Morbus Hysterie III

Und auch weil die Behörden inzwischen Internet haben, sei diesem Text und auch dem Folgenden der dringende Hinweis vorangestellt, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts des Erzählten sich so wie im Anschluss beschrieben auch tatsächlich ereignet hat. Nichts davon ist wahr, alles nur erfunden, eine reine Ausgeburt der Fantasie, geradezu unverschämt aus den Fingern gesogen und dann zusammen fabuliert.

Und so entspricht es natürlich auch nicht der Wahrheit, dass vor ein paar Jahren nicht nur eine kleine und vollkommen unbedeutende Pflegeeinrichtung im Nordschwarzwald von einer heftigen Grippewelle heimgesucht worden ist, die nicht nur uns, sondern auch allen anderen Pflegeeinrichtungen in der Region schwer zu schaffen machte. Offenbar weil der Impfstoff versagt hatte, rannte das Influenza-Virus beinahe ungehemmt durch das Haus, nicht nur viele Bewohner waren infiziert, auch der Pflegedienst war schwer angeschlagen, sodass letztlich nur noch zwei examinierte Pflegefachkräfte für den Tagdienst zur Verfügung standen, den sie in 10- und 12-Stundenschichten über Wochen abdeckten: Oberschwester – wer sonst? – orthomol-gestählt wie immer, und eine kroatische Krankenschwester, die erst kürzlich zu uns gestossen war. Was Oberschwester angeht, wunderte mich schon damals eigentlich über nichts mehr, aber mir imponierte die junge zierliche Krankenschwester, die ein Engagement zeigte, das nicht selbstverständlich war. Also passte ich sie eines Tages ab, als sie mit Oberschwester an meiner offenen Bürotür vorbei huschte, um die Medikamente im Pavillon zu verteilen und sagte ihr, dass ihr Engagement in dieser schweren Zeit aussergewöhnlich sei, wofür ich ihr danken möchte. Und da schaute sie mich ganz erstaunt an, wie nur – das weiss ich inzwischen – Eva* erstaunt schauen kann, und sagte mir, ich brauche ihr nicht zu danken, denn das sei ihr Job.

Und diese Worte merkte ich mir, weil ich damals zu spüren glaubte, dass sie keine blosse Floskeln, sondern durchaus ernst gemeint waren. In der Folgezeit beantragten wir dann beim zuständigen Regierungspräsidium in Stuttgart die deutsche Anerkennung ihrer kroatischen Berufsausbildung, damit die EU-Bürgerin Eva auch in Deutschland eine „vollwertige“ Krankenschwester sein durfte. Allerdings stand dieser Antrag auf „Anerkennung einer ausländischen Berufsausbildung“ von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Antrag mit allen übersetzten und beglaubigten Unterlagen ging im RP verloren, auf unserer telefonische Nachfrage, erhielten wir die Auskunft, der Antrag sei wohl nie im RP angekommen. Also sandten wir einen zweiten Antrag, diesmal per Einschreiben mit Rückschein. Auch dieser Antrag löste keine Resonanz im RP aus, diesmal erhielten wir die Auskunft, dass der Antrag wohl angekommen, aber irgendwie im Haus untergegangen sei. Erst nach unserem dritten Antrag setzte ein monatelanges Behörden-Ping-Pong ein, an dessen Ende dann die Ablehnung der Anerkennung der ausländischen Berufsausbildung erfolgte und zwar mit der Begründung, unsere kroatische Krankenschwester, von deren Fähigkeiten und Qualifikationen sich unsere Oberschwester schon seit Monaten überzeugen konnte, hätte die falsche Abschlussprüfung abgelegt. Und tatsächlich hatte Eva die Abschlussprüfung einer Hebamme abgelegt, dies hatte aber seinen Grund in der spezifischen kroatischen Ausbildungspraxis. Dort durchlief sie eine generalistische fünfjährige Ausbildung für Medizinberufe, in welcher man oder frau die Ausbildungsinhalte verschiedener medizinischer Berufe erlernt, auch die einer Pflegefachkraft, sich aber erst zum Schluss der Ausbildung für einen Beruf wirklich entscheidet. Sie hatte somit die falsche fachliche Abschlussprüfung ausgewählt oder – wenn man so will – das falsche Bundesland, denn eine Mitschülerin von ihr hatte mit Nordrhein-Westfalen als neuen Wohnort eine glücklichere Wahl getroffen, obwohl auch sie die Hebammenprüfung abgelegt hatte, gestattete man ihr dort ein mehrwöchiges klinisches Praktikum und eine Nachprüfung zur deutschen Anerkennung ihrer Berufsausbildung als Pflegefachkraft, welche sie auch bestand. Derlei Pragmatismus war aber Stuttgart fremd, hier verbiss man sich in eine Formalie und bot man die Prüfung der deutschen Anerkennung des erlangten kroatischen Hebammen-Berufsabschlusses an, ohne näher zu erläutern, was ein Pflegeheim mit einer Hebamme eigentlich anfangen soll. Wollte sie also bei uns bleiben, musste sie hier in Baden-Württemberg die Ausbildung zur Pflegefachkraft nochmals durchlaufen. Sie meldete sich als unser Pflege-Azubi in der Schule für Altenpflege an. Und immerhin gewährte Stuttgart ihr die “Gnade”, im zweiten Ausbildungsjahr anfangen zu dürfen.

Ich habe in Vorbereitung auf das, was man derzeit und wohl auch in Zukunft die Corona-Krise nennt und nennen wird, öfters an die diese schwere Grippewelle vor ein paar Jahren gedacht, obwohl ich hier an dieser Stelle schon geschrieben habe, dass Corona und die Influenza nicht miteinander zu vergleichen sind, eben weil für die Influenza jedes Jahr ein Impfstoff parat steht, der zugegebenermassen mal mehr und mal weniger passgenau ist. In jenem Frühjahr, als der Impfstoff vermutlich nicht besonders passgenau war, verloren wir 9 Bewohner, wir verloren sie aber nicht durch die Influenza, sondern wir verloren diese Bewohner, weil sie bereits vor dieser Krankheit am Ende ihres Lebens standen. Und Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, die lebenssatt, altersschwach und müde sind, sterben vor allem in den Zwischenjahreszeiten, also im Herbst und im Frühling. Das wissen alle Pflegeheimbetreiber, das wissen auch alle Bestattungsunternehmer, das schlägt sich in jeder jährlichen Sterblichkeitsstatistik nieder und das weiss auch der schwäbische Volksmund, der spricht: „Wenn das Laub kommt oder geht, sterben die Leut’. “ Warum das so ist, vermag ich nicht zu sagen, ich erkläre es mir aber so, dass die biologischen Kraftanstrengungen zur Umstellung des Körpers von Sommer auf Winter oder von Winter auf Sommer für einen alten und erschöpften Organismus zu aufreibend und auszehrend sind und damit letztendlich auch tödlich sein können, eben weil diese Anstrengungen ihm die allerletzten Kräfte rauben, so wie bei einem alten Baum, der am Ende seines Lebenszyklus steht und noch einmal alle seine Kräfte mobilisiert, wenn der Frühling naht, und versucht seine Lebenssäfte von den dünnsten Wurzelspitzen bis in die keimenden Blattknospen zu ziehen. Eine Anstrengung, schwer genug für so einen alten Baum, der damit ohnehin schon nah am Tode balanciert, ein verzweifeltes Unterfangen, das umso schneller beendet werden kann, wenn ihn auf einmal ein später Frost erwischt, so wie einen lebenssatten schwachen Heimbewohner ein Virus erwischen kann, das er in früheren Jahren lebensfroh und fast ohne es zu bemerken einfach abgeschüttelt hätte.

In Vorbereitung auf das, was man auch in Zukunft die Corona-Krise nennen wird, gelang es uns zwar, genug Desinfektionsmittel für alles Mögliche aufzutreiben, auferlegten wir den Stationen II und III bereits recht früh eine Art Beinahe-Quarantäne, indem wir diese vulnerablen Bewohner von den fitteren Bewohnern der Station I trennten, da diese zu dieser Zeit noch selbständig draussen unterwegs waren und ihre Kontakte im Ort pflegten, jedoch gelang es uns nicht mehr, ausreichend Schutzausrüstungen aufzutreiben. Dieses Problem hatten wir seinerzeit, Ende Februar und im März, nicht exklusiv, alle Kliniken und Pflegeeinrichtungen des Landes suchten beinahe schon verzweifelt nach Schutzausrüstungen. Und zwar Schutzausrüstungen guter Qualität und hier insbesondere Atemschutzmasken der Klassifizierungen FFP2, N95 oder KN95, die ein wirksames Mittel der Umkehr-Isolation sind, da sie nicht nur den Maskenträger, sondern auch den Bewohner vor einer möglicherweise infizierten Pflegekraft schützen. Denn anders als eine bestimmte Frau Maier, die mich in jenen frühen Märztagen anrief, um sich zunächst über die geführten Gruppenspaziergänge der Bewohner der Stationen II und III zu beschweren, bevor sie uns wenige Tage später auch noch bei der Polizei denunzierte, welche unsere Gruppen auch tatsächlich kontrollierte und hierbei die Vereinbarkeit mit den damals geltenden Corona-Regelungen feststellte, glaubte ich nicht daran, dass man sich dieses Virus einfach so im Vorbeigehen einfangen konnte. Nach allem, was man hörte und las, bedurfte und bedarf es schon einer gewissen Viruslast, um sich zu infizieren, weshalb eine initiale Infektion von Bewohnern im Haus wahrscheinlicher durch Mitarbeiter – und hier vor allem jenen in der Pflege – aber auch durch Angehörige oder Ärzte zu erwarten war, da medizinische Behandlung und Pflege und hier vor allem qualitativ sehr gute Grundpflege Dienstleistungen sind, die man nicht vom Home-Office aus erbringen kann, da sie erfordert, mehrmals täglich in die Nahdistanz zum Bewohner zu gehen, ihn zu waschen, zu pflegen, anzuziehen, seine Inkontinenz zu versorgen, ihn zu füttern und ihn wieder bettfertig zu machen. Pflege ist ein Dienst, der hautnah erbracht werden muss. Und dieser Dienst braucht optimalen Schutz, den wir in der kritischen Phase im März nicht hatten. Wir hatten ein paar hundert OP-Masken, sogenannte MNS, die bei bestmöglicher Verwendung zwei Wochen gereicht hätten, rund zweihundert Schutzkittel, dazu noch mehrere Dutzend Kopfbedeckungen, ein paar Schutzbrillen und natürlich Gummihandschuhe. Die übliche Routine-Ausrüstung also, über die Pflegeeinrichtungen verfügen, die sich in den letzten Jahren vermehrt mit den sogenannten Krankenhauskeimen, wie beispielsweise MRSA, auseinandersetzen mussten. Und damit waren wir vergleichsweise noch gut bedient, andere Einrichtungen hatten noch weniger Material oder noch nicht mal das. Was Atemschutzmasken der Klassifizierungen FFP1, FFP2 oder FFP3 sind, wusste ich in der Vor-Corona-Zeit nicht, auch nicht, dass FFP2 Masken OHNE Atemventil die richtige Wahl für medizinisches oder pflegerisches Personal im Umgang mit dem Corona-Virus sind. Ich bestellte FFP3 Masken MIT Atemventil in China zu einem „unverschämten Preis“ von 8 Euro das Stück, die, als sie nach zwei Wochen hier eintrafen, bereits für 200 bis 400 Euro das Stück im Internet gehandelt wurden, weil nicht nur unsere Grosshändler bereits seit Wochen ausverkauft waren und ich endlich begriffen hatte, dass unsere Regierenden trotz fleissiger Pandemieplan-Schreiberei und der Erstellung von Risikoanalysen keinerlei Vorkehrungen für eine Nationale Reserve an Schutzausrüstungen getroffen hatten. Und mit dieser Vernachlässigung eines wichtigen Bereiches der Daseinsvorsorge nicht genug, verschenkten sie das Wenige an Schutzausrüstungen, das bundesweit immerhin zur Verfügung stand, noch wenige Wochen vor Zuspitzung der Corona-Krise an China. Also machten wir das, was viele Einrichtungen in dieser Zeit machten, wir behalfen uns selbst, nähten Masken, freuten uns über die Spende von 50 Stoffmasken einer ansässigen Modedesignerin, und durchsuchten ansonsten die Weiten des Internets nach irgendwelchen Bezugsquellen für Atemschutzmasken der Kategorie FFP2, was letztendlich immer öfter auf Ebay hinauslief, wo immer zweifelhaftere Qualität zu immer noch höheren Preisen angeboten wurde. Mit anderen Worten: Wir waren alles andere als optimal vorbereitet. Und wenn man alles andere als optimal vorbereitet sein muss, man die Infektion von Mitarbeitern und Bewohnern nicht zu 100% ausschliessen kann, so fand ich, sollte man sich dennoch auf den Ernstfall vorbereiten, auch wenn er noch so unwahrscheinlich erschien. Und genau das taten wir.

Nicht nur in Deutschland – aber vor allem hier – hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Naturbesoffenheit eingestellt, die mittlerweile immer irrationalere, um nicht zu schreiben: esoterischere Züge annimmt. So durfte man vor nicht allzu langer Zeit im Öffentlichen Rundfunk einem seltsamen Trio, bestehend aus einem Baumversteher, einem Tenorsänger und einer Gelegenheits-Darstellerin, dabei zusehen, wie diese durch eine Schwarzwälder Fichtenplantage stapfen, wobei der Baumversteher den anderen beiden Wanderern, die begierig an seinen Lippen hängen, mit geschäftiger Bescheidwisser-Attitude einige naturselige Plattheiten über seine „Kumpels“ die Bäume drückt, die seine zwei Gefährten mit grossen Augen begierig aufsaugen, bevor sich alle zum Lagerfeuer niederlassen, welches der Baumversteher zünftig mit Feuersteinen entzündet, um nach einem Mahl aus Kürbis, Avocados und Quinoa darüber zu sinnieren, dass die menschliche Faszination für Feuer genetisch bedingt sein müsse, weil ja auch die Hirnentwicklung irgendwie ans Feuer gebunden sei, da man durch das Kochen von Speisen schneller Kalorien aufnehmen könne, wodurch der Mensch dann mehr Zeit für andere Sachen habe, was die Vorfahren der Menschen schon so seit anderthalb Millionen Jahren gemacht hätten, weshalb die menschliche Faszination für das Feuer “hirn-genetisch fixiert“ sein könnte. Am nächsten Morgen, nachdem die kurzzeitig schnarchvertriebene Gelegenheits-Darstellerin wieder zu dem Herren-Duo gestossen ist, bricht man gemeinsam auf in einen „wunderschönen, naturnahen und heilenden Wald“, um sich irgendwann auf moosbewachsene Steine „hinzuschmeissen“, woraufhin dann der Tenor beglückt zugibt, sich schon zu seinen Studienzeiten im Baden-Badener Stadtwald einen Baum besonders ausgesucht zu haben, um für diesen zu singen und so eine Verbindung zu ihm, dem Baum, aufzubauen. Diese Gelegenheit lässt sich der Baumversteher natürlich nicht nehmen und fordert den Tenor grinsend auf, doch auch für die umstehenden Bäume hier zu singen, woraufhin dieser sich nicht langen bitten lässt und sodann allen Ernstes in Mitten der Fichtenplantage anfängt, Schuberts „Im Abendrot: O wie schön is deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet!“ zu intonieren. Es sind Trouvaillien wie diese, die, ausgestrahlt zur besten Sendezeit, beinahe schon grotesk verdeutlichen, dass die Liebe zur Natur nach einigen ökobewegten Jahrzehnten mittlerweile den Rang einer Ersatzreligion erobert hat. Die Natur ist immer nur vollkommen, heilsam, wunderschön, gesund, perfekt, weise undsoweiterundsofort. Mit einem Wort, Natur ist „gut“. Weshalb es ein gesellschaftliche Ideal geworden ist, wenn nicht sogar schon ein dringendes Gebot, möglichst „im Einklang mit der Natur“ zu leben. Demgegenüber ist im Umkehrschluss alles, was geeignet sein könnte, die freie, weise, gesunde, heilsame, vollkommene und gute Entfaltung der Natur im Mindesten zu behindern oder zu stören, selbstredend schlecht oder böse. Dass das so ist, hat „natürlich“ damit zu tun, dass der Mensch, also wir oder einige von uns, der Natur oder ihren Ausformungen menschliche Werte untergeschoben hat, denn die Natur ist per se erst einmal weder gut noch böse, sie ist Natur und sonst eigentlich nichts. Ein Etwas, das im Kern nach dem unbewussten Prinzip des „Try and Error“ funktioniert, dem es „herzlich egal“ ist, dass im Urwald das Recht des Stärkeren zählt, dass die Grossen die Kleinen fressen, dass ganze Städte durch einen Vulkanausbruch oder einen Tsunami innerhalb von wenigen Minuten von der Erdoberfläche getilgt werden können und dass Seuchen Millionen von Menschen immer mal wieder einfach so dahingerafft haben. Dass die Natur heute fast schon zu einem Götzen erhoben worden ist, der ehrfurchtsvoll in den Kathedralen der Biosupermärkte und Grünen-Parteitage angebetet wird, hat viel mit den Erfahrungen zu tun, die der Mensch sammelte, seitdem er noch Mammutsteaks am Lagerfeuer brutzelte, was im Übrigen aufgrund des Proteingehalts dieser Mahlzeit auch für seine “hirn-genetische” Entwicklung förderlicher war als Kürbis, Avocados und Quinoa. Erfahrungen, an die wir uns heute nicht nur erinnern, sondern auf die wir immer noch und immer wieder zurückgreifen, wenn die Natur eben nicht „gut“ zu uns ist, sondern uns ihre als grausam empfundene Seite zeigt, in Zeiten der Not durch von der unbewussten Natur heraufbeschworenen Gefahren, die uns bedrohen, die uns verletzten oder gar töten können. In diesen Zeiten, die früher viel häufiger waren als heute, bleibt dem Mensch seit Anbeginn seiner Zeit eigentlich immer nur Zweierlei, welches er zu seiner Rettung der gefährlich gewordenen Natur entgegensetzen kann und konnte. Und das eine ist seine Kunst und das andere seine Fähigkeit zur Solidarität.

Wobei „Kunst“ in diesem Sinne kein schönes Gemälde oder nette Skulptur meint, sondern das spezifisch Menschliche, das der Mensch der Natur abgerungen und zwischen sich und sie gelegt hat, um immer weniger von ihren „Launen“ abhängig zu sein, um nicht mehr als Jäger und Sammler von der Hand in den Mund zu leben, in langen Wintern verhungern oder erfrieren zu müssen oder anders ausgedrückt: Um seine Existenz planbarer und damit sicherer gestalten zu können. Seine Kunst fusst auf den Erfahrungen, die er gemacht hat, und auf den Techniken, die er ersonnen hat, und auf dem Wissen darüber, welches von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Und so bestand seine Kunst am Anfang aus einfachen Werkzeuge und Waffen, primitiven Jagdtechniken, dann aus Ackerbau und Viehzucht, Handwerk, später aus Arbeitsteilung, Mechanik, Dampfmaschinen, V8-Verbrennungsmotor, Elektronik aber auch Wissenschaft, Forschung und Bildende Kunst. Der Mensch entfernte sich so immer mehr von dem, was man heute im „Einklang mit der Natur zu leben“ nennt. Und er entfernte sich davon, eben weil er unabhängig werden wollte von diesem unbewussten Prozess des „Try and Error“, der ihm mal eine Gunst gewährte und ein ander Mal nach dem Leben trachtete. Und in dem Masse, wie der Mensch sich von der Natur entfernte, verlor sie auch an Schrecken für ihn, denn ganz im im Gegenteil, durch seine Kunst machte der Mensch die Natur bis zu einem gewissen Punkt immer beherrschbarer, und so erschien sie ihm jetzt immer weniger abweisend und gefährlich. In früheren Zeiten aber, als seine Kunst noch nicht so ausgeprägt war, der Mensch der Natur fast ohnmächtig ausgeliefert blieb, er von ihren Launen etwa in der Landwirtschaft existentiell abhängig war, hatte er oft nur ein einziges Mittel, ihr zu begegnen. Und das war sein Glauben, der eine „übernatürliche“ Instanz eröffnete, die sogar mächtiger war als die Natur selbst, und an die sich der ohnmächtige Mensch wenden konnte, mit der Bitte, die Natur in seinem Sinne zu besänftigen. Das Erntedankfest ist ein Überbleibsel aus dieser Zeit, ein uralter Ritus, der schon in vorchristlicher Zeit historisch belegt ist. Jetzt, da wir uns durch unsere Kunst immer mehr selbst helfen können, da wir selbst Macht über die Natur haben, benötigt der Mensch den Glauben als übernatürliche Instanz zur Gefahrenabwehr einer launischen Natur immer weniger, was auch dazu beitrug, die „guten“ oder die „schönen“ Seiten der Natur, die es ja fraglos immer auch gab, nicht nur überzubetonen, sondern ihr auch menschliche Werte zu unterstellen, sodass Natur für viele zu so einer Art modernen, pantheistischen und gütigen „Mutter Natur“ geworden ist, die oft nicht nur auf eine Stufe mit dem Glauben gestellt wird, sondern diesen für viele schon längst ersetzt. Dennoch tut der Mensch gut daran, an seinen Instrumenten der Gefahrenabwehr, an seiner Kunst gegen eine wüste Natur festzuhalten, weshalb er weiterhin Feuerwehren, Technisches Hilfswerk sowie beispielsweise Massnahmen zum Hochwasser- und- Küstenschutz unterhält. Man kann ja nie wissen…

Das neben seiner Kunst zweite gar nicht so spezifisch Menschliche, das Menschen auch heute noch wie seit Anbeginn ihrer Zeit einer feindlich gewordenen Natur entgegenwerfen, ist ihre Solidarität. Wobei man diesen Begriff auch beinahe synonym durch ältere Begriffe ersetzen könnte wie beispielsweise die der Nächstenliebe, der Brüderlichkeit oder auch der Kameradschaft. Alle vier schillern in unterschiedlichen Bedeutungsfarben, enthalten aber denselben begrifflichen Kern, das Einstehen der Mitglieder eines sozialen Verbandes füreinander und miteinander zur Abwehr einer äusseren Gefahr oder zur Beseitigung einer Notlage, wobei es fast einerlei ist, ob sie dies ausschliesslich für sich selbst tun oder sozusagen stellvertretend für Dritte, denn selbst dann, wenn man sich nur für Dritte in eine Solidarität einbringt, tut man dies in einem übergeordneten Sinne immer auch für sich selbst, da man ein existentielles Interesse daran haben muss, das Prinzip der Solidarität zu erhalten, eben weil man selbst irgendwann davon profitieren könnte. Ein Verhalten, das sehr grundsätzlich auch bei Tieren wie beispielsweise Menschenaffen, Wölfen, Delphinen, Walen und Rabenvögel beobachtet werden kann, und dem die schlichte Erkenntnis zugrunde liegt, dass man Herausforderungen gemeinsam bewältigen kann, denen man als Individuum fast schutzlos ausgeliefert wäre.

Sollte also der unwahrscheinliche Fall eintreten und wir würden in unserer Einrichtung mit einer wüsten Natur in Form eines gefährlichen Virus konfrontiert, wären wir gleichzeitig zurückgeworfen auf dieses uralte Prinzip der menschlichen Kunst im Verein ihrer Solidarität. Und was die Kunst anging, machte ich mir keine Sorgen, denn unsere Kunst ist die Pflege und unser Pflegedienst kann hervorragend arbeiten. Was mich aber zunehmend in Sorge versetzte, war die Frage der Solidarität. Und diese Sorge gründete sich nicht im Charakter unseres Pflegedienstes, dieser ist – um es mal so zu formulieren – äusserst robust, meine Sorge gründete sich im damaligen Agieren unserer Bundesregierung. Denn obwohl ein ausgewiesener Experte der SPD, welcher sogar an der Harvard School of Public Health der Harvard University ein Studium der Epidemiologe absolviert hatte, seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages ist und dort, abgesehen von den vier Jahren der CDU/FDP-Koalition, die Gesundheitspolitik als SPD-Gesundheitsexperte massgeblich mitbestimmt hatte, so wie er sich derzeit penetrant durch alle Talkshows der Republik quakt, hatte die Bundesregierung – und somit auch er – ihre Kunst der Gefahrenabwehr gegen eine wüste Natur in Form eines gefährlichen Virus leider vernachlässigt. Und vielleicht auch weil wir in Sachen Schutzbekleidung zu Anfang der Corona-Krise völlig blank waren, vernachlässigte die Bundesregierung nach der Kunst des uralten Prinzips der menschlichen Kunst im Verein mit der Solidarität auch deren zweite Säule: Die Solidarität. Statt dieser wählte sie lieber die Furcht, eine Furcht, die jetzt aber ohne die Kunst bleiben musste, welche in dieser Situation die angemessenere Wahl gewesen wäre. Also suchte man einen Ersatz für die fehlenden Masken, deren Fehlen auf politisches Geheiss von Wissenschaftsfunktionären des RKI zunächst bagatellisiert wurde, um sodann von einem Virologen auch durch die Furcht ersetzt zu werden, dessen eigentlicher Behuf die Biologie dieser kleinen Viecher ist, welcher nun aber durch typisch deutsche Erlösersehnsucht in Nullkommanix zum Superuniversalgelehrten avancierte, weil er in sich gefühlt auch die Kompetenzen von Immunologie, Epidemiologie, Soziologie und Psychologie vereinte, um in der letztgenannten Super-Eigenschaft die nachdrückliche Terrorisierung der gesamten Bevölkerung zu empfehlen, damit ein jeder „so verängstigt sei, dass er es nicht mehr wage, den Knopf im Aufzug zu drücken“. Flankiert wurde diese „Strategie der jetzt doppelten Furcht“ durch ein Papier des Bundesinnenministeriums, welches angeblich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, in dem aber ein Worst-Case-Szenario entworfen wurde, welches von 1,2 Millionen Corona-Toten in nur zwei Monaten ausging und ausserdem seinerseits empfahl, eine gewisse „Schockwirkung“ in der Gesellschaft zu erzeugen und dazu insbesondere die jungen Menschen medial unter Feuer zu nehmen, von denen man annahm, dass diese die Pandemie auf die leichte Schulter nehmen könnten, da sie aufgrund der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse über Covid-19 davon ausgehen konnten, diese Krankheit wenig fürchten zu müssen. Maximale Verschreckung war jetzt angesagt, auch um von den Versäumnissen der Politik abzulenken, und Drostens Aufzugsknopf gab die Richtung vor, anstatt den Menschen Mut zuzusprechen und an ihre Solidarität zu appellieren, wollte man sie lieber in ihre Ställe treiben wie Vieh. Eine beispiellose Panikmache mit dem ausgewiesenen Ziel der Durchhysterisierung der Gesamtbevölkerung setzte ein, auf allen Kanälen, Programmen und Nachrichtenseiten. Ein Brennpunkt jagte die nächste Sondersendung und ein Podcast die nächste Talkshow, alles garniert mit den üblichen Experten der üblichen Universitäten und üblichen Instituten, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten wie Pilze aus dem “wissenschaftlichen” Humus geschossen sind, und offenbar reichlich Pfründe zu verteilen haben, und neben den Klappspaten vom RKI allerlei „Wissenschaftliches“ zu verkünden hatten, das sich zwar innerhalb von Tagesfrist diametral widersprechen konnte, Widersprüche, die dann aber flugs als irgendwie doch „wissenschaftlich“ definiert wurden, weil „wissenschaftliche Erkenntnisse“ nunmal durch neuere „wissenschaftliche Erkenntnisse“ widerlegt werden könnten, auch wenn diese im Kern mal wieder nichts weiter waren als politisch erwünschte und leichtfertig ausgesprochene Vermutungen auf einem zunehmend anschwellenden Jahrmarkt der Eitelkeiten, was ein beredtes Zeugnis ablegt über einen Teil des deutschen Wissenschaftsbetriebs und ein ganz besonderes Licht wirft auf die „wissenschaftlichen“ Expertisen hinsichtlich anderer gesellschaftlich relevanter Fragen. Das Trommelfeuer des Horrors aus dem politisch-akademischen Komplex aber, sehr lustvoll von den meisten Medien unterstützt, erreichte schliesslich seinen Zweck, einmal auf den Knopf gedrückt, rauschte der drostsche Aufzug geradewegs in die Abgründe einer aufziehenden Apokalypse. Weite Teile der Bevölkerung ergaben sich in willfähriger stiller Panik, die sich schliesslich in Übersprungshandlungen wie dem Horten von Toilettenpapier entlud und ausserdem dazu führte, dass der politisch frei flottierende Teil der vornehmlich weiblichen Bienchenfreunde und Klimaretter – ein nahender Virus ist eben eine viel konkretere Gefahr als ein abstrakter zukünftiger Klimawandel – sich nach einer starken Schulter sehnte, was die Umfrageergebnisse der CDU und CSU für diese äussert erfreulich gestaltete und natürlich dazu beitrug, dass die Strategie der Furcht nochmals verstärkt und betont wurde. Beinahe schon dankbar wurden dann die unerträglichen Zustände auf französischen und vor allem italienischen Intensivstationen zum Anlass genommen, den Fokus der Krisenbewältigung wieder ein Stückchen weiter weg von der verpatzten Vorsorge hin auf die Intensivmedizin zu legen. Die deutsche Front im Kampf gegen das Virus verlief nun durch die Intensivbetten der Nation, da man dort doch so viel besser aufgestellt war als unsere europäischen Nachbarn. Ein paar Erfolgsmeldungen also in einem entfachten Strudel aus Furcht, einer Krisenbewältigungsstrategie, welche die Regierenden jetzt und in Anbetracht der im internationalen Vergleich niedrigen Fallzahlen als alles in Allem als gelungen bezeichnen.

Blöd nur, dass es für diese Strategie der nachhaltigen Verschreckung ausser einem noch fernen Impfstoff, von dem man heute noch nicht einmal weiss, ob er jemals wirksam sein kann, keinerlei Exit-Strategie gibt, sodass eine ganze Generation von Schülern und Studenten die für ihre Bewusstseinsbildung katastrophale Erfahrung machen muss, dass es mehr als okay ist, sich in die Büsche zu schlagen, sobald Ungemach droht.

Und blöd nur, dass der eilig und tapfer errichteten Intensivbettenfront einige Vorposten vorgelagert waren, die man ganz vergessen hatte, während man auf dem Weltmarkt die letzten verblieben Schutzausrüstungen für den Klinikbetrieb zusammenraffte. Aber auch Pflegekräfte der Pflegeeinrichtungen sollen über Radio, Fernsehen und Internet verfügen und waren der Kaskade der Schreckensmeldungen seinerzeit, wonach das Virus auch aus den Lungen junger Menschen in kürzester Zeit Hackfleisch machen würde, schutzlos ausgeliefert. Und so war es dann nicht besonders verwunderlich die ersten Berichte über „Corona- oder Todesheime“ zu vernehmen, in denen sich komplette Pflegedienste verflüchtigt hatten und zuhause sassen, während der Betrieb nur noch durch den Einsatz der Bundeswehr oder des THW oder teurer Honorarkräfte notdürftig gewährleistet werden konnte, wenn er nicht sogar gänzlich in eilig leergeräumte Rehakliniken ausgelagert werden musste. Das sind keine sehr beruhigenden Nachrichten für den Geschäftsführer einer kleinen und vollkommen unbedeutenden Pflegeeinrichtung im Nordschwarzwald, dessen Pflegedienst überdurchschnittlich jung ist, und der alles andere als optimal auf dieses Virus vorbereitet war. Und wenn ich mir unter normalen Umstanden sehr sicher gewesen wäre, dass wir, dass unser Dienst dieser Herausforderung – so sie denn käme – gewachsen ist, konnte ich mir dessen unter diesen Umständen nicht mehr sein. Denn wir hatten keine normalen Umstände, wir hatten vielmehr ein politisch-”akademisch” initiiertes und medial ungeheuer verstärktes Klima der glimmenden Panik, das ungefähr zu gleichen Teilen aus Furcht und Paranoia bestand. Dennoch war die Versorgungssicherheit unserer Bewohner unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, auch wenn ich und die Politik den Begriff „Versorgungssicherheit“ höchst unterschiedlich definierten, denn die Landesregierung definierte Versorgungssicherheit als das Bereitstellen von Ersatzversorgungsstrukturen wie externe Pflegekräfte aus irgendeinem Pflegepersonalpool oder leergeräumte Stationen in Rehakliniken oder eben Honorarkräfte. Und auch wenn die Bereitstellung dieser Ersatzversorgungsstrukuren seitens der Politik uns keinen Cent extra gekostet hätte, definierte ich Versorgungssicherheit demgegenüber als die unbedingte Aufrechterhaltung der Versorgung der Bewohner durch unseren eigenen Pflegedienst, eben weil dieser in einer solchen Krise das wertvollste Instrument im Kampf gegen das Virus sein würde, ganz einfach weil der eigene Pflegedienst in der Versorgung der eigenen Bewohner eingespielt, routiniert und durch nichts wirklich zu ersetzen ist, gerade weil er seine Bewohner bestens kennt.

Und so bestand unsere Vorbereitung konkret aus zweierlei, zum einen verstärkten wir uns personell, und hier vor allem durch junge Frauen, die sich bisher als sehr robust gegen das Virus erwiesen hatten, um etwaige Ausfälle im Pflegedienst besser kompensieren zu können, und zum anderen mussten wir, musste ich der regierungsamtlichen Panikverordnung, die insbesondere auf junge Menschen zielte, irgendetwas entgegensetzen. Und so setzte ich auf das Wort oder anders formuliert: Ich setzte darauf, den Mitarbeitern Mut zuzusprechen, ich setzte auf Ansprachen und ich appellierte an ihre Solidarität. Dabei gab es nur ein Problem, ich hasse sowas, ich hasse es, mich vor andere Menschen zu stellen und irgendwelche Ansprachen zu halten, so wie ich es hasse, wenn sich jemand vor mich stellt, um dann auch noch irgendeinen gefühligen Mist zu erzählen, der immer mehr an die Emotionen als an den Verstand appelliert. Und das hat vielleicht damit zu tun, dass ich oft den Eindruck habe, wenn mir mal wieder ein selbsternanntes Alphamännchen oder -weibchen einen gefühligen Mist erzählt, dass dieser gefühlige Mist nicht passt, er oft sehr aufgesetzt und unecht wirkt, vielleicht auch weil ihm in einer wohlstandsverwahrlosten Befindlichkeitsgesellschaft wie der unseren oft der echte Kontext mangelt und so nur das hohle und erfolglos bemühte Pathos übrig bleibt. In unserer konkreten Situation jedoch war das jetzt anders, denn es war etwas da draussen, das würde uns hart prüfen können, eine wüste und gefährlich gewordene Natur, auf die wir alles andere als optimal vorbereitet waren. Wir hatten somit einen äusserst konkreten Kontext. Und vielleicht war das auch der Grund, dass ich mich überwinden konnte und mich Sätze sagen hörte, die ich noch vor einiger Zeit nicht für möglich gehalten hätte.

Ich sagte, dass ich vor dem Virus keine Angst habe, aber sehr wohl davor, dass sie weglaufen und unsere Bewohner alleine lassen könnten. Ich sagte, dass in den Medien derzeit eine Panikmache ohnegleichen laufe, sie sich aber nicht verrückt machen und stattdessen lieber Germanys Topfmodel schauen sollten, das täte ich auch (was tatsächlich stimmte). Ich sagte, sie seien jung und hätten anders als unsere Bewohner, die dem Virus nur wenig bis nichts entgegenzusetzen hätten, nach allem was man wusste, nichts zu befürchten. Ich sagte, dass die Vor-Corona-Welt untergegangen sei und auch nie mehr zurückkehren werde, weshalb wir lernen müssten, mit und in dieser neuen Welt zu leben. Ich sagte, dass das Virus mittlerweile auf der ganzen Welt sei, man ihm vielleicht entkommen könne, wenn man in den tiefsten Amazonas reist oder auf die höchsten Himalaya-Gipfel steigt. Dass dort aber andere Lebensrisiken auf sie lauern würden wie giftiges Getier oder lebensfeindliche Temperaturen, weshalb wir verstehen müssten, dass Corona nichts anderes ist als ein weiteres normales Lebensrisiko unserer Zeit. Ich sagte, dass das Aufkommen dieser Krankheit auch deshalb zu einer Zäsur werden könnte, die im Gedächtnis der Menschheit haften bleibt, sodass vielleicht eines Tages jemand sie fragen wird, Mama, Papa, Opa, Oma, was hast Du gemacht in dieser Zeit? Und ich sagte ihnen, dass es dann besser ist, eine gute Antwort zu haben, denn eine schlechte Antwort auf diese Frage schleppt man ein Leben lang mit sich rum. Und ich sagte ihnen auch, dass wenn das Virus es ins Haus schafft, Bewohner sterben werden. Und es dann unsere Pflicht wäre, den Hinfälligsten unter ihnen den letzten Dienst zu erweisen und ihnen die Viecherei auf der Intensivstation zu ersparen, sodass sie bei uns sterben könnten, in ihrem letzten Zuhause.

Und ja, ich sagte auch, dass es dann Ausfälle geben würde im Pflegedienst, weshalb es notwendig werden könnte, infiziert hinter Maske auf Station zu arbeiten, solange man keine Symptome hat.

Und so hörte ich mich in diesen späten Märztagen und auch noch in den ersten Apriltagen viele Sätze sagen, von denen ich nie gedacht hätte, sie jemals sagen zu können, worüber ich mich heute wundere, und ich wundere mich heute nicht über diese Sätze, weil sie womöglich falsch gewesen waren oder es heute in der Rückschau geworden sein könnten, sondern ich wundere mich über diese Sätze, da sie in ihrer Eindringlichkeit den Eintritt in einen Gemütszustand zu markieren schienen, der denjenigen nur schwer zu beschreiben ist, welche nichts Ähnliches erlebt haben. Eine Aktivierung dieses spezifisch Menschlichen, das in uns schlummert, das ein Band webt in eine Gemeinschaft, welches uns in die Lage versetzen kann, die Angst vor einer Herausforderung nicht nur der Natur zu überwinden, um ihr in menschlicher Solidarität geschlossen und entschlossen entgegenzutreten. Ein Gemütszustand der inneren Alarmierung, der absoluten Fokussierung und der verschmelzenden Versenkung in ein Wir, der aus Dienst Pflicht werden lassen muss, aus Kollegialität Kameradschaft und aus Motivation Opferbereitschaft, um aus einer Gruppe von Individuen eine unbedingt solidarische Gemeinschaft zu formen, die nur ein – ihr ganz eigenes Ziel verfolgt.

Und während ich so redete und redete, kam das Virus unbemerkt immer näher und näher, bis eines Tages die beauftragte Ärztin des Gesundheitsamtes auf den bereits seit sieben Tagen erkalteten Spuren einer Kontaktperson bei uns erschien, um einen Stichprobe unserer Bewohner auf das Virus zu testen. Diese Stichprobe offenbarte drei Corona-positive Bewohner, was eine erweiterte Reihentestung erforderlich machte, die bei zwei weiteren Bewohnern positiv anschlug. Das Virus war gewissermassen hinter unsere Mauern getragen worden und damit nicht schlimm genug, auch noch vornehmlich direkt in das „Allerheiligste“, der Bereich, in dem wir unsere pflegebedürftigsten, hinfälligsten und fragilsten Bewohner pflegen und betreuen. Und weil der letzte Kontakt mit der Person, welche das Virus zu uns brachte, schon sieben Tage alt war, mussten wir zwingend davon ausgehen, dass das Virus bereits gestreut hatte und nach dem Ablauf der Inkubationszeit noch mehr Infizierte unter den Bewohnern zu erwarten waren. Nicht viel besser sah es bei den Mitarbeitern aus, eine erste Reihentestung unter ihnen offenbarte drei infizierte Mitglieder des Pflegedienstes. Auch hier war mit Ablauf der Inkubationszeit mit weiteren Infizierten zu rechnen, die sich in den Pausen oder auch bei privaten Kontakten angesteckt hatten. War der Schaden, den das Virus bereits angerichtet hatte, also noch vergleichsweise gering, „nur“ fünf Bewohner waren betroffen und der Pflegedienst war mit drei Betroffenen noch intakt und arbeitsfähig, sollte sich das aber mit Ablauf der nächsten Tage ändern, obwohl wir natürlich inständig auf ein kleines Wunder hofften, während wir die fünf infizierten Bewohner auf einer Quarantänestation isolierten und die Stationen II und III, von denen diese Bewohner stammten, in strikte Zimmerpflege nahmen. Statt eines Wunders erreichte mich eines frühen Morgens dann an Anruf von Oberschwester, ich war noch mit dem Hund im Wald unterwegs, um mir das Ergebnis der letzten Testreihe mitzuteilen: 21 weitere Bewohner waren infiziert, wobei sie das Wort „Einundzwanzig“ nicht wirklich sprach, sie schluchzte es. Und es war dieses Schluchzen, das mich bis ins Mark traf. Meine Knie wurden weich. Ich brauchte eine zähe Unendlichkeit, um wieder einigermassen klar denken zu können, während ich wie im Nebel mit dem Hund zu meinem Auto zurück stapfte. So viele infizierte Bewohner konnten wir unmöglich auf unserer isolierten Quarantänestation unterbringen, wir lösten diese also auf und gruppierten uns um. Auf Anraten des Gesundheitsamtes bildeten wir drei Stationen und Teams: Rot, Orange und Grün. Auf Rot kamen alle einwandfrei positiv getesteten Bewohner, auf Orange alle Bewohner, die negativ getestet worden waren, die aber näheren Kontakt zu den infizierten Bewohnern gehabt haben könnten, und sich deshalb womöglich noch in der Inkubationszeit befanden, und auf Grün schliesslich alle Bewohner, die keinen Kontakt zu den infizierten Bewohnern gehabt und sich sehr wahrscheinlich auch aufgrund unserer frühen Quasi-Quarantäne nicht infiziert hatten. Allen Stationen wurden feste Teams zugeordnet, wobei jedes Team von den anderen Teams separiert wurde, indem jedes Team ein eigenes Treppenhaus sowie separate Pausen- und Umkleide zugewiesen bekam. Dies geschah in aller Hektik während eines Horrorwochenendes, an dem der Schwesternruf und das Telefon nicht aufhören wollten zu klingeln, vermummte Gestalten in Vollschutz über Station rannten, um Bewohner und deren Habseligkeiten ein Quarantänequartier in einem anderen Zimmer zuzuweisen, es dementen Bewohnern, die den Ernst der Lage natürlich nicht verstanden, nur sehr schwer begreiflich gemacht werden konnte, dass sie ihre Zimmer nicht mehr verlassen durften, und gleichzeitig viele infizierte Bewohner Covid-19 Symptome und nicht wenige auch einen schweren Krankheitsverlauf entwickelten. Weiterhin prekär blieb die Versorgung mit Schutzausrüstungen, zwar wurden wir jetzt vom Gesundheitsamt priveligiert mit Schutzausrüstungen versorgt, nachdem sie die orangene und rote Station unter offizielle Quarantäne gestellt hatten. Priveligiert bedeutete allerdings nicht, dass wir im Überfluss schwelgten, vielmehr verfügte auch das reiche Baden-Württemberg nur über sehr wenig Schutzausrüstungen, die auch nicht immer guter Qualität waren. Natürlich waren wir dankbar für alles, was sie uns lieferten, aber sich in dieser zentralen Frage allein auf das Land zu verlassen, das offenbarte sich früh, wäre ein Fehler gewesen. Also rationierten wir zunächst das Wenige, was wir hatten, jeder Mitarbeiter bekam eine FFP-2 Maske für zwei Tage, die er mit seinem Namenskürzel zu versehen hatte, um sie nach Schichtende vorsichtig abzunehmen und sie bis zum nächsten Tag in einer personalisierten Nierenschale zwischenzulagern. Nach zwei Tagen wurden die gebrauchten Masken in eine Plastiktüte gesteckt und aufbewahrt. Sollte es mir nicht gelingen Nachschub aufzutreiben, wollte ich diese Masken in einem Vakuumtrockenofen desinfizieren, um sie erneut an die Mitarbeiter ausgeben zu können. Ein heikler Plan, der zeitweise ohne echte Alternative war, denn mittlerweile hatte das Virus auch Indien und die Vereinigten Staaten erreicht, was den Markt für Schutzausrüstungen vollends zusammenbrechen liess und nicht wenige westliche Regierungen dazu veranlasste, sich bei den Vorräten korrupter Entwicklungsländer zu bedienen, um sich die „Beute“ dann auch noch gegenseitig abzujagen. Ich musste also damit rechnen, dass wir auf längere Sicht auf die Hilfslieferungen des Landes angewiesen waren. Aber da hatten wir dann zum ersten Mal so etwas wie Glück in dieser Krise. Es erreichte uns durch eine eMail unserer Kurpfarrerin und durch einen Anruf eines unserer Hausmeister, beide hatten möglicherweise Quellen für den Bezug von Schutzausrüstungen aufgetan. Bei diesen handelte es sich allerdings nicht um normale Lieferanten, sondern eher um bisher branchenfremde Glücksritter, die sich irgendwie einen Vertriebsweg aus China heraus eröffnet hatten, was unseren Lieferanten als auch der Politik bisher nicht gelungen war. Wir bestellten zunächst kleinere Chargen, um die Qualität zu prüfen. Mittlerweile war ich zu so etwas wie einem Experten für Atemschutzmasken geworden. Die Qualität der gelieferten Masken war sehr gut, der Preis angemessen, aber nicht zu hoch. Diese Dinger wurden seinerzeit, Mitte April, zu Tagespreisen gehandelt, da sie beinahe zu so etwas wie eine inoffizielle neue Weltwährung geworden waren. Wir kauften bei unseren neuen Lieferanten zu Preisen von 2,10 bis 4,00 Euro pro Stück und zwar en gros, denn es war damit zu rechnen, dass auch diese Quellen nicht ewig sprudeln würden. Einer der Lieferanten lieferte nur noch per Spedition aus, der andere gar persönlich, allerdings im Kofferraum, auf den umgelegten Rücksitzen und dem Beifahrersitz eines alten VW Sharan. Keiner in diesem sehr speziellen Business vertraute in diesen Tagen mehr dem normalen Postwege, da nicht wenige dieser in vielen Kliniken und Pflegeeinrichtungen sehnlichst erwarteten Lieferungen einfach „verloren gingen“. Es war die Zeit, als grössere Lieferungen an Kliniken von der Polizei mit Blaulicht eskortiert wurden. Und es war die Zeit, als ich zunehmend nervös den Firmensitz eines der Lieferanten auf Google Maps per Streetview studierte, an den wir 80.000 Euro Vorkasse für Masken und Overalls überwiesen hatten. Aber beide Lieferanten hielten Wort und lieferten gute Qualität, und ich gab irgendwann an die Stationen durch, dass wir uns den „Luxus“ von einer Maske pro Mitarbeiter am Tag erlauben konnten, was mir eine grosse Erleichterung war. Wir mussten die Versorgung durch das Land nicht mehr in Anspruch nehmen und standen fortan bezüglich der Versorgung mit Schutzausrüstungen logistisch auf eigenen Füssen.

Während die Bewohnerschaft von einer Ärztin im Auftrag des Gesundheitsamtes an einem bestimmten Termin im Haus getestet wurde, mussten die Mitarbeiter für ihre zweiten Tests die zentralen Testcenter des Landkreises ansteuern. Dies vollzog sich gruppenweise und über eine ganze Arbeitswoche hinweg, was dazu führte, dass die Testergebnisse der Mitarbeiter tröpfchenweise von Tag zu Tag eintrafen und wir somit gezwungen waren, die Pflege der Bewohner laufend umzuorganisieren, da uns immer mehr Mitarbeiter aus dem Dienst wegzubrechen drohten. Und so zählten wir zunehmend konsterniert die nacheinander eintrudelnden positiven Bescheide unserer Mitarbeiter. Das Ergebnis war in der Summe niederschmetternd. Denn zu den ersten vier positiven Testergebnissen gesellten sich acht weitere im Pflegedienst. Eine anschliessende Reihentestung auf den Stationen Orange und Grün offenbarte auch noch vier weitere infizierte Bewohner auf der orangenen Station für die Kontaktpersonen. Und weil das alles noch nicht schlimm genug war, überbrachte die Corona-Ärztin des Gesundheitsamtes das letzte Testergebnis an einem Donnerstagmorgen daraufhin persönlich und liess es sich aufgrund des dabei vorgefundenen „Allgemeinzustandes“ unserer Oberschwester auch nicht nehmen, diese ärztlich zu untersuchen. Im Ergebnis klingelte bei mir das Telefon und unser Sozialdienst informierte mich darüber, dass Oberschwester, die ja eigentlich schon im Rentenalter ist, nicht nur positiv war, sondern auch noch fieberte und eine Lungenentzündung entwickelte, was sie aber nicht davon abhielt, sich lautstark mit der Ärztin zu streiten, da sie sich zunächst weigerte von Station zu gehen.

So also war unsere Situation am 24. April. Die gütige und wundervolle „Mutter Natur“ hatte uns einen fürchterlichen und wüsten Schlag versetzt. Wir beklagten insgesamt 30 Corona-positive Bewohner, 4 Bewohner waren bereits verstorben, die anderen schwebten in Lebensgefahr. 12 Mitarbeiter des Pflegedienstes waren ebenfalls infiziert, 3 weitere hatten die Nerven verloren und sich in den Krankenstand verflüchtigt. 4 Mitarbeiter des Therapeutischen Dienstes, den wir in den vergangenen Wochen zur Unterstützung des Pflegedienstes eingesetzt hatten, waren positiv.

Und dann hatten wir auch noch unsere Pflegedienstleitung verloren.

* Alle Namen geändert

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