren, die baden-württembergischen Durchführungskriterien im ersten halben Jahr nach Beginn der Prüfungen am 01.07.2009 in der Branche schnell bekannt wurden und somit die so genannte Pflegetransparenzprüfung seit Beginn 2010 eigentlich nicht mehr viel mehr ist als ein Idiotentest der noch zu prüfenden Heim- und Pflegedienstleitungen, ob sie auch in der Lage waren, ihre Einrichtung und Mitarbeiter auf die zu erwartenden und inzwischen sattsam bekannten Fragen ausreichend vorzubereiten. Und damit nicht genug, wird durch den “Beirat zur Evaluation der Pflege-Transparenzvereinbarungen” auf Bundesebene, ein Gremium zusammengesetzt aus Vertretern der Trägerverbände, Pflegekassen, Politik, Verbraucherschutzorganisationen etc., natürlich auch eine “Wissenschaftliche Evaluation der Pflegetransparenzprüfung” in Auftrag gegeben, die auf über 300 Seiten zu keinem anderen Ergebnis kommt, als dass sie zu keinem fundierten Ergebnis kommen kann, da sie nur über die Daten verfügt, welche vom MDK zur Verfügung gestellt worden sind und die so kein fundiertes Urteil über Reliabilität, Validität und Objektivität der Transparenzprüfung erlauben, weil ein fundiertes Urteil nämlich mindestens voraussetzen müsste, dass man die durch den MDK erhobene Pflegequalität mit der tatsächlichen vergleicht, was aber leider nicht Bestandteil des erteilten Evaluierungsauftrages war. Da vermag es den Beirat wohl kaum zu trösten, dass die Verfasserinnen der Evaluation eine ganze Reihe von Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Pflegetransparenzprüfung geben, die in ihrer Summe so umfänglich sind, dass man die bisherige Pflegetransparenzprüfung am besten gleich in ihrer Gänze verwirft und wieder bei Null anfängt, wenn man denn “…an einer konstruktiven Entwicklung der Pflegetransparenzkriterien interessiert (ist)…” und dieser “…Prozess offen und nach wissenschaftlichen Kriterien und Gesichtspunkten begleitet wird.” (Hasseler, Wolf-Ostermann 2010: 265), woran frau aber offensichtlich leise Zweifel hegt.
Darüber könnte man nun schmunzeln, das könnte man eine Farce nennen, wenn – ja wenn – diese Art der Transparenzprüfung nicht auch fatale Folgen zeitigen würde. Denn ein Landesnotendurchschnitt von 1,2 suggeriert den eigentlichen Adressaten, den angehenden Bewohnern und deren Angehörigen, es sei alles in bester Ordnung, die Pflegequalität im Lande sei “sehr gut” und wird sich von Heim zu Heim nur in Nuancen unterscheiden. Das wurde verkündet auf den Webseiten der Kranken- und Pflegekassen, in den Pressemitteilungen des Medizinischen Dienstes, der Trägerverbände und des Sozialministeriums. Das, was die angehenden Bewohner und deren Angehörige, die sich mit dem Thema Pflege ja bis zu dessen notgedrungener Aktualität noch nicht auseinandergesetzt haben, nicht wissen, ist, dass wie so oft auch bei den so genannten Pflegetransparenzprüfungen der Teufel im Detail steckt. Sie wissen in den meisten Fällen nicht, was eine “Dekubitusprophylaxe” ist, haben nur ein sehr unvollständiges Verständnis bezüglich “behandlungspflegerischer Massnahmen” und haben den Begriff “Kontrakturrisiko” wohl noch nie zuvor in ihrem Leben gehört. Deshalb wissen sie auch nicht, welche Gefahren sich hinter bestimmten schlechten Einzelnoten verbergen können. Und eigentlich müssen sie das auch nicht wissen, denn schliesslich und endlich wurden die in Frage kommenden Heime durch Fachleute überprüft, die ganz genau wissen müssen, wie “sehr gute” Pflege aussieht, weil sie ja den ganzen Tag nichts anderes machen, als “sehr gute” Pflegeheime zu überprüfen und so jenen eine Art Lotsenfunktion garantieren, die ihrerseits nicht so genau wissen können, wie sehr gute Pflege aussehen sollte.
Nun kann “sehr gute” Pflege im Land leider auch so aussehen:

Ein Dekubitus oder auch Dekubitalgeschwür, lateinisch für Wundliegegeschwür, verursacht durch unterlassene Prophylaxe, das ist u. a. die vorbeugende Umlagerung von immobilen Menschen zur Vermeidung von Druckstellen der Haut.
Wahrscheinlich war man im baden-württembergischen Oberkommando der Pflege zunächst beglückt über die Flut der Eins-Kommas im Land. Mit zunehmenden Fortgang der so genannten Pflegetransparenzprüfung hat man aber wohl erkannt, dass sich im Gefolge der Eins-Kommas der ohne Zweifel sehr guten Pflegeeinrichtungen im Südwesten auch eine zunehmende Anzahl von Eins-Kommas mit kleinen hässlichen Details befand, deren Risikopotential von potentiellen Kunden und deren Angehörigen aufgrund der blendenden Gesamtnote nicht ohne weiteres identifiziert werden konnte. Im Juli 2010, ein Jahr nach Beginn der Prüfungen, entschloss man sich offensichtlich die Notbremse zu ziehen und veröffentlichte als bisher einziges Bundesland eine “Lesehilfe für die Transparenzberichte von Pflegeheimen”. Diese Lesehilfe, herausgegeben vom Gesundheitsforum Baden-Württemberg und formuliert von Vertretern des MDK sowie des Verbandes der Ersatzkassen, “…richtet sich an Menschen in Baden-Württemberg, die für sich oder für ihre pflegebedürftigen Angehörigen in absehbarer Zeit ein Pflegeheim suchen (…) Auch wenn die Pflegeheime in Baden-Württemberg im Bundesdurchschnitt die besten Noten erhalten haben, macht dies die Auswahl eines Pflegeheims in Baden-Württemberg nicht unbedingt einfacher. (…) Wie finden Sie für sich selbst bzw. für Ihre Angehörigen das geeignete Pflegeheim? Anders gefragt, werden die Bewohner in allen Pflegeheimen, die dieselbe Note erhalten haben, gleich gut gepflegt? Die letzte Frage muss mit “Nein” beantwortet werden. Die wissenschaftliche Analyse der Noten hat gezeigt, dass Pflegeheime auch dann sehr gute Gesamt- und Bereichsnoten erhalten können, wenn einzelne Transparenzfragen mit “mangelhaft”, also der Note 5, beantwortet werden.” Im Folgenden identifiziert die Lesehilfe 11 Fragen unter den insgesamt 64 Fragen der Pflegetransparenzprüfung, die als besonders aussagefähig definiert werden. Es handelt sich hierbei um 11 Fragen aus dem Bereich Pflege und medizinische Versorgung, die allesamt zweifelsohne gewichtige Faktoren zur Ermittlung pflegerischer Qualität darstellen. Die Lesehilfe empfiehlt die Auswahl des richtigen Pflegeheims explizit anhand dieser 11 Transparenzfragen vorzunehmen und erklärt hierzu:
“Es wäre gut, wenn bei jeder der hier aufgeführten 11 Transparenzfragen der Notendurchschnitt bei 2,0 und besser liegen würde.”
Damit verabschiedet sich der MDK Baden-Württemberg faktisch von der Pflegetransparenzprüfung erster Ordnung, wenn auch nur auf einer Beerdigung zweiter Klasse. Der Anspruch, den Verbrauchern mit nur einer einzigen Schulnote ein eindeutiges und mit dem vertrauensbildenden MDK-Prüfsiegel versehenes Auswahlkriterium an die Hand zu geben, wird fallengelassen. Die Pflegetransparenzprüfungen gehen währenddessen voll umfänglich und munter weiter, obwohl man die Untauglichkeit ihrer Ergebnisse längst eingestanden hat. Warum eigentlich? Um sich weiterhin in dem Glorienschein des bundesweit besten Landesdurchschnitts zu sonnen?
reformpflege hat zu den so genannten Pflegetransparenzprüfungen bisher auch deshalb geschwiegen, weil reformpflege kein weiterer Nörgelblog sein soll, der bereits veröffentlichte Meinung pseudokritisch nachverdaut. Zu einer Pflegetransparenzprüfung aber, die unsere schlimmsten Befürchtungen noch überbietet, darf reformpflege nicht schweigen. Wer sich hinstellt und den Verbrauchern lauthals geprüfte Transparenz verspricht, übernimmt Verantwortung. Was wollen sie denn jetzt Menschen sagen, die sich auch im Vertrauen auf eine Schulnote einen Dekubitus eingehandelt haben? Vielleicht: Tut uns leid, aber wir evaluieren noch?
Es sind aber nicht nur die Verbraucher, die grösstmöglichen Schaden nehmen können. Es ist auch die Pflege, die ganz sicher Schaden genommen hat. Die vielen wirklich sehr guten Einrichtungen im Südwesten, die man von den weniger guten, die es leider immer noch gibt, nicht mehr unterscheiden kann, weil der MDK so ziemlich alle für “sehr gut” erklärt hat.
Und das Beste ist, die weniger Guten glauben das sogar noch…
Nach upload verreist – oz.
Hallo,
Ihnen scheint ein kleiner Fehler unterlaufen zu sein. Bei stationären Einrichtungen setzt sich meines Wissens die Gesamtnote des “Pflege-TÜV” aus 64 Einzelkriterien zusammen; 18 Fragen sind direkt an Bewohner / Kunden gerichtet und gehen nicht in die Gesamtnote ein. Bitte überprüfen Sie Ihren Eintrag diesbezüglich.
da haben Sie natürlich recht. vielen dank für den hinweis. zwischenzeitlich wurde der text geändert. am sachverhalt ändert sich freilich nichts. oz
Neuer Aufschwung mit “KV Initiative Pflegeheim”…
Erstmals haben sich alle 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) zusammengetan und die “KV Initiative Pflegeheim” gegründet. Nach dem Vorbild des Projekts “Die Pflege mit dem Plus” in Berlin soll diese eine fachü…
[...] – wenn, ja wenn nur das Ergebnis der Pflegetransparenzprüfung in Baden-Württemberg – wie schon mehrfach an gleicher Stelle zu lesen war – nicht ein wenig verwässert wäre, da man der Einfachheit halber gleich alle Pflegeheime [...]