Morbus Hysterie

Sie hatten also kein Sterillium mehr.

Eine Mitarbeiterin der Verwaltung und ich klapperten am letzten Freitag des Februars 2020 telefonisch den Grosshandel ab, nachdem eine schnelle Internetrecherche ergeben hatte, dass die Desinfektonsmittelbestände der Republik knapp zu werden drohen. Normalerweise haben wir immer so zwei Monate Reserve auf Station und im Lager, Desinfektionsmittel für die Hände, das besagte Sterillium, aber auch noch andere Desinfektionsmittel für Flächen oder als Zugabe für das Wischwasser. Und normalerweise langt das auch. Aber irgendwie sind das keine normalen Zeiten.

Sie hätten noch ein anderes Mittel, eine Eigenmarke mit den gleichen Eigenschaften wie Sterillium, sagte die Dame vom Vertrieb der Grosshandelsfirma zu meiner Mitarbeiterin am Telefonhörer, die das Telefon laut gestellt hatte und jetzt fragend zu mir rüber schaute. Ich nickte und sagte: „Gebinde?“, woraufhin sie den Vertrieb des Grosshandels nach dem grössten lieferbaren Gebinde fragte, da ich mir überlegt hatte, dass vielleicht von den grösseren Gebinden noch am meisten verfügbar sein müssten, da 5 Liter Kanister nunmal schlecht in Handtaschen passen. Die Dame vom Vertrieb sagte, 5 Liter, woraufhin ich per Handzeichen 5 Kanister bestellte, dann testeten wir die Verfügbarkeit der 1 Liter Flaschen und 100 ml Fläschchen, obwohl diese kleinsten Gebinde für uns eher umständlich sind, aber egal, wir bestellten und bestellten, bis die Dame vom Vertrieb sagte, jetzt hätten wir die Obergrenze erreicht, mehr dürfe sie uns nicht geben.

Schwieriger war es mit dem Flächendesinfektionsmittel, hier war der Grosshandel bereits komplett blank. Aber wir fanden noch eine nennenswerte Menge bei Ebay und bestellten, bevor die Preise dort durch die Decke gingen.

Somit hatten wir die Desinfektionsmittel-Reserve des Hauses auf eine Menge erhöht, die normalerweise so bis zu vier Monate reicht. Aber das sind ja keine normalen Zeiten.

Und dass das keine normalen Zeiten sind, hat zum einen natürlich mit dem neuen Krankheitserreger zu tun, der mittlerweile seinen Weg aus China nach Europa und nach Deutschland und nach Baden-Württemberg gefunden hat, und der in den Medien wahlweise Coronavirus oder Sars-CoV-2 heisst, ein Virus, welches eine Lungenerkrankung auslösen kann, die wiederum Covid-19 genannt wird, und zum anderen mit der augenblicklich nach seinem Eintreffen im Land einsetzenden Hysterie, die dafür sorgen sollte, dass so ziemlich alles, was man für die Routine-Hygiene eines Krankenhauses oder auch eines verschnarchten Pflegeheims benötigt, wie beispielsweise eben Desinfektionsmittel, aber auch Gummihandschuhe und Schutzmasken in kürzester Zeit ausverkauft, nicht mehr erhältlich war oder exorbitant im Preis stieg, weshalb es mir gerade nach Ausbruch der leider nicht so anormalen deutschen Hysterie ratsam erschien, die Lagerbestände aufzustocken, auch weil man aufgrund der mittlerweile stark erhöhten Nachfrage nach diesen Gütern und deren mittelfristig nur begrenzten Verfügbarkeit nicht weiss, wie viel man wann vielleicht wieder erwerben kann.

Und das alles wegen eines Virus, das auf den ersten Blick und ausweislich der mittlerweile über es erhobenen Daten nicht unbedingt über die Qualitäten verfügt, die eine solche Hysterie am Rande der Panik rechtfertigen könnten. Sars-CoV-2 ist kein Killer, wenn er auch nach offiziellen Zahlen eine Mortalität, das ist die Sterberate, von dennoch 1 – 2 % erreicht. Es wird und wurde in diesem Zusammenhang oft auf die Grippe verwiesen und insbesondere auf deren Mortalität von „lediglich“ 0,1 – 0,2 %, weshalb die Coronaviren sodann als zehnmal tödlicher deklariert werden. Ein Vergleich, der jedoch hinkt, da die Coronaviren ein gänzlich neuer Krankheitserreger sind, während die Grippe eine alte Bekannte ist, zu deren Bekämpfung jedes Jahr ein neuer Impfstoff entwickelt wird. Wie wohl so jedes anderes Pflegeheim empfiehlt auch das Haus Tanneck seinen Bewohnern eine Grippeschutzimpfung, da wir nunmal in der Regel ältere und gebrechliche Menschen pflegen und betreuen, deren Immunsystem aufgrund Alter und Vorerkrankungen nicht mehr in bester Verfassung ist, was sie zum bevorzugten Opfer der Grippe werden lässt, wenn sie nicht vorbeugend geimpft werden. Fast alle Bewohner des Haus Tanneck folgen unserer Empfehlung, und es ist davon auszugehen, dass fast alle Bewohner der anderen deutschen Pflegeheime gleichlautenden Empfehlung folgen, weshalb fast alle der über 780.000 deutschen Pflegeheim-Bewohner unter Impfschutz stehen, wenn die Grippesaison beginnt. Was geschehen würde, wenn diese immungeschwächten Menschen nicht geimpft wären, darüber gibt die Grippesaison 2017/18 Aufschluss, in deren Verlauf aufgrund eines vielleicht nicht so effektiven Impfschutzes insgesamt über 25.000 Menschen starben, darunter auch viele Pflegeheim-Bewohner. Es ist also zwingend davon auszugehen, dass jedes Jahr noch viel mehr immungeschwächte Menschen, nicht nur in den Pflegeheimen, an der Grippe sterben würden, wenn – wie bei Sara-CoV-2 – kein Impfstoff zur Verfügung stünde, was die statistische Mortalität der Grippe signifikant erhöhen würde.

Anders als bei der Grippe verlaufen nach den bisherigen Erkenntnissen ca. 81% der durch Coronaviren verursachten Erkrankungen mild. 50% der Erkrankten zeigen keine bis kaum Symptome. 15% erkranken jedoch schwer an der Lungenerkrankung Covid-19 und bedürfen sodann intensiver Pflege und medizinischer Behandlung, um zu überleben. Es handelt sich hierbei um dieselbe Risikogruppe wie bei der Grippe, Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Da jedoch die Infizierung von Menschen mit intaktem und gesundem Immunsystem lediglich einen milden Krankheitsverlauf mit keinen bis kaum Symptomen auslöst, ist damit zu rechnen, dass viele infizierte Menschen sich nicht wirklich krank fühlen und deshalb auch keinen Arzt aufsuchen, der die Krankheit diagnostizieren könnte, weshalb sie auch nicht als „infiziert“ registriert werden konnten, was die reale statistische Mortalität der Coronaviren verringern würde. Das ist wohl auch der Grund, warum ein führender Virologe Deutschlands die Mortalität des Coronavirus auf lediglich 0,3 – 0,7% taxiert, was diesen Erreger hinsichtlich seiner „Gefährlichkeit“ an die Mortalität des Grippeerregers UNTER Impfschutz annähert.

Es ist also nach heutigem Kenntnisstand zwingend davon auszugehen, dass die neuen Krankheitserreger gut in Griff zu bekommen sind, sobald endlich ein effektiver Impfstoff zur Verfügung steht.

Bis es aber soweit ist, haben die Menschen, Bewohner und Patienten, die sich uns anvertraut haben, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Arztpraxen und durch Ambulante Pflegedienste behandelt, gepflegt und betreut werden, nur einen Schutz, und das sind die Menschen, die jeden Tag in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Arztpraxen und Ambulanten Pflegediensten ihren Dienst aufnehmen, und was die Pflege und die klinische Medizin angeht: Schicht auf Schicht, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.

Und natürlich sind die Begleitumstände alles andere als gut, der Pflegenotstand zehrt schon jetzt viele Schichten auf, auch eine Folge davon, dass die Anwerbung von ausländischen Pflegefachkräften in der letzten Zeit systematisch hintertrieben und erschwert wurde (rp berichtet), da man sich lieber als Welt-, denn als Bundesgesundheitsministerium aufspielte, auf was an dieser Stelle aber nicht mehr näher eingegangen werden soll. In der Not sind auch die Nationen sich selbst die Nächsten, wohl denen, die auf ihren Territorien noch über nennenswerte Produktionskapazitäten verfügen, die noch nicht von einer Energiewende, überbordenden Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen, staatlich finanzierten NGOs und keifenden Bürgerinitiativen des Landes vertrieben worden sind, und somit das noch bereitstellen können, was das Land jetzt am dringendsten braucht: Chemikalien, Desinfektionsmittel, Medikamente und nicht zuletzt: Schutzausrüstungen und hier vor allem Atemschutzmasken mit Partikelfilterung. Wenn die erste Phase der versuchten Eindämmung der Krankheit durch Unterbrechen der Infektionsketten erfolglos geblieben ist, und danach sieht es momentan aus, kommt es ganz entscheidend darauf an, die Ausbreitung der Viren zu verlangsamen. Das gibt Zeit für die Entwicklung eines Impfstoffes, setzt aber auch die Strukturen des Gesundheitswesen und der Pflege nicht über Gebühr unter Druck, die bei einem schnellen Anfluten der neuen Krankheit und dem damit zwangsläufig verbundenen krankheitsbedingten Ausfall von Ärzten und Pflegekräften nicht wie in China auf den Entsatz durch eine über 2,2 Millionen Mann und Frauen starke Armee zurückgreifen können, die in der Lage war und ist, mal eben so mehrere tausende Mediziner und Pflegekräfte zur Seuchenbekämpfung abzustellen. Die Pflege in Deutschland hat keinen Entsatz, sie hat nur sich selbst, fallen schnell viele Pflegefachkräfte aus, fallen die Schichten auseinander und kollabiert die Versorgungssicherheit. Schon jetzt durchbrechen erste Krankenhäuser die 14-Tage-Quarantäne-Regel, die eigentlich vorschreibt, jede Pflegekraft, die in Kontakt mit einem Corona-Infizierten gewesen sein könnte, aus dem Dienst zu nehmen, da ihnen sonst schlichtweg die Schichten auseinander fliegen. Deshalb kommt diesen Atemschutzmasken eine ganz zentrale Bedeutung zu, sie entschleunigen die Durchseuchung der Pflege, die Infektionsrate bleibt im Idealfall vergleichsweise gering, erkrankte Mitarbeiter können durch wieder genesene ersetzt werden, und sollte dies nicht gelingen, ermöglichen diese Atemschutzmasken den Infektionsschutz von Patienten und Bewohnern, sollte die Epidemie, deren noch zarten Beginn wir gerade erleben, an Dynamik gewinnen und so grosse Lücken in die Pflegedienste reissen, dass darüber nachgedacht werden muss, auch infizierte Pflegekräfte, die jedoch weitestgehend symptomfrei und damit arbeitsfähig sind, zumindest zeitweise wieder einzusetzen.

Nach meinem Kenntnisstand verfügt Deutschland über keine nennenswerten Produktionskapazitäten dieser so wichtigen und derzeit weltweit stark nachgefragten Masken. Die Hysteriewellen der letzten Tage, die durch alle Baumärkte und Apotheken schwappten, hat die nationalen Bestände im Handel zudem auf NULL reduziert. Hat man jüngst noch 10.000 Schutzausrüstungen typisch deutsch-gefallsüchtig nach China expediert, dachte man im Bundesgesundheitsministerium erst über eine Beschlagnahme dieser entscheidenden Ressource nach, als die Messen in den Baumärkten und Apotheken schon gelesen und die Regale leer waren. Sodann fabulierte man etwas vom „Aufbau eines Nationalen Vorrats“, wohlwissend, dass ein Land ohne eigene Produktionskapazitäten damit schon hätte vor Monaten beginnen sollen und auch wohlwissend, dass kein Land mit eigenen Produktionskapazitäten derzeit angesichts der sich abzeichnenden Pandemie bereit sein wird, ein 82 Millionen Volk wie uns mit ausreichend vielen Schutzausrüstungen auszustatten, ganz egal, ob wir ihnen mal 10.000 geschenkt haben oder nicht. Schlussendlich bat man dann offensichtlich das renommierte Robert-Koch-Institut um wissenschaftliche Empfehlungen und zwar nicht für Ruanda, Bostwana oder Mali, sondern ganz ernst gemeint für die Bundesrepublik Deutschland, wie man Schutzmasken für den Einmalgebrauch mehrfach verwenden kann, was der Not geschuldet, aber hygienisch naturgemäss heikel ist. Derzeit lamentiert man über die böse Globalisierung – die hat eben immer schuld zu sein, wenn einem sonst nix mehr einfällt – und überbietet man sich mit hektischem Alarmismus und bestellt man wahlweise Millionen von Schutzmasken, deren Liefertermin ungewiss bleibt, oder erlässt man gleich Exportverbote für etwas, das man gar nicht mehr hat.

Dennoch bleibt es die vordringlichste Aufgabe der Politik, alles zu unternehmen, um doch noch den Nachschub von Schutzausrüstungen, Medikamenten und Desinfektionsmittel irgendwie sicherzustellen, will sie nicht den Kollaps der pflegerischen Versorgungssicherheit riskieren. Hierzu ist es flankierend notwendig, die Ausbreitung der Viren immer weiter zu verlangsamen, denn das kauft uns nicht nur Zeit, sondern bringt uns auch der wärmeren Jahreszeit näher, welche die Ausbreitung nochmals verlangsamen könnte. Und je schneller diese kommt, umso besser.

Derweil bereitet sich die Pflegelandschaft Deutschlands auf die kommende Herausforderung vor. Einige Einrichtungen und Dienste sind gut ausgestattet und vorbereitet, andere nicht. Allerdings geht auch der Vorrat der gut ausgestatteten Einrichtungen irgendwann zur Neige. Aber wer kann heute schon wissen, wie es letztendlich kommen wird?

Und wenn es dann doch so weit ist, wird Pflege ihren Dienst tun – so wie immer. Einen Dienst als dann schwere, aber immer noch vornehme Pflicht.

Runaway

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