Gespenster

Ambulante Pflege allein kann keine rund-um-die-Uhr-Betreuung von Menschen mit Demenz dauerhaft bereitstellen, das ist schon aus Kostengründen nicht möglich bzw. für die meisten Familien unbezahlbar. Ambulante Pflege kann aber Familien unterstützen, die sich selbst eine Betreuung organisieren, indem sie die Betreuungspersonen fachlich anweist, pflegerisch unterstützt und ihnen die Möglichkeit zu Auszeiten und Ruhepausen gibt. Das Betreuungsgeld für Menschen mit Demenz der Pflegekassen, das bis zu 2.400 Euro im Jahr beträgt, und die 50prozentige Erhöhung der Pflegesachleistung für die Tagespflege, sind in diesem Zusammenhang hilfreiche Instrumente.

Jeder ambulante Pflegedienst in Deutschland kennt aber auch das folgende Phänomen. Menschen mit Demenz eingeschlossen in ihrem eigenen Haushalt und das nicht nur für einige wenige Stunden sondern den ganzen Tag über, nicht selten ist der Pflegedienst der einzige regelmässige soziale Kontakt. Der Gas- oder Elektroherd abgeklemmt, die Türgriffe an der Balkon- oder Terrassentür abmontiert, Kekse und Sprudel auf dem Küchentisch. Der Pflegedienst kommt ein- bis viermal am Tag für einige Minuten, öffnet mit einem Schlüssel die Haus- oder Wohnungstür: Medikamentengabe, Leistungsgruppe 1, 8 Euro 59, schönen Tag noch, Schlüssel im Schloss – Auf Wiedersehen.

Im Behördendeutsch nennt man so etwas eine freiheitsentziehende Massnahme. Das Einschliessen eines Menschen, der aufgrund seiner Demenz eigengefährdet ist und vor sich selbst geschützt, sprich: eingeschlossen werden muss. Freiheitsentziehende Massnahmen (behördendeutsche Abkürzung: FEM) findet man auch im stationären Pflegebereich, hier dienen sie beispielsweise in Form des Bauchgurtes oder des Bettgitters in erster Linie der Sturzprävention. FEM im stationären Bereich unterliegen strengen Kriterien. Sie müssen erforderlich und verhältnismässig sein. Sie müssen ärztlich attestiert, betreuerlich befürwortet und beantragt, amtsrichterlich begutachtet und genehmigt werden. Sind sie das nicht, so erfüllen sie den Straftatbestand der Freiheitsentziehung. Anders verhält es sich in der ambulanten Pflege. Zumindest in Baden-Württemberg agieren die Amtsgerichte hier uneinheitlich. Werden Menschen mit Demenz von den nächsten Familienangehörigen eingeschlossen, bedürfen diese familiären FEM in der Regel keiner amtsrichterlichen Genehmigung, wird der Verschluss hingegen von familienfremden Personen auf Weisung der Angehörigen vorgenommen, bestehen einige aber nicht alle Amtsgerichte auf das selbe Genehmigungsverfahren wie im stationären Pflegebereich.

Ob richterlich genehmigt oder nicht, jeden Tag fallen in Deutschland unzählige Türen ins Schloss, schliessen ambulant Pflegende Menschen mit Demenz weg.

Es ist in diesem Zusammenhang nicht besonders sinnvoll über die Beweggründe von Angehörigen zu spekulieren, welche den Verschluss ihrer Mütter, Väter oder anderer Anverwandten veranlassen. Diese können Unvermögen, Hilflosigkeit, finanzielle Not oder einfach nur Skrupellosigkeit sein. Bestürzend ist vielmehr die Selbstverständlichkeit mit der Amtsgerichte, Pflegedienste und auch Nachbarschaften mit diesem Phänomen umgehen. Gerichte erklären sich für zuständig oder nicht, erteilen Genehmigungen oder nicht, Pflegedienste schliessen auf und zu, ganze Nachbarschaften schauen weg, wenn der Mensch, den sie seit Jahren kennen, plötzlich einfach nicht mehr stattfindet, sich bestenfalls ab und zu wie ein Gespenst am Fenster zeigt und stundenlang unverwandt auf den Verkehr starrt. Man stelle sich dagegen den Aufschrei vor, wenn eine Mutter für ihr ähnlich hilfsbedürftiges Kind von beispielsweise 2 Jahren eine FEM beim zuständigen Amtsgericht beantragen würde, damit dieses von einem Pflegedienst tagsüber unter Verschluss gehalten werden kann. Mit grosser Wahrscheinlichkeit würde das Amtsgericht das Jugendamt informieren, der Pflegedienst entrüstet die Arbeit verweigern und die Nachbarschaft aufgrund grösstmöglicher Empörung schon hyperventilieren. Offensichtlich wird soziale Verwahrlosung gesellschaftlich unterschiedlich gewichtet. Ein verwahrlostes Kind ist nicht hinnehmbar, ein verwahrloster alter Mensch mit Demenz aber schon. Bestenfalls hört man von den legitimierenden und ausführenden Organen leise Zweifel: “Schön sei das zwar nicht. Sozusagen ein heisses Eisen, eine rechtliche Grauzone. Aber man müsse auch die Notlage der Familien verstehen, das ist eine grosse Belastung. Ausserdem kann man da ohnehin nichts mehr machen.”

Diese Sätze offenbaren eine bestimmte Haltung gegenüber Demenz, sie verschieben die menschliche Anteilnahme merklich von den Erkrankten auf die Belasteten, sie sprechen Menschen mit Demenz das Recht auf menschliche Gesellschaft und zwischenmenschliche Solidarität ab und indem sie das tun, entkernen sie diese Menschen sozial. Übrig bleibt so lediglich eine Demenz auf zwei Beinen, eine leere Krankheitshülle – da kann man sowieso nichts mehr machen.

Wie ganz nebenbei beinhaltet diese Haltung aber auch eine versteckte Geringschätzung der Pflege, denn irgendjemand muss diese Demenzen ja abwickeln und ein Mindestmaß an möglichst kostengünstiger Versorgungsstruktur aufrechterhalten. Es ist die ambulante Pflege, die in eine Situation geschickt wird, der sie gar nicht gerecht werden kann, da sie gar keinen anderen Auftrag hat, als die allgemeine Gleichgültigkeit an Menschen zu vollstrecken, die sich ohnehin nicht mehr wehren können.

In diesem Sinne ist die beschriebene Situation ein Lehrstück über eine Gesellschaft, die ihre Pflege mehr und mehr moralisch korrumpiert und sich dann tatsächlich auch noch empört wundert, warum sie immer wieder die gleichen Eklats und Skandale produziert.

Letztendlich muss jeder ambulante Pflegedienst entscheiden, ob er sich in diese konkrete Pflegesituation zwingen lassen soll. Es sind nämlich nicht ausschliesslich die Umstände, die schlechte Pflege bedingen. Man kann ein solches Kundenmandat auch ablehnen.

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