demode ist kein Automatismus, der einfach funktioniert, wenn man/frau nur jeden Morgen den richtigen Knopf drückt. Viele Pflegende, insbesondere Pflegefachkräfte aus der Gesundheits- und Krankenpflege, haben in ihrer Ausbildung kaum Kenntnis über den Umgang mit Demenz erlangt. Auch in den aktuellen Lehrplänen der Altenpflege ist dieses Thema gemessen an seiner immensen Bedeutung deutlich unterrepräsentiert. Das ist Folge der einseitig somatischen Ausrichtung vor allem des altenpflegerischen Berufsbegriffes und macht die Sensibilisierung für dieses Thema dringend notwendig.
Ein Instrument der Sensibilisierung, neben internen und externen Fortbildungen, sind Demenzzirkel, Fallbesprechungen während der täglichen Übergabe, an denen Pflege, Therapie und Sozialdienst gleichberechtigt teilnehmen. Die Übergabe dient nicht nur der Informationsweitergabe sondern bei aktuellem Bedarf auch und gerade der Problemlösung: Warum pinkelt der mobile und schwer demente Herr U. jede Nacht neben das Bett? Eine an und für sich einfach Frage. Dennoch ist die folgende pflegerische Eskalation leider nicht ganz abwegig: Herr U. pinkelt neben das Bett und bekommt am nächsten Abend ein Inkontinenzsystem. Herr U. zerpflückt daraufhin die Windel und pinkelt wieder neben das Bett. Damit Herr U. die Windel nicht mehr zerpflücken kann, wird er in einen Pilotenanzug gesteckt, den er entweder erstaunlich geschickt zu öffnen oder brachial zu zerstören versteht, so dass er wieder neben das Bett pinkelt. Über die dann folgenden pflegerischen Eskalationsstufen zur Lösung des delinquenten und zu unterbindenden Neben-das-Bett-Pinkelns soll an dieser Stelle besser nicht spekuliert werden. Warum pinkelt Herr U. neben das Bett? Weil er in seiner Demenz nicht mehr weiss, wohin mit dem Rest der expertenstandardgemäss einverleibten Flüssigkeitsmenge von 2000 ml. Er verspürt einen Harndrang, den er nicht mehr in sozial erwünschter Weise zu entsorgen vermag, da er schlicht und einfach vergessen hat, was eine Toilette ist. Das muss quälend sein für den Herrn U., nachts aufzuwachen mit starkem Harndrang und dem ebenso dringenden Bedürfnis, seinen Urin eben nicht im Bett zu lassen. Es muss quälend sein, sich zur Befriedigung dieses Bedürfnisses erst durch die Windel und später durch Windel und Pilotanzug hindurch wühlen zu müssen. Und das jede Nacht! – Jede Nacht? Der Demenzzirkel sucht unter anderem nach Regelmäßigkeiten im Verhalten von Menschen mit Demenz. Die Blase des Herrn U. ist nämlich nicht dement, sie füllt sich relativ regelmäßig mit den Resten der regelmäßig und vorschriftsgemäß eingenommenen Flüssigkeit. Vielleicht wäre dem Herr U. also schon geholfen, wenn die Nachtwache feststellen könnte, zu welcher Uhrzeit ungefähr der Herr U. neben das Bett pinkelt, um ihn zukünftig rechtzeitig zu wecken und regelmäßig auf die Toilette zu führen.
Regelmäßig nach dem Nachmittagskaffee wird die schwäbische Bewohnerin Frau B., eine ehemalige Hausfrau, schaffig (schwäbisch für arbeitsam, fleissig, unruhig), irgendetwas scheint in ihr den Impuls für rege Betriebsamkeit auszulösen. Allerdings weiss sie aufgrund ihrer Demenz nicht, wie sie diesen Impuls sinnvoll verwerten soll. Sie hat zwar das Gefühl, dringend etwas erledigen zu müssen, weiss aber nicht mehr was. Also greift sie sich ihren Rollator, läuft bruddelnd (schwäbisch für schimpfend) los und lässt sich nicht beruhigen, bis sie endlich leidlich erschöpft wieder auf den Stuhl sinkt. Was war der Auslöser, der Trigger, für dieses Verhalten? Aufgrund der Regelmäßigkeit ist zu vermuten, dass die Tasse Kaffee der Auslöser für die plötzliche Betriebsamkeit von Frau B. ist. Und zwar nicht das Koffein sondern die Handlung als solche, das Kaffeetrinken an sich. Wahrscheinlich ist dieses Verhalten, die unruhige Betriebsamkeit, der Überrest eines Rituals, das in den langjährigen Arbeitsalltag der Hausfrau täglich eingeflochten war: “Jetzt noch in Ruhe eine Tasse Kaffee, dann fange ich an, erst die Küche und danach die Bügelwäsche.” Die Unruhe wäre demnach die Reaktion auf die empfundenen Reize des “Kaffeetrinkens”: der Geruch, der Geschmack, der Wärmeeindruck an der Hand und auf der Zunge versetzen Frau B. in die Verfassung bzw. Kondition, ihrem Tagwerk nachgehen zu wollen – so wie früher. Das Tagwerk aber gibt es nicht mehr, noch die Erinnerung daran. Das irritiert Frau B. zusätzlich und zwingt sie, den erhaltenen Impuls auf andere Weise abzuarbeiten. Wenn Pflege und Therapie das wissen, sind sie auf das Verhalten von Frau B. vorbereitet und können es im Idealfall beruhigend auffangen, indem sie beispielsweise ein wenig leichte Hausarbeit anbieten: Wäsche falten, Tische putzen oder die Vorbereitung des Abendessens.
Ein Demenzzirkel, der sich aus verschiedenen Professionen zusammensetzt, hat bessere Chancen, das Verhalten von Menschen mit Demenz pflegerisch und therapeutisch sinnvoll zu deuten, da er auf einen wesentlich grösseren Erfahrungsschatz und Wissenspool zugreifen kann.
Mitarbeiter berichten während des Zirkels auffällige Änderungen im Verhalten der Bewohner und innerhalb der Gruppen. Gemeinsam wird nach einem Muster im Verhalten gesucht, das sich zu einer Erklärung anbieten würde. Bei Bedarf werden biographische Informationen von den Angehörigen eingeholt, Lösungsansätze werden erarbeitet, bei der nächsten Übergabe evaluiert und gegebenenfalls wieder überarbeitet. Das funktioniert nicht immer mit dem gewünschten Erfolg, trägt aber entscheidend zu einer Sensibilisierung aller Mitarbeiter bei.
Der zeitliche Aufwand der Zirkel bleibt überschaubar. Die Übergaben dauern 30 Minuten und können bei Bedarf auf 45 Minuten verlängert werden.