Pflege total

Pflegeheime werden oft als totale Institutionen charakterisiert. Der Begriff der “totalen Institution” geht zurück auf den amerikanischen Soziologen Erving Goffman und ist negativ konnotiert. Er beschreibt Einrichtungen wie beispielsweise Gefängnisse, Kasernen oder Klöster, welche die Lebensäusserungen ihrer Mitglieder allumfassend und somit total reglementieren und kontrollieren. In diesem Sinne handelt es sich bei einem Pflegeheim selbstverständlich um eine totale Institution. Man vergegenwärtige sich nur die vielen tausend Dokumentationsblätter, die jeden Tag für alle Heimbewohner in Deutschland angelegt, ausgefüllt und abgeheftet werden und die neben den Vitalzeichen u. a. auch die Menge der von jedem einzelnen Bewohnern täglich zu sich genommenem Kalorien, der getrunkenen Flüssigkeit und die Art der eingenommenen Medikamente ausweisen sollten. Man denke an die Pflegeplanungen, die für einen jeden Bewohner erstellt, überprüft und erneuert werden und die den weiteren Umgang mit ihm, seinem Körper, seiner Versehrtheit schriftlich kodieren und für alle ausführenden Organe der Institution – sprich: den Mitarbeitern – verbindlich vorschreiben. Natürlich wird in Pflegeheimen reglementiert und kontrolliert. Ist ja schliesslich Vorschrift und wird wiederum reglementiert und kontrolliert von Gesetzen, Verordnungen, Heimaufsicht und dem Medizinischem Dienst. Ein Pflegeheim ist eine totale Institution, es ist nicht total wegen seiner Mauern, Betten und Türen. Es ist total, weil sich innerhalb seiner Mauern eine soziale Organisation etabliert hat, die anhand extern und intern vorgeschriebener Verfahrensanweisungen Pflegebedürftigkeit verarbeitet. Diese Verfahrensanweisungen sind deshalb auch das eigentliche Betriebssystem einer Pflegeeinrichtung. Ein Konvolut an rechtlichen Regelungen und Dienstanweisungen, die jeden Tag aufs Neue die totale Institution Pflegeheim konstruieren.

Eine Einrichtung, die mit der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz betraut ist, braucht Totalität als notwendige wie auch hinreichende Bedingung zur Bewältigung dieser Aufgabe. Das bedeutet aber nicht, dass sich ein jedes Betriebssystem zur Bewältigung dieser Aufgabe eignet, wenn es nur totalitär genug ist. Menschen mit Demenz sind Menschen, deren Selbstkompetenz sich mehr und mehr zersetzt. Das totale Pflegeheim hat diesen Menschen einen Ersatz für den bereits verlorenen Anteil ihrer Selbstkompetenz anzubieten, eine therapeutisch vorbereitete Lebenswelt, in welcher diese versehrte Selbstkompetenz angenommen und aufgehoben werden kann. Die Möglichkeit zu dieser Lebenswelt lässt sich aber nicht in irgendein Betriebssystem integrieren, es muss vielmehr im Innersten des Betriebssystems bereits angelegt sein. Wenn das Betriebssystem die totale Institution Pflegeheim konstruiert, hat es neben den vielen gesetzlichen Regelungen und Dienstanweisungen auch die Möglichkeit zur Entfaltung von vielen individuellen Lebenswelten mit hineinzuschreiben. Auf seinen Kern reduziert, beschreibt diese Möglichkeit nichts anderes als das Bemühen um einen gesunden Ausgleich zwischen der Autonomie des Bewohners (hier: Selbstkompetenz) und der Heteronomie (hier: Professionelle Kompetenz) durch das Pflegeheim. Wenn es dem Pflegeheim gelingt, dieses Verhältnis so in Balance zu halten, das es dem Bewohner ein grösstmögliches Maß an Geborgenheit, Sicherheit und Lebensqualität vermittelt, hat die totale Institution ihre Aufgabe erfüllt. Hierzu ist es aber notwendig, dieses Verhältnis immer wieder zu untersuchen und gegebenenfalls neu zu bestimmen. Das ist auch Merkmal professioneller Kompetenz.

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