Morbus Hysterie IV

Noch vor wenigen Tagen war ich auf der Roten Station gewesen, eine unserer Quarantäne-Stationen, auf welche alle unsere positiv getesteten Bewohner umgezogen waren. Seinerzeit trug ich nur eine Atemschutzmaske und sonst eigentlich keine besondere Schutzausrüstungen, da es glatte Verschwendung gewesen wäre, für eine kurze Besprechung auch nur einen der kostbaren Einweg-Overalls zu verschwenden, so wenig hatten wir von diesen Dingern. Jetzt war es kurz vor 13 Uhr nach dem Vormittag, an dem Oberschwester aus dem Dienst ausscheiden musste. Mittlerweile gut mit Schutzausrüstungen aller Art ausgestattet, quälte ich mich in den sogenannten „Vollschutz“ und ging dann, gekleidet im Overall und versehen mit Atemschutzmaske, Schutzbrille, Haarnetz und Gummihandschuhen, über das Rote Treppenhaus auf die Rote Station, um deren Pflegedienst eine – wie ich befürchtete – Zumutung zu verkünden.

Nach unserer letzten Besprechung hatte mich Oberschwester gebeten, nicht mehr auf die rote Station zu kommen, wir kommunizierten von da an ausschliesslich telefonisch. Ich interpretierte die Motivation ihrer Bitte damals als Fürsorglichkeit oder auch als eine Art der Vorsorge, so dachte ich jedenfalls damals. Vielleicht auch ein wenig eingelullt ob dieser vermeintlichen Fürsorglichkeit unserer Oberschwester vergass ich kurzzeitig, dass sie mit allen Wassern gewaschen ist.

Am späten Vormittag des Tages, als sie mit einem positiven Testergebnis die Station verlassen musste, konnte ich sie noch auf dem Parkplatz abpassen, als sie gerade nach Hause in Quarantäne fahren wollte. Ich öffnete die Beifahrertür und sah Oberschwester zum ersten Mal seit Tagen und dazu noch ohne Maske. Sie war ein Bild des Elends. Und ich begriff augenblicklich, warum sie mich nicht auf Station hatte sehen wollen.

Bereits vor Oberschwester war unsere Stellvertretende Pflegedienstleitung ausgefallen, sodass die Pflege im Moment nicht nur kopflos, sondern auch führungslos war. Am frühen Morgen, als die Ärztin Oberschwester endlich das Versprechen abnehmen konnte, dass sie die Station verlassen würde, um sich zu erholen, hatten wir zunächst miteinander telefoniert, auch, um zu besprechen, wer die Leitung der Pflege jetzt übernehmen sollte. Wobei es da eigentlich nicht viel zu besprechen gab, denn wir schienen so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft zu haben, gerade weil wir im Vorfeld ihres Ausfalls nie darüber gesprochen hatten, wer ihre Funktion dann übernehmen könnte. Und auch jetzt, da ich ihr den Namen am Telefon nannte, hatte sie keinerlei Bedenken oder Einwände, was bei Oberschwester eher selten ist, vielmehr akzeptierte sie sofort, als sei dieses Vorgehen schon lange zuvor und gemeinsam beschlossen worden. Oberschwester wartete also auf Station auf Ablösung, während wir ihre Ablösung zunehmend hektischer suchten. Das Auto der betreffenden Krankenschwester stand zwar auf dem Hof, aber keiner konnte sagen, wo sie war. Das Handy nahm sie nicht ab, ihre Wohnungstür blieb verschlossen, niemand reagierte auf unser Klingeln. Plötzlich hörte ich ihre Stimme in unserem grossen offenen Treppenhaus. Offenbar stand sie eine Etage über mir und besprach sich mit einer Kollegin.

In dem aufgeregten Durcheinander vor der bevorstehenden Demission der Oberschwester auf der Roten Station, der zigfach korrigierten und immer wieder umgestellten Dienstpläne, den grösstenteils isoliert voneinander arbeitenden Quarantänestationen und der in den Schutzanzügen anonym vermummten Gestalten, die auf diesen Stationen Dienst taten, hatten wir einfach übersehen, dass sie auf der Orangenen Station eingeteilt war.

Ich lief also die Treppe hoch und informierte sie über die neue Situation, dass Oberschwester in Quarantäne müsse und dass sie ab sofort die Leitung der Pflege zu übernehmen habe. Sie solle auf die Rote Station wechseln und Oberschwester nach Übergabe ablösen. Alles, was ich von ihr im Vollschutz sah, waren ihre Augen. Und diese weiteten sich zu einem erstaunten Blick, den ich so oder so ähnlich schon einmal vor ein paar Jahren gesehen hatte. Vollkommen überrumpelt stammelte sie noch, sie werde ihr Bestes geben, und machte sich dann auf den Weg auf Rot.

Auf Station angekommen, ging ich mit meiner Zumutung im Gepäck den Flur entlang in Richtung Aufenthaltsraum der III, in dem für gewöhnlich um 13 Uhr die täglichen Übergaben zwischen den gesamten Früh- und dem Spätdiensten stattfinden. An diesem speziellen Tag war aufgrund der Quarantänevorschriften natürlich nur der Pflegedienst der Roten Station dort. Ich war nervös. Der Wechsel der leitenden Pflegekraft eines Pflegedienstes ist immer heikel, zumal, wenn die neue Pflegedienstleitung aus den eigenen Reihen kommt, was zur Folge hat, dass die Hackordnung oder die Rangfolge des Pflegedienstes komplett neu durch dekliniert werden muss. Ein Prozess, der eine Menge soziale Verwerfungen mit sich bringen kann. Und ganz besonders heikel wird es, wenn die neue PDL einem Pflegedienst wie dem unseren vorzustehen hat, der zwar seine unbestrittenen Qualitäten besitzt, aber andererseits alles andere als leicht zu führen ist, da er – naja – mit vielen starken Charakteren durchsetzt ist, und leider nicht nur manchmal an die Einwohnerschaft eines bestimmten gallischen Dorfes erinnert. Was jetzt aber folgen sollte, war nicht nur heikel, sondern auch noch gegen alle offiziellen Regeln, denn auf dem Stuhl, auf welchem sonst Oberschwester während der Übergaben Platz zu nehmen pflegte, sass jetzt Eva*. Eine Krankenschwester, die nicht nur über keinen Pflegedienstleitungs-Schein verfügte, sondern noch nicht einmal über eine deutsche Anerkennung ihrer kroatischen Berufsausbildung. Vielmehr war ihr diese ausdrücklich vom deutschen Staat versagt worden. Ich nahm neben ihr Platz, erzählte ihren Kollegen die Geschichte von der Grippewelle vor ein paar Jahren und sagte, dass wir alle wüssten, was wir an Eva haben, selbst wenn ihr die erforderlichen Papiere fehlten, und beschwor sie förmlich, ihre neue Pflegedienstleitung uneingeschränkt zu unterstützen, denn die nächsten 14 Tage würden entscheidend sein. Not kennt kein Gebot. Gut. Aber es stimmt schon, rein formal gesehen, führte von nun an eine Auszubildende im zweiten Lehrjahr die Pflege und damit letztlich auch das Haus durch seine dunkelsten Stunden.

Ein Pflegeheim in einer solch herausfordernden Situation, das eine Vielzahl von infizierten Bewohnern zu beklagen hat, das seine Bewohner neu auf die verschiedenen Quarantänestationen verteilen muss und dessen Pflegeschichten aufgrund einer steigenden Infektionszahl unter den Mitarbeitern immer wieder gesprengt und reorganisiert werden müssen, gleicht einer Schneekugel, die heftig geschüttelt worden war und in welcher die Flocken erst wild durcheinander stieben, um sich dann langsam zu legen, bis sich endlich ein klareres Bild ergibt und sich sodann das einstellt, was die Pflege in dieser Ausnahmesituation am dringendsten benötigt: Und das ist Routine. Ruhe in der Ausnahmesituation. Klar kommunizierte Anweisungen und Zuständigkeiten. In diesem Sinne ist der eigene Pflegedienst das wertvollste Instrument in der Krise, da er sich kennt und eingespielt ist und sich auch in einer solchen Ausnahmesituation schneller in eine Arbeits-Routine einfinden kann als ein neu und irgendwie zusammengestellter Ersatz-Pflegedienst. Das war unsere Überzeugung von Anfang an und diese Überzeugung brachte uns in einen Zielkonflikt mit einer nun übergeordneten Instanz, dem Gesundheitsamt. Das Gesundheitsamt verfolgte den staatlichen Auftrag der Eindämmung des Virus und bediente sich dazu der Instrumente der Kontaktverfolgung und der Quarantäne von möglichen Kontaktpersonen. Und natürlich war die Eindämmung des Virus auch unser Ziel, in dem Sinne, dass Neuinfektionen unter den Bewohnern unter allen Umständen zu vermeiden waren. Aber nicht weniger wichtig war die Pflege und Betreuung der bereits infizierten Bewohnern, auch weil gerade eine grosse Zahl der gebrechlichsten und verwundbarsten Bewohner infiziert worden war. Und genau hier etablierte sich die erste Konfliktlinie zwischen uns und dem Amt, das bereits nach den ersten Infektionen im Pflegedienst die Nennung von möglichen Kontaktpersonen unter den Mitarbeitern verlangte, um diese in die Quarantäne zu schicken, sodass sie nicht mehr dem Dienst zur Verfügung stehen konnten. Diese Forderung hätte desaströse Folgen haben können, wenn sich nach gründlicher Analyse der Kontaktsituationen im Haus nicht herausgestellt hätte, dass die bereits infizierten Mitarbeiter glücklicherweise nur Kontakt zu ebenfalls bereits infizierten oder anderweitig arbeitsunfähigen Mitarbeitern gehabt hatten, welche sodann nach unserer Nennung vom Gesundheitsamt in Quarantäne geschickt wurden. Damit aber nicht genug, untersagte das Gesundheitsamt zunächst den Einsatz von infizierten, aber symptomfreien und arbeitswilligen Mitarbeitern. Das Amt bezog sich hierbei auf eine Empfehlung des RKI, wonach Pflegekräfte von Kliniken sofort nach einem positiven Test weiterhin arbeiten durften, Pflegekräfte von Pflegeeinrichtungen jedoch zunächst eine Quarantäne von sieben Tagen abzuwarten hätten, bevor sie ihren Dienst wieder aufnehmen dürften. Um es kurz zu machen, die Umsetzung dieser neuerlichen RKI-Klappspaten-Empfehlung verweigerten wir von Anfang an. Rebecca, die die allererste Nachtwache auf unserer anfangs noch kleinen Quarantänestation übernehmen sollte, steckte bereits im Schutzanzug, als sie der Anruf des Gesundheitsamt erreichte und ihr mitgeteilt wurde, dass sie positiv sei und sich unverzüglich in Quarantäne zu begeben habe. Rebecca ging in Quarantäne, aber erst als ihre 12stündige Nachtwache zu Ende war. Wie Rebecca blieben auch andere positiv getesteten Mitarbeiter der ersten Testreihe im Dienst, wiewohl sie strikt nur zur Pflege der positiv getesteten Bewohner eingesetzt wurden. Nicht anders verhielt es sich nach der zweiten Testreihe, als wir nach Ablauf der Inkubationszeit insgesamt 12 positiv getestete Mitarbeiter im Pflegedienst verzeichneten, darunter auch unsere zwei examinierten Dauernachtwachen, die hinsichtlich der Etablierung einer funktionierten Pflege-Routine gerade auf der Roten Station unverzichtbar waren. Zu diesen 12 infizierten Mitarbeitern addierten sich noch die 3 weitere Mitarbeiter, welche der Herausforderung nervlich nicht gewachsen zeigten und sich in den Krankenstand verflüchtigt hatten. Der Pflegedienst hätte also auch aufgrund der RKI-Empfehlung einen Aderlass von insgesamt 15 Mitarbeitern hinnehmen müssen und wäre damit auf einen Schlag nicht mehr handlungsfähig gewesen. Von den infizierten 12 Mitarbeitern meldeten sich jedoch insgesamt 8 zum Dienst, die meisten sofort, einige, nachdem sie leichte bis mittelschwere Symptome auskuriert hatten. 4 Mitarbeiter, darunter auch unsere Oberschwester, litten unter schwereren Symptome, zwei von ihnen mussten zeitweise stationär behandelt werden, und standen dem Pflegedienst somit nicht zur Verfügung. Oberschwester wurde zwar bereits nach einer Woche schon wieder negativ getestet und erwog dann ernsthaft, obwohl gesundheitlich stark angeschlagen und erholungsbedürftig, wieder zum Dienst kommen, wovon sie nur mit Mühe und einer List abgehalten werden konnte.

Auszubildende im zweiten Lehrjahr und “Corona-PDL” Eva B.

Die entstandenen Lücken im Pflegedienst füllten wir mit insgesamt 10 Freiwilligen aus dem Therapeutischen Dienst auf, zwei davon hatten wir speziell während der Corona-Krise eingestellt. Zusammen mit unserer DHBW-Sozialpädagogikstudentin gingen diese Mitarbeiter der Pflege zur Hand und betreuten unsere Bewohner, die sich in strikter Zimmer-Pflege befanden, auch um Lagerkoller, Dehydration und Stürzen entgegenzuwirken. Nur einen einzigen Mitarbeiter des Pflegedienstes, der sich positiv getestet in Quarantäne befand, rief ich unter Zeugen persönlich an, um ihn auffordern, seine Kollegen zu unterstützen, so er sich dazu gesundheitlich in der Lage fühle. Alle anderen Mitarbeiter, die sich wieder zum Dienst meldeten, taten dies aus eigener Veranlassung, auch wenn das Gesundheitsamt inzwischen dazu übergegangen war, alle positiv getesteten Mitarbeiter telefonisch zu befragen, ob ich sie schon vor ihrem positiven Test gezwungen hätte, mit Krankheitssymptomen wie Husten oder Schnupfen zu arbeiten, was allein schon aufgrund der Jahreszeit Humbug war. Wir hatten Frühling, die Zeit der Allergien, laufenden Nasen, Erkältungen und Hustenanfälle.

Stationsalltag unter Quarantäne. Hier auf Orange. Vor jedem Zimmer hingen blaue Schutzkittel, die über den Overalls angezogen werden mussten, sobald Mitarbeiter die Bewohnerzimmer betraten. Jeder Kittel war einem Zimmer fest zugeordnet und musste nach dem Verlassen wieder vor dem Zimmer aufgehängt werden. Das sollte eine mögliche Virus-Verschleppung von Zimmer zu Zimmer verhindern

Der Flockensturm im Schneeglas legte sich auf den Quarantänestationen Rot und Orange allmählich, die beiden Pflegedienste fanden in ihre Routinen, die den Mitarbeitern jedoch viel abverlangte. Die Pflege arbeitete unterstützt von den Therapeutischen Mitarbeitern und unserer Studentin immer mehr wie ein Uhrwerk, welches der nächsten Corona-Testreihe entgegen tickte. Sie schufteten auf Station im Vollschutz, häuften Überstunde auf Überstunde, schälten sich verschwitzt mit roten Wangen aus dem Schutzanzug, um ihre Pausen in der April- und Mai-Sonne zu verbringen, und natürlich wird die eine oder der andere von ihnen wahlweise einen kroatischen, polnischen, bosnischen, serbischen, kosovarischen oder auch deutschen Fluch zwischen zusammengebissen Zähnen leise in die Maske gepresst haben, aber sie verrichteten klaglos ihren erschwerten Dienst in einer Zeit, in der man sich an jedem Kaugummi-Automaten problemlos einen Krankenschein hätte ziehen können.

Im Ort erzählte man sich wilde Gerüchte. Angeblich hatten wir schon 20 tote Bewohner zu beklagen und verbrannten kontaminiertes Mobiliar im Hof. Wir verbrannten nichts. Wir desinfizierten. Auch Betten wie dieses, welches auf Orange stand und in dem niemand verstarb

Nach der zweiten Testreihe unter den Mitarbeitern mit den vielen Neuinfektionen nahm das Gesundheitsamt endlich die 7-Tage-Quarantäneverfügung für positiv getestete Pflegeheim-Pflegekräfte zurück, womit sie unsere bisher illegale Praxis sozusagen legalisierten, jedoch mussten wir uns jeden eingesetzten Mitarbeiter zuerst vom Gesundheitsamt genehmigen lassen, was aber problemlos war. Von der Grünen Station aus, die selbst nicht unter Quarantäne gestellt worden war, unterstützten der Sozialdienst, Frau I.H.M., und ich die Arbeit der Quarantänestationen. Hierzu kommunizierten wir zu festgelegten Zeiten mit Eva, um uns über den aktuellen Stand auf diesen Stationen in Kenntnis setzen zu lassen und mögliche Bedarfe abzuklären. Frau I.H.M. übernahm zudem die Kommunikation mit den Angehörigen, die sie zeitnah auf dem Laufenden zu hielt, was auch die schwere Pflicht mit sich brachte, Angehörige, die in dieser Zeit aufgrund der von der Landesregierung ausgesprochenen allgemeinen Ausgangssperre nicht ihre Verwandten in den Pflegeheimen aufsuchen durften, selbst dann nicht, wenn diese im Sterben lagen, über den Tod ihrer Liebsten zu informieren. Nach dem Auftreten der ersten Symptome verschlechterte sich der Zustand vieler Bewohner innerhalb von nur wenigen Tagen massiv, sechs von insgesamt sieben Bewohnern verstarben innerhalb von nur zehn Tagen, was unserem jungen Pflegedienst, aber auch seiner frischgebackenen Pflegedienstleitung emotional zusetzte. Die verstorbenen Bewohner waren teilweise schon sehr lange bei uns, wir waren ihr letztes Zuhause, und natürlich hatten viele von uns auch persönliche Beziehungen zu ihnen, die weit über den Charakter einer Dienstleistung hinaus gingen. Für niemanden – nach den Angehörigen – war daher der Verlust dieser Menschen schmerzlicher als für uns. Drei der Verstorbenen starben bei uns und wurden nicht mehr in das Krankenhaus verlegt, so war es mit den Angehörigen abgesprochen, ebenso mit den Angehörigen noch weiterer Bewohner, die nicht mehr verlegt wurden, obwohl sie sich ebenfalls in einem kritischen Zustand befanden. Viele Bewohner standen auf der Kippe und nicht nur für einen war das Morphin bereits im Haus. Die Bewohner, die unter starken Symptomen litten, erholten sich nur sehr langsam und benötigten intensive Pflege und Zuwendung. Ende April hatten wir das Schlimmste hinter uns, die Situation beruhigte sich auf den Quarantänestationen von Tag zu Tag, die Fieberkurven nahmen langsam ab, die Symptome flauten ab, auch traten keine neuen Krankheitssymptome mehr unter den Bewohnern auf. Das Virus schien also eingedämmt, so dachte ich jedenfalls, bis wieder das Telefon klingelte.

Unsere DHBW-Studentin in Vorbereitung auf ihre Rolle als Fitness-Trainerin, die von Zimmer zu Zimmer zog

Am Apparat war Schwester Manuela, die anfangs zusammen mit Lilly den Tagdienst auf der Grünen Station abdeckte, bis Lilly ihren positiven Testbescheid bekam und dann nach ein paar Tagen der Erholung in der häuslichen Quarantäne auf die Rote Station wechselte. Seitdem verrichtete Manuela den Tagdienst allein, temporär unterstützt durch eine Schwester unseres ambulanten Pflegedienstes. Die Bewohner der Grünen Station waren bereits zweimal allesamt negativ getestet worden und hatten auch keinen Kontakt zu infizierten Bewohnern oder deren Kontaktpersonen gehabt. Die Station war also sauber und deshalb auch nicht unter Quarantäne. Aufgrund dessen hatten wir mit dem Gesundheitsamt ausgehandelt, dass die Mitarbeiter von Grün auf den sogenannten Vollschutz und hier vor allem auf den Overall verzichten konnten, wenn sie wollten. MNS, Kittel, Schutzbrillen und Gummihandschuhe reichten unserer Meinung nach auf dieser Station aus. Betreut wurden die Bewohner hauptsächlich durch therapeutische Mitarbeiter, denen jedoch freigestellt war, wie sie sich schützen wollten. Einige wählten tatsächlich zunächst den Vollschutz, stellten dann aber relativ schnell auf die leichtere Variante um, was nochmals die Leistung der Mitarbeiter auf den Quarantänestationen unterstrich, die nur im Vollschutz arbeiten durften. Die Bewohner auf Grün waren alle mobil, Pflege bedeutete auf dieser Station in erster Linie „Aktivierende Pflege“, die auch grösstenteils durch den Therapeutischen Dienst übernommen wurde. Die Pflege, welche Manuela verrichtete, beschränkte sich auf Grün also hauptsächlich auf das Richten und Geben von Medikamenten und Insulin, die eine oder andere IM-Injektion, ein paar behandlungspflegerische Massnahmen und natürlich das in diesen Zeiten besonders wichtige Messen der Körpertemperatur. Und genau hier hatten sich in den letzten Tagen einige Anomalien ergeben, mehrere Bewohner auf Grün entwickelten erhöhte Körpertemperaturen, die aber zunächst subtil unter der Fiebergrenze von 37,5 Grad blieben, also Temperaturen von 36,9 bis 37,3 Grad. Dem massen wir anfangs nicht so viel Bedeutung bei, da andere Symptome fehlten und bei keinem der Bewohner wirklich Fieber gemessen worden war. Allerdings blieb dieses Phänomen hartnäckig und hielt schon seit mehreren Tagen an. Und jetzt, da ich den Telefonhörer abgenommen hatte und mir Manuela ziemlich aufgelöst am Telefon mitteilte, sie sei soeben davon unterrichtet worden, dass ihr Testbefund positiv ist, bekam die Anomalie mit den leicht erhöhten Temperaturen einen völlig anderen Dreh, denn Manuelas Testbefund bedeutete, dass jeder Bewohner auf Grün mehrmals am Tag Kontakt mit der einzigen Krankenschwester im Tagdienst auf Station gehabt hatte, die sehr wahrscheinlich schon seit Tagen infiziert und womöglich auch infektiös war. Manuela ist eine ehemalige langjährige Mitarbeiterin von uns, die nach einigen Jahren Arbeit in anderen Einrichtungen erst und ausgerechnet in der Hochphase unserer Krise am 15. April wieder bei uns angefangen hatte. Sie stand noch nicht auf der Anfang April von uns an das Gesundheitsamt übermittelten Personalliste. Kontaktaufnahmen ihrerseits zum örtlichen Corona-Testzentrum schlugen aufgrund des allgemeinen Durcheinanders in dieser Zeit zunächst fehl, sodass sie erst verspätet getestet werden konnte. Und ihr Testergebnis hatte uns nun eingeholt. Ich legte also den Telefonhörer auf und dachte mir: Ok, das war’s.

Wir desinfizierten Manuelas Dienstzimmer, nachdem wir sie nach Hause geschickt hatten. Da unser ambulanter Pflegedienst am Anschlag war und über keine personellen Ressourcen mehr verfügte, übernahm zunächst ein Auszubildender im dritten Lehrjahr Manuelas Schicht, was aber keine Dauerlösung sein konnte, denn eigentlich war er als Ersatz eingeplant für Dejan, einen Pfleger, der bereits seit Wochen eine 12 Stunden-Schicht nach der anderen auf Orange schob. Wir hatten jetzt ein ganz grundsätzliches Problem, da sich überproportional viele examinierte Pflegekräfte infiziert hatten, die sich entweder in Quarantäne befanden oder auf der Roten Station, der einzige Ort, an dem wir positiv getestete Pflegekräfte einsetzen durften, Dienst verrichteten, sprich: Uns gingen die examinierten, nicht positiv getesteten Pflegefachkräfte für Orange und Grün aus. Schon vor ein paar Tagen hatte Eva angerufen und mir gesagt, dass Doroteja sich gemeldet und gefragt hätte, ob sie wieder zur Arbeit kommen darf. Das schien eine Eigenart dieser Krankenschwester, auch sie Kroatin, zu sein, denn vor einigen Wochen, als wir uns noch in einer Art selbst gewählten Quasi-Quarantäne befanden, hatte mich die damalige stellvertretende Pflegedienstleitung informiert, dass Doroteja schwer erkrankt sei, sie lasse fragen, ob sie sich krank melden darf. Das war das erste Mal, dass mir in meiner Laufbahn als Pflegeheimbetreiber eine solche Frage gestellt worden war. Ich verstand zunächst nicht recht, zumal die Krankheit, die sie mir nannte, so schwer ist, dass sie sich sofort in Behandlung hätte begeben müssen. Am nächsten Morgen gab Doroteja ihren Krankenschein in der Verwaltung ab, während sich im Rest der Republik derweil die Toilettenpapier-Spinnerei anbahnte. Ich kam gerade die Treppe hoch, sah sie heulend aus dem Haus gehen. Ich wollte noch etwas sagen. Aber ich wusste nicht was.

Ergotherapeutin bei eher berufsfremder Verwendung. Und noch dazu in nicht vorschriftsmässiger Aufmachung, weil ohne blauen Kittel und Schutzbrille. Allerdings wurde diese Aufnahme auf Orange gemacht, als alle Bewohner und Mitarbeiter dort bereits negativ getestet worden waren. Da wir noch auf die Testergebnisse von Rot warteten, beliessen wir auch Orange in Corona-Routine. Kleinere Erleichterungen waren auf dieser Station aber jetzt erlaubt

Wir hatten diese Schwester, was die Personalplanung auch während unserer Krise anging, nicht mehr auf der Rechnung gehabt, da wir davon ausgehen mussten, sie erst in Monaten wieder zu sehen. Ich sagte also zu Eva, dass das keine gute Idee von Doroteja sei, wieder zu Arbeit zukommen, auch weil ich meinte, einen Folgekrankenschein von ihr in der Verwaltung gesehen zu haben, der sie noch mindestens zwei Wochen als arbeitsunfähig schützte. Die aktuellen Krankenscheine liegen in der Verwaltung auf einem speziellen Platz, bevor sie dann nach meiner Kenntnisnahme in die Personalakte kommen. Und ich war mir zum Zeitpunkt des Telefonats mit Eva ziemlich sicher, dass Dorotejas aktueller Krankenschein ihre Arbeitsunfähigkeit bis irgendwann Mitte Mai befristete. Aber die Zeiten waren ziemlich herausfordernd, vielfältige Eindrücke prasseln auf einen ein, da konnte man schon mal den Überblick verlieren oder auch einfach nur irren, so redete ich es mir jedenfalls ein oder versuchte es zumindest, als ich in den Tagen darauf statt des Mai-Krankenscheins von Doroteja eine andere Arbeitsunfähigkeitsbescheinung von ihr in der Verwaltung vorfand, die bis Ende April befristet war und fast schon ostentativ dort auf seinem Platz liegenblieb, auch nachdem ich ihn bereits zur Kenntnis genommen hatte. Und so wunderte es mich nicht unbedingt, als ich mit Eva telefonierte, um die Personalsituation nach dem Ausfall von Manuela zu besprechen, dass Eva wieder zu mir sagte, Doroteja hätte sich gemeldet und lasse nochmals fragen, ob sie wieder zur Arbeit kommen dürfe. Die Pflege wollte offenbar unbedingt Doroteja. Und Doroteja wollte zurück in den Dienst. Und diesmal gab ich grünes Licht. Erst Wochen nach dieser Begebenheit, im Juni, tat ich das, was ich zugegebenermassen auch schon Ende April hätte tun können, ich ging in die Verwaltung, fischte Dorotejas Personalakte aus dem Schrank und fand einen sauber abgehefteten Mai-Krankenschein sowie einen älter datierten vom April.

Aber auch ohne gesicherte Kenntnis von dieser Scharade mit den Krankenscheinen, über deren Urheberschaft ich mir keine Illusionen machte, verband ich Ende April mit Dorotejas Einsatz zwiespältige Gefühle. Zum einen hatte Eva natürlich recht, die Pflege brauchte angesichts der Situation dringend eine weitere Pflegefachkraft, andererseits war Doroteja gerade von einer sehr schweren Krankheit genesen, um ihr Immunsystem dürfte es seinerzeit, so kurz nach der OP, noch nicht zum Besten bestellt gewesen sein, zudem war sie zweifache Mutter heranwachsender Kinder und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, auch noch alleinerziehend. Die Arbeitsbelastung auf der Grünen Station war trotz der langen Arbeitszeit von 12 Stunden pro Schicht für eine Pflegefachkraft eher übersichtlich, genug Zeit für ausführliche Dokumentation und die eine oder andere irreguläre Rauchpause, jedoch wusste niemand, ob die Grüne Station aufgrund von Manuelas Infektion und Wirken überhaupt noch „Grün“ war oder nicht schon längst Orange, wenn nicht sogar Rot. Das heisst, wir hatten auf Grün jetzt eine sehr wahrscheinlich vulnerable Pflegefachkraft, die wir womöglich einem Risiko aussetzten. Und ich fragte mich, ob ich das mit meiner Fürsorgepflicht als Arbeitgeber vereinen konnte, ob es nicht besser wäre, Doroteja sofort aus dem Dienst zu nehmen, um sie gewissermassen vor sich selbst zu schützen und statt ihrer irgendeine Honorarkraft zu verpflichten, deren Agenturen seit den ersten Zeitungsberichten über unsere Quarantäne ohnehin immer wieder bei uns anriefen, um ihre Dienste anzupreisen. Der Einsatz einer Honorarkraft würde uns zudem keinen Cent kosten, da die Pflegeversicherungen in einem solchen Falle die Kostenübernahme zugesichert hatten. Diesen Überlegungen gegenüber stand jedoch die erklärte Bereitschaft Dorotejas, ihre Arbeitskraft und ihr Fachwissen anzubieten, sie war vom Fach und hatte in Kenntnis der möglichen Tragweite eine Entscheidung für sich und damit auch für ihre Familie getroffen und diese war: Ihre Kunst in unsere Gemeinschaft einzubringen. Sollte ich sie also aus dem Dienst nehmen, hätte dies bedeutet, ihre Entscheidung nicht nur nicht zu respektieren, sondern sie auch noch zu bevormunden, indem ich meine Arbeitgeber-Verantwortung für sie über ihre Eigenverantwortung für sich stellte. Andererseits wäre es auch ein etwas seltsames Unterfangen, eine Pflegekraft vor dem schützen zu wollen, was eigentlich ihre ureigene Aufgabe ist, zumal wir mittlerweile über Schutzausrüstungen verfügten. In diesem Sinne hatte Eva die Antwort auf die Frage, die mich bezüglich Doroteja beschäftigte schon vor einigen Jahren geben. Wir sind Pflege. Wir pflegen pflegebedürftige Menschen. Menschen mit Demenz. Menschen mit Krebs und anderen schweren Erkrankungen. Und jetzt pflegten wir auch Menschen mit Covid-19. Eben weil Pflege unser Job ist. Und genau deshalb ist dies hier auch keine weitere Heldengeschichte, sondern ein Bericht über Menschen, die einfach nur ihren Job machten, in einer Zeit der Helden-Inflation, in welcher der normale Dienst oder die zumutbare Bewältigung von gestellten Herausforderungen schon beinahe regelmässig zur phänomenalen Grosstat aufgeblasen wird – was tief blicken lässt bezüglich der derzeit herrschenden Definitionen von „zumutbar“ – und so einen Helden nach dem anderen gebiert: Supermarkt-Heldinnen, Paket-Helden, Magenta-Helden, Pflege-Helden und Helden-Polizisten, die ein paar Verstrahlte von den Reichstagtreppen scheuchen und dafür umgehend mit Bundesverdienstkreuzen beworfen werden. In diesem Sinne erteilte mir mein Pflegedienst im April und Mai diesen Jahres eine Lektion, denn wahrscheinlich hätte ich mir mein Gequatsche im März grösstenteils sparen können, man kann niemanden in so eine Nummer reinquatschen, der das, was dafür notwendig ist, nicht ohnehin mit sich bringt, nämlich das Bewusstsein, dass der gewählte Beruf gewisse Risiken beinhalten kann. Augen auf bei der Berufswahl! Wer angesichts einer solchen Herausforderung wie Corona rennt, hat in der Pflege nichts verloren, weshalb wir uns auch von den drei Mitarbeitern des Pflegedienstes, die sich in den Krankenstand verflüchtigt hatten, trennten. Ein bisschen hatte ich es im März schon geahnt, denn immer wenn ich mit meinen Reden zu unserem Pflegedienst am Ende war, sagte ich: Haben Sie Fragen? Und immer schüttelten sie die Köpfe. Der Therapeutische Dienst, vor dem ich ähnlich redete, hatte dagegen viele Fragen. Die Pflege aber keine einzige. Was soll es auch für Fragen geben zu einer Pflicht, deren Erfüllung gerade für Pflege eigentlich selbstverständlich zu sein hat? Einmal sagte ich ihnen, dass ich mich wundere, dass sie gar keine Fragen hätten, und da lachten sie. Wahrscheinlich dachte die eine oder der andere von ihnen sogar: Naja, der Chef braucht das jetzt, also lassen wir ihn halt quatschen.

Wobei diese Worte jetzt die Anerkennung ihrer Leistung nicht schmälern sollen, sie und die sie unterstützenden Kollegen aus den anderen Abteilungen waren in diesen Tagen, da unser Haus von einem wüsten Schlag erschüttert worden war, schlicht grossartig. Sie setzten einer wüsten Natur neben ihrer Kunst und dem sich Einbringen in eine Gemeinschaft etwas ganz Entscheidendes entgegen und das war: Menschlichkeit. Sie liessen ihre Bewohner nicht im Stich, sondern schenkten ihnen durch ihre Anwesenheit und ihren Einsatz nach all dem Durcheinander in grosser Angst endlich wieder die Vertrautheit ihres Zuhauses. Das war das eigentliche Geschenk des Pflegedienstes: Vertraute Geborgenheit, welche in grosser Not auch das Zutrauen, die Zuversicht und die Hoffnung unter den Bewohnern wieder wachsen liess. Die Mitarbeiter zeigten in diesen Tagen eine grosse Identifikation mit unseren Bewohnern und eine ebenso hohe Loyalität gegenüber dem Haus. Und eben das ist zwar auch nicht übermenschlich oder heldenhaft, aber heute leider auch alles andere als selbstverständlich.

Doroteja machte also, gewandet im Vollschutz und unterbrochen von der einen oder anderen irregulären Rauchpause, ihren Job auf Grün. Die Temperatur-Anomalien blieben uns erhalten, ein Bewohner bekam dann auch tatsächlich Fieber, dessen Ursache sich aber als Harnwegs-Infekt herausstellte. Sicherheitshalber wurde er aber auch getestet – negativ. Mittlerweile gingen wir von einer Erkältung oder einem anderen Erreger als dem Urheber der leicht erhöhten Körpertemperaturen fast aller Bewohner auf Grün aus, da so viele asymptomatische Verläufe von Covid-19 rein statistisch gesehen eher unwahrscheinlich gewesen wären. Auch ging es den Bewohnern auf Rot besser, die schweren Verläufe konsolidierten sich, niemand war mehr verstorben oder musste in das Krankenhaus verlegt werden. Nach Ablauf der Inkubationszeit erhielten wir am 06. Mai das Ergebnis der ersten Reihentestung, dass alle Bewohner auf Grün und Orange negativ waren. Keine Neuinfektionen mehr, der Pflege war es gelungen, das Virus einzudämmen. Die Testung von Rot stand in wenigen Tagen an, aber auch dort waren die Symptome allgemein am Abklingen, sodass wir auf nur noch wenige positiv getestete Bewohner hoffen konnten.

Nicht nur Manuela, sondern auch Lilly hatte einige Zeit infiziert auf der Grünen Station gearbeitet. Zudem brachten spätere Antikörpertests an den Tag, dass noch zwei weitere Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes infiziert gewesen sein müssen, da sie über Antikörper verfügten, obwohl sie nie positiv getestet worden waren. Auch gibt es einige Mitarbeiter, die positiv getestet wurden, aber keine Antikörper hatten. Was in der Gesamtschau den Schluss nahelegt, dass wir auch noch eine unbekannte Anzahl von Mitarbeitern im Einsatz hatten, die weder positiv getestet wurden, noch über Antikörper verfügten, aber dennoch infiziert waren. Das heisst, wir hatten einige Mitarbeiter im Pflegedienst, die sehr wahrscheinlich infektiös waren, aber niemanden infiziert haben, und zwar weder Bewohner, noch Mitarbeiter, denn auch eine neuerliche Testung aller Mitarbeiter Anfang Mai brachte keine neuen Infektionen an den Tag. Und das lenkt den Blick auf die entscheidende Waffe für medizinisches und pflegerisches Personal im Kampf gegen das Virus. Und das ist, wen wundert das, die FFP-2 Maske. Nachdem wir diese Masken in ausreichender Zahl und Qualität hatten, wurden die Infektionsketten durch deren Einsatz sofort unterbrochen. Es gab keine Neuinfektionen mehr, auch nicht durch infizierte Mitarbeiter auf Grün und Orange. Diese Masken schützen somit nachgewiesenermassen äusserst effektiv. Nicht nur uns, sondern dem ganzen Land wäre also viel erspart geblieben, hätte man die Masken schon zu Beginn der Krise einsetzen können. Betrachtet man sich nun die Statistik der sogenannten Corona-Toten in Deutschland, wird man finden, dass der Peak ca. Mitte April erreicht war, danach nahm die Zahl der mit oder an Corona Verstorben relativ schnell ab und verharrt seitdem auf niedrigem Niveau, obwohl die Zahl der Neuinfektionen seit einigen Wochen wieder gestiegen ist und auch weiter steigen wird. Dieser Verlauf der Statistik korreliert somit ziemlich eindeutig mit der Verfügbarkeit dieser speziellen Schutzmasken, die im März und Anfang so gut wie nicht zu bekommen waren. Der „weisse Sektor“, die Pflegeheime, Krankenhäuser und auch Uni-Kliniken, in welchen ein Grossteil der Infektionen erfolgte, die sich dann einige Tage später in der Corona-Toten-Statistik niederschlugen, hangelte sich von Hilfslieferung zu Hilfslieferung, die nicht immer auch gute oder nur brauchbare Qualität enthielten. Dieser Mangel an ausreichenden Schutzausrüstungen trug ein Gutteil zu der Überrumpelung durch das Virus im März bei, da dem weissen Sektor ganz einfach professionelles Equipment fehlte. Erst als die Chinesen die Produktion wieder hochfuhren, nachdem sie ihre Corona-Krise einigermassen in den Griff bekommen hatten, sollte sich das ändern. Und es änderte sich ziemlich genau Mitte April, als zunächst der Graumarkt wieder gute Qualität in ausreichenden Mengen aus chinesischer Produktion anbieten konnte. Dann ging es fast Schlag auf Schlag, immer mehr Angebote mit sehr vernünftiger Qualität erreichten uns per eMail und Fax, unser Verband organisierte eine Notversorgung und einige Tage später waren auch unsere normalen Lieferanten wieder bestückt, mit dem Ergebnis, dass die Preise der Masken fast wieder auf Vor-Corona-Niveau fielen. Und mit den Preisen der Masken sank auch die Mortalität. Der Markt war jetzt wieder gesättigt, der weisse Sektor bestens versorgt, vulnerable Bewohner in den Pflegeheimen und Patienten in den Kliniken viel besser geschützt. Denn es ist für die offizielle Corona-Todesstatistik offensichtlich eher unerheblich, wie viele Menschen sich infizieren, sondern bei einem Durchschnittsalter der Verstorbenen von über 80 Lebensjahren vielmehr ganz entscheidend, wer sich infiziert. Das also, die wieder funktionierende Versorgung des weissen Sektors mit Schutzausrüstungen in ausreichender Zahl und guter Qualität trug ganz massgeblich dazu bei, dass die Todeszahlen sukzessive zurückgingen, und nicht irgendwelche Massnahmen oder gar der Lockdown unserer Regierungs-Hallodris. Diese hatten das Glück, dass die Zeitspanne zwischen der Virus-Überrumpelung bis zum Wiederhochfahren der Schutzausrüstungs-Produktion in China bei uns kürzer war als in Italien, weil es die Italiener eben viel früher erwischte. Das war neben einigen soziokulturellen Unterschieden dieser beiden Länder und anderen infrastrukturellen Gründen der Hauptgrund, warum wir keine italienischen Verhältnisse erleiden mussten. Nun hört und liest man in diesen Tagen öfter, im Nachhinein sei man auch in Corona-Fragen immer klüger. Und natürlich stimmt das. Aber in dieser ganz speziellen Krise gab es durchaus auch ein Vornherein und zwar seit 2011. Da erschien der Pandemieplan der Bundesregierung, der die Ereignisse der jetzigen Pandemie fast schon erschreckend gut voraussagte und auch explizit die zu erwartenden Versorgungsengpässe mit Schutzausrüstungen ansprach. Dennoch unternahm die Bundesregierung nicht nur nichts, um diesen Versorgungsengpässen entgegenzuwirken, sondern verschenkte im Februar 2020 – als das Virus bereits im Land war – das Wenige, was wir an Schutzausrüstungen hatten, immerhin 8,7 Tonnen an Material, an China und trug damit in einem neuerlichen Weltbeglückungsanfall zum Nachteil der einheimischen Bevölkerung gewissermassen Eulen nach Athen.

Erst dieses pflichtvergessene Versagen der Bundesregierung, welches einen äusserst wichtigen Teil der Daseinsvorsorge wider besseres Wissen sträflich vernachlässigte, potenzierte vor allem die wirtschaftlichen Folgen der Krise. Denn das Unterlassen der planvollen und vorsorglichen Vermeidung von möglichen Versorgungsengpässen mit Schutzausrüstungen im Vornherein durch das Anlegen einer nationalen Reserve, wozu man 9 Jahre Zeit gehabt hätte, als auch die unglaubliche Idiotie, das Wenige, was man an den weissen Sektor im März hätte verteilen können, auch wenn es nur ein Tropfen auf dem sehr heissen Stein gewesen wäre, um den prophezeiten Versorgungsengpass mit Schutzausrüstungen bis zum Wiederhochfahren der Produktion in China besser überbrücken zu können, ausgerechnet nach China auszufliegen, trugen dazu bei, dass die Bundesregierung in ihrer Hilflosigkeit meinte, Massnahmen ergreifen zu müssen, die grösstenteils nichts anderes bezwecken sollten als nicht vorhandene Masken zu ersetzen. Diese Masken sind aber gerade in der Nahdistanz zu Bewohnern und Patienten nicht zu ersetzen, hätte man sie schon im März, der kritischsten Phase der Pandemie einsetzen können, wäre der Anstieg der Todeszahlen weitaus flacher verlaufen, drakonischere Massnahmen hätten vermieden werden können, was zwar der exportorientierten Industrie wenig geholfen, aber zumindest einige Härten für Einzelhandel, Gastronomie und Hotellerie gelindert hätte.

Und so fragt man sich als leidgeprüfter Pflegeheimbetreiber, der über die Jahre mit allerlei und meistens sehr sinnfreien Vorschriften auch und gerade bezüglich der Gefahrenabwehr zugeschmissen worden ist, deren Erfüllung immense Summen gekostet haben und noch kosten werden, was wäre wohl geschehen, wenn diese „Warnungen“ ignoriert worden und die Gefahren dennoch und mit allen Konsequenzen eingetreten wären?

Es stand an dieser Stelle öfters zu lesen, dass Covid-19 nicht mit der Grippe verglichen werden könne, da es für die Grippe jedes Jahr einen Impfschutz gibt, der insbesondere die vulnerable Gruppe der Pflegeheimbewohner schützt, auch wenn er mal mehr oder weniger gut funktioniert. Für Corona gibt es immer noch keinen Impfschutz, allerdings gibt es zumindest für den weissen Sektor jetzt etwas anderes, das den Impfschutz gewissermassen ersetzt und das sind die Atemschutzmasken der FFP-2 Klasse. Wir und ich denke, auch andere Einrichtungen des weissen Sektors benutzen diese Masken – neben anderen hygienischen Massnahmen – weiterhin, vor allem und immer dann, wenn Mitarbeiter in die Nahdistanz zum Bewohner gehen müssen, sprich: In der Grundpflege oder während anderer Massnahmen der Behandlungspflege. Für die normale Stationsroutine ist es den Mitarbeitern freigestellt, auf MNS zu wechseln, was die allermeisten aber nicht tun. Es besteht somit zwar kein Impfschutz gegen Corona, jedoch jetzt ein anderer Infektionsschutz, der zwar wie ein Impfschutz auch keinen vollumfänglichen Schutz bietet, weil unsere Bewohner auch endlich wieder andere Sozialkontakte pflegen können und weil Menschen eben nicht unfehlbar sind, aber dennoch ein Infektionsschutz, der mit einem Impfschutz vergleichbar ist, und deshalb die beiden Krankheiten, Influenza und Corona, so seit Mitte Mai immerhin auch statistisch vergleichbarer macht.

Knapp eine Woche nach den Tests auf Grün und Orange wurde endlich auch Rot getestet. Die Ergebnisse erhielten wir am 12. Mai, dem Tag der Pflege, Florence Nightingales Geburtstag, der sich dieses Jahr zum 200sten Mal jährte. Zunächst wurden noch vier positiv getestete Bewohner gemeldet, denen es aber mittlerweile wieder gut ging. Ein negativer Test würde bei ihnen nur eine Frage der Zeit sein. Das Gesundheitsamt hob endlich die Quarantäne auf, die Quarantänestationen wurden aufgelöst und die verschiedenen Pflegedienste wieder zu einem vereint, was den Flurfunk jeweils wieder um zwei Frequenzen erweiterte, was dann natürlich zur Folge hatte, dass die neuesten Gerüchte wieder voll umfänglich die Runde machten, und was dann selbstredend zur Folge hatte, dass im Pflegedienst mal wieder eine Grossintrige vom Stapel gelassen wurde. Schön zu sehen, wie schnell so ein Pflegedienst zur grossen Freude seines Chefs wieder in den Normalbetrieb umschalten kann. Dann korrigierte sich das Labor und meldete noch eine weitere Bewohnerin als positiv getestet. Es war Frau Meyer, eine 95jährige Bewohnerin, die sich bereits in der Sterbephase befand, bevor sie sich mit Corona infiziert hatte. Frau Meyer wurde schon vor einigen Monaten von der Pflege in die Palliative Versorgung genommen, bevor sich die Bewohnerin wieder erholte und erst jetzt vor wenigen Wochen wieder palliativ versorgt werden musste. Immer wenn wir, der Sozialdienst und ich, auf Station bei Eva anriefen, erkundigten wir uns auch nach dem Zustand von Frau Meyer. Wir rechneten aufgrund ihres sehr geschwächten Zustand nicht damit, dass sie die Infektion lange würde überleben können. Aber Frau Meyer hatte eine sehr spezielle Verabredung mit dem Tod, sie war schon lange nicht mehr ansprechbar, ihre Medikation war seit Tagen abgesetzt, ihr Schluckreflex war nicht mehr vorhanden, sie wurde allein durch eine Infusionslösung versorgt. Ihr Leben hing am seidenen Faden, aber sie verstarb nicht. Das Virus liess sie fiebern und ihre Lungen verschleimen. Aber Frau Meyer verstarb nicht. Dann klangen die Symptome langsam ab. Sie hatte dann kein Fieber mehr und ihre Lungen waren wieder frei und durchgängig. Die anderen vier noch positiv getesteten Bewohner verlegten wir wieder auf unsere kleine Isolierstation, Frau Meyer jedoch wollten wir die Strapazen einer Verlegung ersparen, sie verblieb in ihrem Zimmer und schlief nach wenigen Tagen friedlich und für immer ein. Ich bin mir sicher, dass auch ihr Tod in der Corona-Statistik gezählt worden ist, obwohl sie keine Symptome mehr hatte und natürlich auch nicht mehr getestet worden ist. Und so bieten sich vielleicht zwei Lesarten ihres Sterbens an. Man kann sagen, dass das Corona-Virus ihr die letzte Lebenskraft geraubt habe und deshalb wie ein Frost, der einem alten kranken Baum den nur noch schwachen Lebenssaft gefror, letztlich ursächlich für ihren Tod war. So, wie man auch sagen kann, ihre Lebenskraft sei so stark gewesen, dass sie selbst im Sterben noch das Virus überwand.

Beide Lesarten sind sicher irgendwo und irgendwie richtig.

Aber welche ist auch wahr?

*Alle Namen geändert

Cumberland

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