Morbus Hysterie VI

Es gibt Argumente, die werden auch durch ihre stetige Wiederholung einfach nicht besser, so wie die Kategorisierung der verschiedenen Pandemiebekämpungsstrategien, welche die Kanzlerin bereits bei einer Pressekonferenz im April diesen Jahres, welcher jedem hier im Haus noch sehr gut im Gedächtnis ist, in zwei Schulen einteilte, jene, die alles unternehmen würde, um die Infektionszahlen wieder zu senken, und die andere, die sich darin erschöpfe, gefährdete Gruppen schlicht „wegzusperren“. Vor wenigen Tagen wiederholte Merkel dieses Argument noch einmal und präzisierte zudem, Menschen aus den Risikogruppen könne man nicht wegsperren, nur damit „wir unseren Einkaufsbummel machen können.“ Dieses Argument in seiner merkeltypischen Schlichtheit ist – mit Verlaub – eine Frechheit, denn es unterstellt den Verfechtern eines konsequenteren Schutzes von Risikogruppen eine rein hedonistische Motivation, die „Störendes“ wie hochbetagte Senioren oder Menschen mit spezifischen Vorerkrankungen in die Isolation wegschliessen will, um sorgenfrei daselbst ein Leben wie vor Corona leben zu können, gänzlich ungestört von lästigen Todeszahlen oder nervenden Meldungen über belegte Intensivbetten. In dieser argumentativen Gegenüberstellung von „Wegsperren“ und „Einkaufsbummel“ steckt somit eine durchaus kalkulierte Böswilligkeit, da sie sich nicht sachlich mit den Argumenten der Cocooning-Befürworter auseinandersetzt, die schon seit Beginn der Krise im Frühjahr einen besseren Schutz der vulnerablen Bevölkerungsgruppen fordern, anstatt immer nur planlos von einem Lockdown in den nächsten zu stolpern, sondern unterstellt schlicht niedere Beweggründe. Wer so argumentiert wie Merkel, der will nicht überzeugen, der will diskreditieren, und dem geht es letztlich sehr wahrscheinlich auch weniger um die Diskussion sachorientierter Lösungsansätze als vielmehr um die Mobilisierung entscheidender Prozente in den wahlentscheidenden Wählerschichten der älteren Bevölkerungsgruppen, die sich von Merkel vor kaltherzigen und egoistischen Hedonisten geschützt fühlen sollen, was sich dann auch prompt in Umfragewerten niederschlägt. Die Diskreditierung des Cocooning-Befürworters ist nichts anderes als die Instrumentalisierung der Corona-Krise für den eigenen politischen Vorteil. Das grosse Besteck, der Lockdown, bietet eben mehr Raum, um publicity- und prozenteträchtig den starken Maxe markieren zu können, der einem Teil des verängstigten Wahlvolks immer noch hoch Willkommen ist, als vor Ort in einem Pflegeheim seuchenhygienische Kärrnerarbeit zu leisten. Derweil ich dies schreibe, häufen sich die Nachrichten über corona-infizierte Pflegeeinrichtungen wieder, die Todeszahlen steigen und mal heisst es, 50%, dann wieder bis zu 90% der mit oder an Corona Verstorbenen seien Pflegeheimbewohner gewesen. Offensichtlich hat Merkels favorisierte Wegsperrung-Verhinderungs-Strategie, die Senkung der Infektionszahlen mittels Lockdown, nur einen sehr indirekten oder mittelbaren Einfluss auf die Infektionszahlen in den Pflegeeinrichtungen, in dem Sinne, dass die Infektionszahlen in den Pflegeeinrichtungen dann steigen oder sinken, wenn sie eben gesamtgesellschaftlich steigen oder sinken – ansonsten ist Polen leider offen. Diese Erkenntnis ist aber nicht neu, schon im Frühjahr während der ersten Welle gelang es nicht, die gesamtgesellschaftliche Infektionsrate von der Infektionsrate in den Pflegeheimen zu entkoppeln. Zwischen der ersten Welle und der aktuellen zweiten liegen jedoch Monate, während denen sich zwar Entscheidendes verbesserte – endlich stehen anders wie bei der ersten Welle Schutzausrüstungen wie Atemschutzmasken und Antigen-Schnelltests in ausreichender Menge zur Verfügung – aber dennoch gelang es wieder nicht, die gesamtgesellschaftliche Infektionsrate von jener in den Heimen zu entkoppeln. Polen war – wenn man so will – erneut offen. Dass das so ist, lässt sich nicht ausschliesslich damit erklären, dass Pflegeheime anders wie Kliniken das Infektionsrisiko nicht minimieren können, indem sie leere Betten einfach nicht belegen, weil Operationen verschoben, Pflegekräfte in die Kurzarbeit geschickt werden können und man sich ansonsten unter den staatlichen Rettungsschirm stellt. Es stimmt schon, die Pflege in den Pflegeheimen, den ambulanten Pflegediensten, die „eigentliche Pflege“, die nicht wie die klinische Pflege allein die medizinische Behandlung unterstützt, sondern vielmehr ihre Bewohner und ambulanten Kunden bei der Bewältigung ihres Alltags zu unterstützen hat, und das in der Regel bis zu deren Tod, kann nicht einfach weichen, sie hat ihre Stellung unter allen Umständen zu halten, auch wenn gerade das sie verletzlich macht. Im März aber war Pflege noch viel verletzlicher, ohne ausreichende Schutzausrüstungen entschied oft Glück oder Pech über das Zustandekommen einer Infektion, jetzt aber sollte man doch eigentlich besser aufgestellt sein, dennoch sind die Infektionszahlen in den Einrichtungen wieder erschreckend hoch. Und dafür gibt es eine Reihe von Gründen.

Zum einen gab es nach dem Abklingen der ersten Welle wohl so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft oder Meinung, wonach es schon zu keiner zweiten Welle kommen werde. Schliesslich waren die Infektionszahlen den Sommer über äusserst gering und zudem verfügte man jetzt über ausreichend Schutzausrüstungen. Woher sollte also diese zweite Welle kommen, wenn man sich doch jetzt effektiv schützen kann? Auch der Autor dieser Zeilen war dieser Meinung. Und auch wir diskutierten einrichtungsintern, ob wir unsere Schutzmassnahmen lockern sollten. Schliesslich steckte der Pflegedienst seit April hinter FFP-2 Masken, alle anderen Mitarbeiter als auch die Bewohner hinter MNS. Wir wissen heute, dass es anders kam als wir noch im Sommer vermuteten. Ob es an einer allgemeinen Pandemie-Müdigkeit lag oder an der grösseren Infektionsanfälligkeit menschlicher Schleimhäute im Winter, es baute sich eine zweite Welle auf, die um einiges gewaltiger war als die erste. Wir taten also gut daran, unsere Schutzmassnahmen aufrechtzuerhalten, anders als die Politik, welche die Wochen und Monate im Sommer verstreichen liess, ohne einen Plan B zu entwickeln. Hatte man vor der ersten Welle keinerlei Lehren aus dem Jahre zuvor verfassten Pandemieplan gezogen, zog man jetzt keinerlei Lehren aus den Erkenntnissen der ersten Welle, zu denen auch die erwiesene Anfälligkeit der Pflegeeinrichtungen hätte gehören müssen. Man hoffte, aber man tat diesbezüglich wenig. Eine weitere Erkenntnis aus den Ereignissen der ersten Welle war die erwiesene Effektivität der FFP-2. Sie ist nach Lage der Dinge die wichtigste Schutzausrüstung für Pflegekräfte, da sie Bewohner und ambulante Kunden wirksam vor infizierten Mitarbeitern schützt. Damit ist diese Maske eigentlich alternativlos für Pflege, die mehrmals täglich in die gefährliche Nahdistanz zu mehreren Bewohnern oder Patienten gehen muss. Dennoch gab es keinerlei Empfehlung oder Verordnung seitens der Politik oder des RKI ausschliesslich diese Maske in der Pflege einzusetzen. Erst als die Infektionen in den Pflegeeinrichtungen wieder bedrohlich zunahmen, erreichte alle Pflegeheime in unserem Landkreis eine sogenannte „Allgemeinverfügung“ des Landratsamtes, wonach in der Pflege bei körpernahen Tätigkeiten eine FFP-2 verpflichtend ist. Die kommunale Behörde setzte sich gewissermassen über die schweigende „Nichtempfehlung“ dieser Massnahme seitens des Landes und auch des Bundes hinweg. Offenbar hatte man auf kommunaler Ebene entsprechende Erfahrungen machen müssen, welche diese Massnahme, die „Allgemeinverfügung“, dringend notwendig werden liess. Wenige Tage später mit Einsetzen des zweiten Lockdowns zog dann die Landesregierung endlich nach, nahm die FFP-2-Pflicht für die Pflegeeinrichtungen in ihre „Corona-Verordnung“ auf und verschärfte sie zudem, indem sie diese Pflicht nicht nur der Pflege, sondern allen Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen auferlegte, ganz gleich, ob diese auch Kontakt zu Bewohnern haben oder nicht. Wertvolle Zeit war aber bereits verstrichen, viele Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese Massnahme früher angeordnet worden wäre. Und das, obwohl es kein Geheimwissen war und ist, dass diese Masken effizient schützen. Warum also hat eine Politik, die kein Problem damit hat, jeder Familie haarklein vorzuschreiben, wie und mit wem sie das Weihnachtsfest zu begehen hat, auch bei rasant steigenden Infektionszahlen so lange gezögert, bis sie dann doch endlich die einzig richtige Massnahme verordnete? Oder anders formuliert: Warum überliess man es so lange den einzelnen Einrichtungsleitern, welche Infektionsschutzmassnahmen konkret in ihren Einrichtungen ergriffen werden? Die einfache Antwort lautet: Weil diese dann auch die Verantwortung dafür zu tragen haben. FFP-2 Masken schützen effizient die Bewohnerschaft, sie erschweren aber auch das Atmen und damit die Arbeit, zumal die körperliche Arbeit, welche Pflege immer noch ist. Und weil das so ist, hat sich die Politik Arbeitsschutzrichtlinien ausgedacht, welche wiederum den Arbeitnehmer vor Gesundheitsschäden schützen sollen. Nach 75 Minuten hinter der FFP-2 ist eigentlich eine „Mindesterholungsdauer“ von einer halben Stunde vorgeschrieben. Diese Pausen lassen sich aber unmöglich in den Stationsalltag integrieren, ohne die pflegerische Versorgung der Bewohner zu vernachlässigen. Und das ist der Grund, warum wir seit Anfang April jeden Tag mehrmals täglich Arbeitsschutzrichtlinien missachten müssen. Die Verantwortung dafür und für etwaige daraus resultierende Gesundheitsschäden unserer Mitarbeiter lag also über Monate hinweg bis Anfang Dezember allein bei mir.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Antigen-Schnelltest, der mittlerweile eine grosse Hilfe in den Pflegeeinrichtungen ist. In Südkorea bereits im März in Gebrauch und auch in Indien schon im September im Einsatz, waren diese Tests erst Mitte Oktober in Deutschland verfügbar, Mitte November entschloss sich die Bundesregierung dann endlich, die Produktion dieser Tests mit 200 Millionen Euro zu fördern. Wieder überliess man es zunächst den Einrichtungen selbst, wie, wann und wer getestet wird. Das führte dann leider dazu, dass einige Einrichtungen lediglich die Besucher testeten und das weitaus grössere Gefährdungspotential der Mitarbeiter gänzlich ausser Acht liessen. Wir hatten den Test bereits Mitte Oktober in der Anwendung, um den Pflegedienst sowie alle anderen Mitarbeiter mit Bewohnerkontakten einmal in der Woche zu testen, ebenso wie die Bewohner. Schnell gingen wir dazu über, alle Mitarbeiter des Pflegedienstes, welche naturgemäss den „engsten“ Kontakt zu den Bewohnern haben, zweimal wöchentlich zu testen. Wieder reichlich spät, erst Mitte Dezember – die Todeszahlen unter den Heimbewohnern waren landesweit gestiegen – zog die Landesregierung dann nach und verordnete die zweimal wöchentliche Testung aller Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung, egal, ob Mitarbeiter während ihrer Tätigkeit Bewohnerkontakte haben können oder nicht. Wieder war viel Zeit verstrichen, in der viele Infektionen durch das Fehlen geeigneter Massnahmen nicht verhindert werden konnten, zudem schoss man jetzt mit der neuen Verordnung über das Ziel hinaus. Für eine Einrichtung wie die unsere bedeutet die zweimal wöchentliche Testung aller Mitarbeiter und die wöchentliche Testung aller Bewohner eine zusätzliche Arbeitsbelastung von ca. 1500 Tests monatlich, die neben den jetzt schon erschwerten Arbeitsanforderungen abgenommen, ausgewertet und dokumentiert werden müssen. Ein qualitativ und quantitativ gut aufgestellter Pflegedienst wie der unsere kann das leisten. Es sind aber nicht alle Pflegedienste im Land gut aufgestellt. So kam denn, was kommen musste, nicht wenige Einrichtungen drohten unter dieser zusätzlichen Belastung gänzlich zu kollabieren, was die Landesregierung dann veranlasste, Hilfsdienste wie das Deutsche Rote Kreuz oder gleich die Bundeswehr um Unterstützung der Pflegeheime zu bitten.

So ist also die Situation im Land. Die Pflegedienste schuften hinter FFP-2, einige schon seit Monaten, das ohnehin nicht kleine Arbeitspensum ist nochmals durch erhöhte Hygieneanforderungen, Schutzmassnahmen, Besuchsmanagement und Schnelltests enorm gestiegen, sodass die Pflege ächzend die Erlösung förmlich herbeisehnt, die da kommen soll in Form der Impfungen.

Und da sollte man doch meinen, dass die verantwortlichen Bundespolitiker alles, aber auch wirklich alles unternommen haben, um nicht nur die Bewohner mittels Impfungen möglichst schnell und beständig zu schützen, sondern auch die Pflegekräfte endlich endlich schnell zu entlasten und so zu belohnen für den harten und aufopferungsvollen Dienst in den vergangenen Monaten.

Aber weit gefehlt, die Bundesregierung überliess es der EU, den Impfstoff zu prüfen, zuzulassen und auch einzukaufen. Im Ergebnis fängt Deutschland erst dieser Tage an zu impfen, während die USA bereits eine Million, Grossbritannien 600.000 und das kleine Israel 280.000 Impfungen vorgenommen haben. Und damit noch nicht schlimm genug, hat man auch noch zu wenig Dosen bestellt, sodass „Experten“ und andere Schwätzer davon ausgehen, dass die Pflegeeinrichtungen erst Ende Februar komplett durchgeimpft sein werden. Da es nach der Impfung dann noch einmal mindestens vier Wochen dauert, bis der Organismus einen Immunschutz ausbildet, bedeutet dies, dass die Letzten von uns erst gegen Ende März ihre Masken werden abnehmen können.

Wer solche Politiker hat, braucht eigentlich kein Corona mehr.

reformpflege wünscht allen Lesern ein Besseres Jahr 2021. Und den Institutionen, Einrichtungen und Diensten der „eigentlichen Pflege“, die mal wieder alleingelassen von der Politik und bei allen Rückschlägen Grossartiges leistet, eine Extraportion Glück auf den letzten Kilometern.

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