Empfehlungen an die Pflege

Kennen Sie eigentlich Karl Lauterbach? Nee? Ach kommen Sie! Karl Lauterbach. Der SPD-Politiker mit der wirren Frisur und dem leicht irren Grinsen. Der mit der Fliege! Ja, genau der! Sehen Sie, Sie kennen ihn doch! Ist auch schwer, ihn nicht zu kennen, Lauterbach ist in der Öffentlichkeit ziemlich präsent, gern gesehener Gast in den Talkshows der Republik, geht er auch sonst keinem Mikrofon aus dem Weg, vor allem dann, wenn es um Gesundheitspolitik geht. „Karlchen Überall“, so nennen ihn seine Parteifreunde, hat sich mit seiner Auskunftsfreude einen hohen Bekanntheitsgrad in der Republik erarbeitet, der seltsamerweise in starkem Kontrast zu seiner tatsächlichen politischen Wischtigkeit steht. Denn obwohl Karlchen Überall seit 2005 dem Bundestag angehört und er aus dem gewichtigen SPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen kommt, hat es in mittlerweile 14 Jahren Talkshow- und Abgeordnetentätigkeit zu keinem einigermassen bedeutsamen Posten innerhalb des Politikbetriebes gereicht. Noch nicht einmal Staatssekretär ist der gefühlte Bundesgesundheitsminister geworden, stattdessen ziemlich viel stellvertretend. Stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Gesundheit. Stellvertretendes Mitglied im Finanzausschuss. Stellvertretendes Mitglied im Petitionsausschuss. Undsoweiter. Offensichtlich scheint man Karl Lauterbach innerhalb seiner eigenen Partei nicht so wahnsinnig viel Verantwortung oder gar Ministrabilität zuzutrauen und das, obwohl die Personaldecke der Partei in 17 Jahren Regierungsverantwortung innerhalb der letzten 25 Jahre mittlerweile so dünn geworden ist, dass die Führung der Partei neuerdings einem ausgemusterten Politikrentner und einem Nobody, die in ihrem eigenen Wahlkreis, nämlich hier, kaum jemand kennt, und einem 30jährigen Berufsjugendlichen anvertraut werden musste, und Lauterbach in schöner Regelmässigkeit seinen Wahlkreis immer direkt gewonnen hat, was auch in NRW in diesen für die SPD so unerfreulichen Zeiten keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Aber natürlich hat die Tatsache, dass Lauterbach seinen Wahlkreis immer direkt gewonnen hat, ganz viel mit seinem Beruf zu tun. Lauterbach ist Arzt. Und Ärzte wählen die Leute immer. Ärzte gehen wahrscheinlich noch besser als Pfarrer. Dabei ist Lauterbach streng genommen gar kein Arzt. Denn Ärzte sind Mediziner, die ihren Beruf, die Heilkunde, auch ausüben. Lauterbach ist aber kein praktizierender Mediziner, sondern praktizierender Apparatschik, der erst 2012 21 Jahre nach der Promotion zum Dr. med. die Zulassung als Arzt beantragte, drei Jahre, nachdem er sein bisher schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl eingefahren hatte und ein Jahr vor der nächsten. Denn Ärzte gehen eben immer.

Als angehender Apparatschik hat Lauterbach nach seinem Medizinstudium noch ein Studium in Gesundheitsökonomie und Epidemiologie draufgesattelt. Anschliessend startete er durch, 1998 mit 35 Jahren wurde er Direktor eines neugegründeten Instituts der Universität Köln, 1999 sass er bereits im „Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitsbereich“ der Bundesregierung, 2001 wurde er Berater der damaligen Bundesgesundheitsministerin Schmidt und trat in die SPD ein. 2005 gewann er zum ersten Mal sein Direktmandat und ist seitdem – ungewöhnlich für ein ehemaliges CDU-Mitglied – ziemlich weit links in der SPD verortet, vielleicht auch, weil er sich in einer rotrotgrünen Koalition bessere Chancen auf den Sessel des Bundesgesundheitsministers ausrechnet, der seit dem Ausscheiden von Ulla Schmidt 2009 durchgängig von FDP- oder Unionspolitikern besetzt worden war. Und da kann es natürlich nützlich sein, hin und wieder ein paar stramm antikapitalistische Spitzen fallen zu lassen, um das linke Profil zu schärfen. So darf man denn auf seiner Webseite unter der bescheidwissenden Überschrift „Das sind die Fakten zur Pflege“ Folgendes lesen:

„In Deutschland wird etwa die Hälfte der Pflegeheime von privaten Trägern betrieben. Deren wesentliches Anliegen ist Profitmaximierung.“

So leitet er den Text ein. Kein weiteres Wort über die anderen Träger von Pflegeheimen, wie etwa die SPD-nahe AWO. Stattdessen beschreibt er rosige Aussichten für die privaten Träger, da die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 2,9 bis 2050 auf 4,5 Millionen ansteigen wird.

„Das zieht Investoren an wie Motten das Licht, und Privatanleger können sich über zu erwartende Renditen von bis zu 7% freuen. Mit Pflegeheimen lässt sich gutes Geld verdienen.“

Wo er die 7% herhat? Leider gibt es dazu keine Quellenangaben. Aber immerhin sind die „Schuldigen“, die privaten Träger von Pflegeheimen, also die „Motten“, gleich zu Beginn seines Traktats eindeutig identifiziert. Im Anschluss wird dann mit Dreck geworfen:

„Kurzfristige Schwankungen lassen sich mit Einsparungen und Mehrarbeitszeit oft zu Lasten von Bewohnern und Pflegepersonal kompensieren. (…) Das (Die vorgeschriebenen Personalschlüssel – rp) ist eher realitätsfern und ein finanzieller Anreiz für personelle Unterbesetzung. Flexible Teilzeitverträge, bei denen der Monatsverdienst unklar ist und Beschäftigung je nach Auslastung erfolgt, sind in der Branche eine gängige Unsitte. Kein Wunder, dass der Pflegeberuf in Alten- und Pflegeheimen wenig attraktiv erscheint. Er macht überdurchschnittlich krank als andere Branchen, ist im Schnitt 30% schlechter bezahlt als im Krankenhaus und erfährt kaum gesellschaftliche Wertschätzung. Nach zehn Jahren sind noch 37% der Altenpfleger im Beruf tätig. Zwar steigen die Ausbildungszahlen, aber bei weitem nicht genug. Um wieviel mehr würden sie steigen, wenn die genannten Missstände beseitigt wären?“

Tja, da kann mal sehen, was die „Motten“ so alles angerichtet haben. Wahrscheinlich sind sie auch noch dafür verantwortlich, dass die Altenpflege zum ganz überwiegenden Teil immer noch ein Beruf von Frauen ist, von denen sich dann nicht wenige nach ein paar Berufsjahren in die Familienplanung verabschieden. Aber so viel Differenzierung wäre dann doch zu viel des Guten gewesen, der Herr Professor mag es lieber unterkomplex, weshalb natürlich die „Motten“ schuld zu sein haben an dem, was man landläufig „Pflegenotstand“ und was Lauterbach „Missstände“ nennt, die beseitigt werden müssen, damit die Pflege irgendwie einer goldenen Zukunft entgegen gehen kann.

Damit steht Karlchen Überall voll auf Verdi-Linie, wonach der böse Kapitalismus die Pflege ausbeute, indem er prekäre Arbeitsverhältnisse schaffe, die dem alleinigen Ziel der Profit-Maximierung dienen, welche schliesslich unweigerlich in unhaltbaren Zuständen münden muss.

Dass die Welt so einfach nicht ist, passt da nicht so recht ins Konzept einer verelendeten Pflege, die von Lauterbach, SPD und Verdi aus den Fängen des Kapitals gerettet werden muss. Pflege ist aber zunächst einmal Dienstleistung, deren Qualität tatsächlich von Einrichtung zu Einrichtung schwankt, so wie das mit allen Dienstleistungen und deren Erbringern der Fall ist. Nicht in jedem Restaurant isst man gleich gut und nicht jedes Pflegeheim pflegt perfekt. Nach Lauterbachs Logik müsste aber die Pflege der „Motten“ besonders schlecht sein, denn uns ist ja, wie er eingangs seiner „Fakten zur Pflege“ ausgeführt hat, die Profitmaximierung wesentlich. Nun gibt es seit ein paar Jahren das Instrument der Qualitätsbegutachtung der Pflege durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Und im Juli diesen Jahres ereilte uns mal wieder eine dieser Qualitätsprüfungen, zweieinhalb Tage dauerte diesmal die Prozedur, die Pflegequalität wurde anhand von neun zufällig ausgesuchten Bewohnern mit deren beziehungsweise der Einwilligung der gesetzlichen Betreuer untersucht. Die Prüfung, so empfand es zumindest unsere Pflegedienstleitung, war diesmal detaillierter als sonst, sie umfasste zwar die gleichen Bereiche wie immer, also die Dokumentation, die Medikation, die vorliegenden gesetzlichen Unterlagen, die Implementierung der Expertenstandards, die Hygiene, die Betreuungsangebote und so weiter, ging aber bei der Begutachtung der eigentlichen Pflegequalität, also dem tatsächlichen Ergebnis der Dienstleistung Pflege, ziemlich in die Tiefe. Sämtliche ausgewählten Bewohner wurden körperlich examiniert, auch die bettlägerigen, unter besonderer Beachtung der grundpflegerischen Problemzonen, die da sind Rücken, Steissbein, Analfalte, Genitalbereich, Ferse, zwischen den Zehen, unter der Brust undsoweiter, derart genau, dass unsere Pflegedienstleitung schon am Rande der Empörung stand. Ein paar Tage später erhielten wir dann den Prüfbericht und damit meine ich nicht den sogenannten „Transparenzbericht“, in welchem dann Schulnoten verteilt werden und kaum ein Heim schlechter benotet wird als 1,0, sondern den tatsächlichen Prüfbericht, der nicht veröffentlicht wird und gerade deshalb „ehrlich“ ist, auch weil er der zuständigen Pflegekasse zugesandt wird, die sich dann ein ziemlich genaues Bild darüber machen kann, wieviel Qualität sie tatsächlich für ihr, für unser Geld bekommen hat. Und natürlich können wir diesen insgesamt 70 Seiten umfassenden Prüfbericht hier nicht veröffentlichen, eben weil er viele intime Details über die untersuchten Bewohner enthält, auch, wenn deren Namen anonymisiert sind. Jeder Prüfbericht enthält jedoch auch eine Art Zusammenfassung, das sind die sogenannten „Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten“, dort werden alle gefundenen Qualitätsdefizite zusammengefasst sowie die Empfehlungen des MDK zu deren Behebung. Und diese Empfehlungen des MDK im offiziellen Prüfbericht, die können wir hier veröffentlichen:

Genau: Keine! An dieser Stelle ein Riesen Kompliment an unsere Truppe, die mit der Qualität ihrer Arbeit auch ihrem – hin und wieder - bloggenden “Chef” den Rücken freihält. (Namen der Gutachter geschwärzt – rp)

Offensichtlich scheint es doch ein paar „Motten“ zu geben, die ein bisschen was richtig machen, denn so etwas sieht man dann doch nicht alle Tage. Und das führt dann gleich zum zweiten Teil der Lauterbachschen „Fakten zur Pflege“, in welchem er beschreibt, wie er im Verein mit den anderen Sozen und Verdi die Pflege retten will. Pflege, zumal Grundpflege, ist und bleibt Handwerk und natürlich lässt sich deshalb eine sehr gute Pflegequalität nur erbringen, wenn auch genügend qualifizierte Pflegefachkräfte zur Verfügung stehen. Deshalb, so analysiert Lauterbach messerscharf, muss der Pflegeberuf dringend attraktiver werden, um mehr junge Menschen in Ausbildung zu bringen und auch jene in den Beruf zurückzuholen, die der Pflege den Rücken gekehrt hätten. Und dazu benötige man eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Und die bekomme man am besten hin, wenn sich Pflege gewerkschaftlich organisieren würde. Blöderweise vergisst Stratege Lauterbach, dass die Demographiekrise, deren erste Ausläufer die Pflege momentan erreichen, nicht nur durch einen überproportionalen grossen Anteil von älteren Menschen, sondern auch durch einen sehr unterproportionalen Anteil jüngerer Menschen gekennzeichnet ist, woran auch Gewerkschaften kaum etwas ändern können. Denn das heisst, dass die Zahl der jungen Menschen in Deutschland, die sich überhaupt für einen Ausbildungsberuf entscheiden werden – statt für ein Studium – vergleichsweise begrenzt ist und auch bleiben wird. Dennoch ist es der Branche in den letzten Jahren gelungen, die Ausbildungszahlen auf bisher nie gekannte Höhen zu treiben. 2016 begannen insgesamt 63.200 junge Menschen eine Ausbildung in der Pflege, eine beträchtliche Steigerung von immerhin 43% gegenüber 2006. Allein in Baden-Württemberg waren im Schuljahr 2018/19 18.940 Pflegeschüler in Ausbildung, 4 davon stellt das Haus Tanneck. Trotzdem fehlen derzeit immer noch ca. 80.000 Pflegekräfte im Land. Auf Grundlage auch dieser Ausbildungszahlen prognostiziert das Statistische Bundesamt für 2025 einen Mangel von 200.000 Pflegekräften, die Bertelsmann-Stiftung für 2030 einen Mangel von 430.000 und die Friedrich-Ebert-Stiftung warnt ebenfalls für 2030 vor einer Lücke von 520.000 Pflegekräften. Diese Zahlen sollten eigentlich verdeutlichen, vor welche extremen volkswirtschaftlichen aber auch humanitären Herausforderungen uns die Demographiekrise stellt, die für unsere Gesellschaft viel dringlicher und gefährlicher sein werden als jene des Klimawandels. Zu glauben, man könne dieser Krise allein mit inländischen Auszubildenden begegnen, ist gerade aufgrund des Strukturwandels der Demographiekrise geradezu fahrlässig utopisch, denn woher sollen wir diese vielen jungen Menschen nehmen? Auch Lauterbachs zweites Argument, allein mittels Attraktivierung des Berufsumfeldes Berufssausteiger wieder in den Beruf zu locken, ist nicht viel sinnvoller. Der praktizierende Apparatschik Lauterbach verkennt schlichtweg die Realitäten in der Pflege, denn die meisten Berufsaussteigerinnen kehren ihrem Beruf aus Zwecken der Familiengründung den Rücken. Die späteren jungen Mütter wieder in den Beruf zu reintegrieren, gestaltet sich schwierig, da Pflege in der Regel kein 9-to-5-Job, sondern Schichtarbeit ist, die an jedem Tagen im Jahr immer 24 Stunden abzudecken hat. Diese Arbeitszeiten sind somit alles andere als familienfreundlich und werden auch nicht durch öffentliche Kinderbetreuungsangebote unterstützt. Sollte also eine junge Mutter nach Eintritt ihres Kindes in den Kindergarten oder die -krippe wieder in der Pflege arbeiten wollen, kann ihr der Arbeitgeber bestenfalls Teilzeit in der Frühschicht ohne Wochenenddienst anbieten, denn kein Kindergarten öffnet bis 21 Uhr, um auch die Spätschicht abdecken zu können. Das bedeutet aber, je mehr junge Mütter mit Frühschicht-Privileg eine Pflegedienstleitung in den Dienstplan eintragen muss, desto mehr Spätdienste muss der Rest der Truppe schieben. Der Frühdienst ist aber der bei weitem beliebteste Dienst. Alle wollen im Frühdienst arbeiten. Das führt dann dazu, dass jeder Pflegedienst nur eine bestimmte und geringe Anzahl von jungen Müttern mit Frühschicht-Privileg erträgt und sollte diese überschritten werden, beginnt irgendwann das Gemurre der Kollegen, der Betriebsfrieden fängt an schiefzuhängen und Kündigungen können folgen. Denn Pflegekräfte, zumal die guten, sind sich ihres Wertes mittlerweile sehr bewusst, über die Lauterbachsche Forderung nach besserer Bezahlung können die allermeisten mittlerweile nur müde lächeln, denn die Gehälter sind in den letzten Jahren kräftig gestiegen und werden weiter steigen, allein schon aufgrund der oben genannten statistischen Zahlen. Ausserdem erreicht man „bessere Arbeitsbedingungen“, in der Pflege in allererster Linie nur durch mehr Kollegen, eben weil Pflege grösstenteils Handarbeit ist, womit sich die Katze – Verdi hin oder her – hier in den Schwanz beisst.

Eine Möglichkeit, dem Pflegekraftmangel in Zeiten der beginnenden Demographiekrise zu begegnen, liess Lauterbach in seinem Traktat fast gänzlich unter den Tisch fallen. Er erwähnte sie nur mit einem einzigen Satz:

„Personal aus dem Ausland zu holen, ist das falsche Signal.“

Warum das so sein soll, liess der SPD-Gesundheitsexperte offen.

Seltsamerweise machen wir in unserem unbedeutenden Pflegeheim im Nordschwarzwald derzeit die Erfahrung, dass es seit Zustandekommen der aktuellen GroKo zunehmend schwieriger bis unmöglich geworden ist, Pflegefachkräfte aus Nicht-EU-Ländern zu rekrutieren. Und da rätselten wir, warum, und konnten uns nicht recht einen Reim drauf machen, bis sich die Möglichkeit zu einem – naja – kleinen Sozial-Experiment eröffnete. Und dieses „Sozial-Experiment“ erschien eines Tages in Gestalt einer thailändischen Krankenschwester in Begleitung ihrer Mutter in unserer Einrichtung und bewarb sich initiativ um eine Stelle. Wie sich herausstellte, hatte die Mutter einen Deutschen geheiratet, lebte schon länger hier und wollte nun, inzwischen etwas älter geworden, ihre Tochter aus Thailand nachholen, die dort praktischerweise den Beruf der Gesundheits- und Krankenpflege ergriffen hatte. Es handelte sich somit bei der jungen thailändischen Pflegekraft um das, was man in anderen Sachzusammenhängen wohl einen „Familiennachzug“ nennt. Wir verabredeten einen Termin zum Probearbeiten und als sie diesen erfolgreich absolviert hatte, statteten wir sie mit einem Arbeitsvertrag aus und verabschiedeten uns. Die junge Thailändern verblieb noch einige Zeit im Nordschwarzwald, absolvierte fleissig schon einen ersten Deutschkurs und entschwand dann irgendwann nach Bangkok. Das alles trug sich Anfang diesen Jahres zu. Normalerweise funktionierte das mit den sogenannten Drittstaat-Pflegekräften in der Vergangenheit folgendermassen: Die Drittstaat-Pflegekraft wird u. a. mit unserem Arbeitsvertrag bei der Deutschen Botschaft vorstellig und beantragt ein Visum zur Einreise sowie einen Aufenthaltstitel zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Unter Hinzuziehung der Bundesagentur findet dann eine sogenannte „Vorrangprüfung“ statt, also die Prüfung, ob die Stelle auch durch einen EU-Bürger besetzt werden könnte, was bei fehlenden 80.000 Pflegekräften und im Land und dem damit einhergehenden PFLEGENOTSTAND!, der einem nicht erst seit gestern regelmässig aus jeder Zeitung, jeder Talkshow und jeder Nachrichten-Webseite entgegen schreit, eigentlich nur eine Pro-Forma-Angelegenheit sein sollte. Stellen die deutschen Botschaften also fest, achja: PFLEGENOTSTAND!!, schalten sie die Bundesagentur für Arbeit ein, die prüfen soll, ob der ausländische Berufsabschluss gleichwertig mit einem deutschen Berufsabschluss sein könnte. Wenn man Glück hat und der betreffende Staat unterhält irgendwelche privilegierten Beziehungen zu Deutschland, erhält die ausländische Pflegekraft ihr Visum und einen sehr kurz befristeten Aufenthaltstitel, damit sie einreisen und schon eine Erwerbstätigkeit aufnehmen darf, auch wenn die Gleichwertigkeit ihres Berufsabschlusses mit einem deutschen Berufsabschluss noch nicht abschliessend geprüft ist, weshalb sie, während sie auf ihre deutsche Anerkennung wartet, nur als Pflegeassistentin arbeiten und glücklich sein darf, wenn ihr befristeter Aufenthaltstitel nicht vor der Anerkennung ausläuft.

Wie aber bei schon bei anderen Drittstaat-Pflegefachkräften zeigte sich auch bei der thailändischen Pflegekraft, dass mittlerweile etwas Sand im Getriebe der Fachkräftegewinnung aus Drittstaaten war. Zunächst erreichte uns eine eMail der Pflegekraft aus Thailand, wonach die Deutsche Botschaft den Arbeitsvertrag nicht anerkennen könne, da er für eine Gesundheits- und Krankenpflegerin, also eine anerkannte Pflegefachkraft, ausgestellt war, richtigerweise müsste er für eine Pflegeassistentin ausgestellt werden. Wir schickten also einen geänderten Arbeitsvertrag nach Bangkok. Dann erreichte uns die Nachricht, sie bräuchte jetzt noch einen Handelsregisterauszug für die Haus Tanneck OHG sowie eine neuerliche schriftliche Bekräftigung unserer Absicht, sie einzustellen, vielleicht weil mittlerweile schon mehrere Monate vergangen waren. Wir schickten beides nach Bangkok. Wieder ein paar Wochen später schrieb sie eine eMail an mich, in dem sie mich bat, mich per eMail direkt an die Deutsche Botschaft zu wenden. Ich schrieb also eine eMail an die Deutsche Botschaft in Bangkok, worin ich unser Interesse an der Anstellung der Drittstaat-Pflegefachkraft nochmals bekräftigte, ausserdem darauf hinwies, dass die junge Pflegekraft über Familienanschluss hier verfüge, somit keine Gefahr bestünde, dass sie dem deutschen Steuerzahler irgendwie zur Last fallen würde. Des Weiteren verpflichtete ich mich, schnellstmöglich dafür zu sorgen, dass sie hier den B2 Nachweis ihrer Deutschkenntnisse erlangen kann, welcher sowieso zwingend notwendig für die Anerkennung ihrer Berufsausbildung ist. Ich erhielt keine Antwort, sondern nur eine neuerliche eMail von der thailändischen Pflegefachkraft, ich solle nochmal eine eMail an eine andere Stelle in der Botschaft schreiben. Ich schrieb also eine weitere eMail an eine andere eMail-Adresse in der Botschaft in Bangkok mit gleichlautendem Text. Wieder keine Antwort. Ein paar Tage später erhielt ich eine eMail von einer Bekannten ihrer Mutter, die sich ebenfalls für deren Tochter bei der Botschaft eingesetzt hatte. Ihr zumindest hatte man auch geantwortet und zwar von einer der beiden eMail-Adressen, an die ich ebenfalls geschrieben hatte. Ein Botschaftsmitarbeiter teilte ihr mit, dass der Antrag abschliessend bearbeitet worden sei. Weitere Auskünfte dürfe er aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht geben. Das war im August, ungefähr 5 Monate nachdem die Thailänderin unser Haus mit dem Arbeitsvertrag verlassen hatte. Seit dem tat sich nicht mehr viel. Nur noch eine eMail von der thailändischen Pflegekraft, ich solle jetzt nicht mehr schreiben, was ich auch nicht mehr tat. Ein paar Wochen später hörte ich von einem gemeinsamen Bekannten, sie hätte vielleicht eine Möglichkeit gefunden, wir würden bald ein Schreiben erhalten. Dieses Schreiben liegt inzwischen tatsächlich vor, es ist von der Bundesagentur für Arbeit, einer Bundesbehörde, es datiert vom 3. Dezember, kam hier am 6. Dezember, einem Freitag, an und so richtig auf dem Schirm hatten wir es am Montag, den 9. Dezember. Die Bundesbehörde verlangte auf einmal eine ganze Menge Bescheinigungen und Unterlagen.

Schreiben von der Bundesagentur für Arbeit. Datiert vom 03.12.2019

Irgendwas muss offensichtlich schief gelaufen sein. Der Wust an Papieren, welche die Behörde nun einforderte, liess vermuten, dass man die Thailänderin von Amts wegen als Pflegeassistentin einstufte, die noch zu „qualifizieren“ wäre. Vielleicht, weil sie jetzt über einen Arbeitsvertrag als Pflegeassistentin verfügte? Und noch etwas war merkwürdig. Nachdem unsere Thailänderin die Behörden und die Behörden uns nunmehr seit 9 Monaten beschäftigte, sollte es jetzt – zackizacki! – ganz schnell gehen. Die Behörde setzte Frist bis zum 17.12. Warum überhaupt? Wir hatten also ab dem besagten Montag eine Bearbeitungszeit von gerade mal 7 Werktagen. Das war verdammt wenig und natürlich viel zu kurz, um all diese Unterlagen zusammenzubringen. Denn das erforderte Korrespondenz zwischen uns und der Thailändern sowie einigen Ämtern und „Qualifizierungsinstituten“ usw., was dann eher eine Angelegenheit von einigen Wochen statt Tagen war. Und es steht zu vermuten, dass man das auch ganz gut in der Bundesbehörde wusste, sodass das Schreiben der Bundesbehörde im Einklang mit der gesetzten Frist eigentlich nur zwei Interpretationsmöglichkeiten offen liess. Entweder die Bundesbehörde war von einer Horde total Ahnungsloser überrannt und besetzt worden oder man hegte dorten die Hoffnung, das ganze leidige Verfahren mittels Brief und Frist ziemlich unelegant und nachhaltig erschlagen zu können. Und da klingelte dann wieder Lauterbachs fast schon paradigmatischer Satz:

„Personal aus dem Ausland zu holen, ist das falsche Signal.“

zwischen den Ohren. Zumal wir diese Erfahrungen nicht zum ersten Mal machen mussten und nicht nur wir diese Erfahrungen immer und immer wieder machen müssen, sondern sehr sehr viele Einrichtungen im Land, sodass davon auszugehen ist, dass nicht nur einige hundert, sondern vielmehr einige tausend dringend im Land benötigte Pflegefachkräfte im Behördenapparat festhängen. Im Behördenapparat eines Landes, dem mit stark steigender Tendenz jetzt schon 80.000 Pflegefachkräfte fehlen und in das jeden Monat circa 10.000 Menschen einwandern, von denen die allermeisten nicht so wahnsinnig dringend benötigt werden und von denen einige schon zum dritten, vierten oder auch fünften Mal als Asylsuchende hier vorstellig werden. Und so könnte man „Personal aus dem Ausland zu holen, ist das falsche Signal.“ als eine weitere Ausformung der sozialdemokratischen Weltrettungs-Agenda verstehen, die in erster Linie die moralischen Wohlfühlbedürfnisse einer selbst ernannten progressiven Elite bedienen soll und wonach man jetzt auch ärmeren Ländern keinesfalls die Pflegefachkräfte abwerben dürfe, denn die würden dort schliesslich gebraucht, wobei man sich auf irgendwelche verschwurbelten WHO-Codices beruft. Dummerweise handelt es sich bei unserem kleinen Sozial-Experiment, der thailändischen Pflegefachkraft, um eine etwas atypische Drittstaat-Pflegefachkraft-Bewerberin, die nicht nach Deutschland will, weil sie die Deutsche DeppenRepublik, die DDR 2.0, so besonders anziehend fand, sondern weil eben ihre alternde Mutter hier lebt, weshalb sie allen Vertröstungen, Schikanen und Verzögerungen des Behördenapparats tapfer widerstand und so die finale „Erschlagung“ provozierte. Normalerweise geben Drittstaat-Pflegefachkraft-Bewerberinnen, die keine engeren Bindungen an die DDR 2.0 haben, ob der ewigen Vertröstungen, Schikanen und Verzögerungen nämlich irgendwann auf und orientieren sich um, auch, wenn sie damit natürlich nicht im vermeintlichen Sinne Lauterbachs und der anderen Sozen handeln und brav zuhause bleiben. Sie bewerben sich vielmehr entnervt in anderen Staaten, die ebenfalls unter einem Fachkraftmangel in der Pflege leiden, wie beispielsweise und ausgerechnet die Mutter aller DeppenRepubliken, Schweden, aber auch andere skandinavische Länder und dann noch Österreich, Schweiz oder England. Gerade vor ein paar Tagen hat Boris Johnson nach seinem Wahlsieg verkündet, er wolle 50.000 neue Krankenschwestern für das marode britische Gesundheitssystem einstellen, welches überhaupt nur noch – wenn auch leidlich – funktioniert, weil ausländische Fachkräfte das pflegerische Rückgrat bilden. Wo wird er die wohl hernehmen? Und jetzt will man gar nicht nachrechnen oder schätzen, wie viele tausend Pflegekräfte, die im Laufe der letzten Jahre und Monate im Behördenapparat festgehangen sind, die deutsche Pflege bereits an das Ausland verloren hat. Weggeekelt für immer von einer verantwortungslosen Politik.

Aber vielleicht ist alles auch ganz anders, vielleicht ist das progressive-politisch-korrekte Gutmenschengetue in dieser Angelegenheit sogar den Sozen inklusive Verdi-Mitglied Lauterbach zu blöd, und auch die heiligen WHO-Codices sind nur ein vorgeschütztes Alibi-Argument, um den Genossen bei der schwindsüchtigen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi einen letzten Rettungsring zuzuwerfen, denn eine Pflege ohne Notstand generiert keine Unzufriedenheit und eine Pflege ohne Unzufriedenheit keine neuen Gewerkschaftsmitglieder (rp berichtete).

Letztlich ist es auch einerlei, warum die zwei SPD-geführten Ministerien, das Bundesarbeits- und das Aussenministerium, deren Behörden und Botschaften mit der verwaltungstechnischen Abwicklung von einreisewilligen Drittstaat-Pflegefachkräften betraut sind, versagen. Tatsache ist, sie bekommen es nicht hin. Offenbar hat man immer noch nicht verstanden, dass Deutschland im weltweiten Wettbewerb mit vielen anderen Staaten um diese begehrten Fachkräfte steht. Und dass es deshalb keine Gnade ist, die man einigen wenigen Auserwählten nach monate- oder jahrelangen Warteprozess gewährt, wenn man ihnen eine DDR-2.0-Arbeitserlaubnis ausstellt, und dass wir nicht auf dem hohen Tugend-Ross zu sitzen haben, sondern vielmehr sehr dankbar und äusserst entgegenkommend sein müssen, denn unsere Mitbewerber, die anderen Länder, haben zumeist die besseren Karten. Sie verfügen – nicht alle, aber doch die meisten – über keine Idiotenregierung, die sich moralisch überlegen wähnt, generell über ein höheres Lohnniveau mit zudem noch geringeren Steuern, Sozialversicherungsabgaben, Lebenshaltungskosten, sonstigen Abgaben und nicht selten über wesentlich schlankere und schnellere Verwaltungsstrukturen.

Wie viele andere Häuser verfügt auch das Haus Tanneck über gewachsene Verbindungen in andere europäische Länder, auch solchen, die ausserhalb der EU liegen, mithin also Drittstaaten sind. In einigen dieser Länder verbindet man mit dem kommenden deutschen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im März 2020 in Kraft treten soll, eine gewisse Hoffnung, da die wirtschaftlichen Aussichten in diesen Ländern aufgrund gewaltiger struktureller Defizite und hoher Arbeitslosigkeit alles andere als rosig sind und sich auch mittelfristig kaum verbessern werden. Das heisst, viele Menschen sehen in diesen Ländern keine Zukunft mehr, darunter auch viele Pflegekräfte. Anders als viele der EU-Pflegefachkräfte, die emigrationswillig sind, aber inzwischen fast geschlossen aufgrund der höheren Löhne in die skandinavischen Länder abwandern, verfügen die emigrationsentschlossenen Pflegekräfte aus den Drittstaaten bei uns über Anlaufpunkte, die noch „frisch“ sind. Flüchtlinge aus der Zeit der Jugoslawienkriege, die auch aufgrund ihrer beruflichen Qualifikationen in Deutschland verblieben und inzwischen hier heimisch sind und vielfach die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, dennoch auch immer den Kontakt zu ihren Herkunftsländern gehalten haben. Diese berichten von grossem Interesse an dem neuen Gesetzespaket, es könnten Tausende kommen. Und diese könnten bitter enttäuscht werden, denn bei Licht betrachtet, wird sich durch Inkrafttreten des Fachkräfteeinwanderungsgesetz insbesondere für die Pflege nicht so wahnsinnig viel ändern. Ab dem 01. März 2020 können Fachkräfte aus Drittstaaten ein Visum zur Arbeitssuche in Deutschland beantragen und es entfällt die Vorrangprüfung. Touristenvisa gab es aber auch schon vor dem 01. März und die Vorrangprüfung für Pflegefachkräfte ist aufgrund des Pflegenotstands ohnehin ein Witz. Was sich aber nicht ändern wird, ist das Behörden-Ping-Pong und die Prüfung der Gleichwertigkeit des ausländischen Berufsabschlusses, vor allem bei den sogenannten „reglementierten“ Berufen, was die Pflege ist. Unterm Strich bleibt also das „sozialdemokratische Zermürbungspotential“ vollumfänglich erhalten oder wird vielleicht noch grösser, je nach dem, wie viele Fachkräfte sich aus anderen Berufen bewerben und so das System vollends verstopfen könnten. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass auch viele der Pflegekräfte aus europäischen Drittstaaten, die sich jetzt noch Hoffnungen machen, demnächst die in ihren Heimatländern dringend benötigten „Devisen“, welche eine wichtige Stütze der heimischen Wirtschaft sein können, eben in Schwedischen Kronen oder Britischen Pfund überweisen werden, weil die Bundesregierung weltrettungstechnisch nur Pflegekräfte aus „jungen“ Gesellschaften anwerben will. Dabei versteht Karlchen Überall eine junge Gesellschaft wohl als eine Art „Gesellschaft im Naturzustand“, bei der die Bevölkerungspyramide tatsächlich noch wie eine Pyramide aussieht und somit ausgeglichen ist. Auf einer breiten jungen Bevölkerungsschicht gründen dann weitere Alterskohorten, die mit zunehmendem Alter immer schmaler werden, wohingegen die deutsche Bevölkerungspyramide wie ein Pilz aussieht, da nach dem „Pillenknick“ die Geburten zurückgegangen sind. Wobei der Begriff „Pillenknick“ eigentlich irreführend ist, weil er suggeriert, allein die Einführung der „Pille“ hätte zu dem Geburtenrückgang geführt und somit den Demographiewandel ausgelöst. Dabei hatte die „Pille“ bestenfalls eine kleine Nebenrolle bei dem, was man eine „gesellschaftliche Transformation“ nennen könnte. Mittel und Wege zur Verhütung gab es schon vor der Markteinführung, vielmehr markiert der „Pillenknick“ den Zeitpunkt, ab wann gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen Auswirkungen auf die Geburtenstatistik hatte oder anders formuliert: Der Zeitpunkt, ab dem gesellschaftliche Entwicklungen so weit abgeschlossen sind, dass diese Gesellschaft in die Westliche Moderne eintreten konnte. Ursächlich waren dafür eine ganze Reihe von Entwicklungen technischer, wirtschaftlicher und sozialer Art. Was früher von einer bäuerlichen Grossfamilie geleistet werden musste, erledigt heute ein Landwirt mit entsprechendem Maschinenpark, wachsende wirtschaftliche Prosperität als auch ausgeklügelte Sozialversicherungen machten viele Kinder als Alters- und Gesundheitsvorsorge überflüssig. Daneben änderten sich gesellschaftliche Prioritäten und Ideale: Aus dem Primat des „Wir“ wurde immer mehr „Ich“. Die Emanzipation tat ein Übriges und das Streben nach Selbstverwirklichung wurde ein gesellschaftlich anerkanntes Ideal. Dass diese gesellschaftlichen Entwicklungen ursächlich für den „Pillenknick“ sind und eben nicht die Markteinführung eines neuen Verhütungsmittels verdeutlichen auch die unterschiedlichen Zeitpunkte, ab wann Gesellschaften von dem, was man Pillenknick nennt, erfasst worden sind. Deutschland hatte seinen „Pillenknick“ Mitte der 1960er Jahre, die fortschrittlicheren und prosperierenden USA bereits zehn Jahre zuvor und das ehemalige Schwellenland Brasilien erst 1985, als sich das Land auf den Weg in die Moderne machte, deren Errungenschaften es derzeit wieder zu verspielen droht. Gesellschaften entwickeln sich in unterschiedlichen Tempi und erst wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, hat dies Auswirkungen auf die Geburtenstatistik, indem traditionelle Lebensweisen aufgebrochen und verändert werden. Wenn dieser „Pillenknick“ aus der Gesellschaft selbst kommt, und nicht staatlich verordnet wie in China oder gefördert wie in Thailand, markiert er den Beginn einer „gesellschaftlichen Transformation“: Unter der alten Gesellschaft wächst in der Bevölkerungspyramide gewissermassen die neue heran, die das Produkt einer umfassenden Werteumorientierung ist, die man sich sozusagen erst einmal wirtschaftlich leisten können muss. Demgegenüber und im Umkehrschluss bezeugen die von der SPD erwünschten „Pyramiden im Naturzustand“ Gesellschaften, die weitestgehend noch traditionellen Lebensweisen anhaften und die noch nicht wirklich in die Westliche Moderne eingetreten sind. Eine dieser „jungen“ Gesellschaften, welche nach dem Willen der Bundesregierung dazu beitragen soll, unseren Pflegenotstand zu beheben oder zu lindern, indem man dort Fachkräfte anwerben will, ist die indische. Und in der Tat weist die indische Bevölkerungspyramide noch keinerlei Brüche auf, sie ist aber dennoch keine Pyramide wie aus dem Bilderbuch. Die untere junge Basis ist nicht mehr ganz so breit wie noch vor 60 Jahren, die Pyramide hat schon einen leichten Bauch, was wohl auf Indiens Zwei-Kind-Politik zurückzuführen ist, die Wirkung zeigt. Bekam 1960 jede indische Frau statistisch gesehen noch 6 Kinder, waren es 2016 nurmehr 2,33. Noch eine Besonderheit der indischen Bevölkerungspyramide ist der krasse Männerüberschuss, Schätzungen zufolge fehlen der indischen Gesellschaft bis zu 63 Millionen Frauen, da weibliche Föten oft abgetrieben werden aufgrund der immensen Mitgift, welche die Familien tradtionsgemäss der Braut zur Hochzeit beisteuern müssen. Gleichzeitig altern immer grössere Bevölkerungsteile, schon jetzt sind 120 Millionen Inder 60 Jahre alt und älter. 2050 wird ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, immerhin 320 Millionen, diese Altersgruppe erreicht haben. Aber nur 1,6% der älteren Bevölkerung beziehen überhaupt eine Rente. Die Pflege der Alten war traditionell Aufgabe der Grossfamilie und hier vor allem der Frauen. Durch die Zwei-Kind-Politik gibt es aber auch in Indien weniger Kinder und durch die Abtreibungen weiblicher Schwangerschaften auch noch weniger Frauen, zudem macht Indien bei seinem speziellen Eintritt in die „Westliche Moderne“ gewissermassen den zweiten Schritt vor dem ersten, es übernimmt zunehmend westliche Werte und Lebensmodelle, welche aber das „Wir“ der traditionellen Grossfamilie erodieren lassen, die jungen Leute dürsten mehr und mehr nach Selbstverwirklichung und wollen möglichst selbständig leben. Ein Sozialversicherungssystem und eine professionelle Altenpflege, welche die verlassenen pflegebedürftigen Alten auffangen könnten, sind aber faktisch nicht vorhanden. Und genau deshalb, weil die der Pflege zugrundeliegende Infrastruktur nur sehr mangelhaft entwickelt ist, gibt es in Indien auch viel zu wenige Pflegefachkräfte. Angesichts dessen, was der indischen Gesellschaft auf Basis dieser katastrophalen Zahlen bevorsteht, ist unser Pflegenotstand eigentlich nur ein netter Kindergeburtstag. Und jetzt zu erklären, wir importieren ausgerechnet aus dieser Gesellschaft Pflegefachkräfte, weil die so jung sind und wir so superdupermoralischkorrekt, ist schon mehr als einfach nur dreist.

Eine Bevölkerungspyramide, die der indischen sehr ähnlich ist, weist ein weiteres Land auf, das von der Bundesregierung auserwählt wurde, um mit von dort importierten Pflegefachkräften unseren Pflegenotstand zumindest zu mildern: Mexiko. Zwar kennt die mexikanische Bevölkerungspyramide keinen krassen Männerüberschuss, dennoch befindet sich das Land schon in der demographischen Übergangsphase, der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums ist erreicht, die Geburten pro Frau sind seit 1960 bis 2017 von 6,77 auf 1,9 gesunken. Anders als in Indien scheint es in Mexiko tatsächlich junge arbeitslose Pflegefachkräfte zu geben, was aber nicht daran liegt, dass das rudimentär vorhandene Gesundheitssystem keinen Bedarf an ihnen hätte, sondern vielmehr keine ausreichenden Mittel, um sie auch zu bezahlen. Anders als in Indien gibt es auch eine Rentenversicherung auf niedrigem Niveau, von der aber bei weitem nicht alle Arbeitnehmer profitieren, allein schon, weil circa 60% der Arbeitsplätze dem informellen Sektor zugerechnet werden müssen und zudem keine generelle Versicherungspflicht besteht. So bleibt ähnlich wie in Indien die Pflege der älteren Menschen den Grossfamilien überlassen, sollten diese auch in der mittelbaren Zukunft stabil bleiben können. Die Ausbildung der mexikanischen Pflegefachkräfte unterscheidet sich fundamental von der deutschen. Ist hier die Pflege ein Ausbildungsberuf mit insgesamt drei Lehrjahren, erlernt man in Mexiko den Beruf der Pflege während eines fünfjährigen Hochschulstudiums. Damit besteht die Gefahr, dass wir mit den mexikanischen Pflegekräften die gleichen Erfahrungen machen könnten wie mit den spanischen, die in letzten Jahren nach Deutschland kamen und von denen die allermeisten inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Spanische Pflegefachkräfte sind so etwas wie „halbe“ Ärzte, als solche übernehmen sie keine Grundpflege, wie beispielsweise Körperpflege oder Inkontinenzversorgung. Mitunter deshalb waren sie vom Arbeitstakt auf einer deutschen Station schnell überfordert. Dieser Ausbildungsschwerpunkt ist im Ausland keine Seltenheit, auch Pflegekräfte im Kosovo, wo Bundegesundheitsminister Spahn neulich unterwegs war, um publicityträchtig ein paar Pflegefachkräfte zusammenzusammeln, übernehmen normalerweise lediglich Behandlungspflege, das ist die Durchführung ärztlicher Anweisungen, wie beispielsweise Wundversorgung. Die grundpflegerische Versorgung der Patienten haben im Kosovo gefälligst die Angehörigen zu übernehmen. Wenn das bei mexikanischen Pflegefachkräften ähnlich sein sollte, wofür einiges spricht, wären sie vielleicht in den deutschen Krankenhäusern ganz gut aufgehoben, aber ganz sicher nicht in den deutschen Pflegeeinrichtungen, deren Primat auf der Grundpflege liegt.

Man kann es also drehen und wenden wie man will: Die Ideallösung oder den Königsweg gibt es nicht. Auch der Import von Pflegefachkräften aus anderen Gesellschaften, die es dorten angeblich im Überfluss geben soll und die dann hier ganz sicher im erwünschten Sinne „funktionieren“ werden, ohne dass diese Folgen für deren Herkunftsländer haben würde, ist Wunschdenken. Denn man entnimmt diesen Ländern, seien sie Indien, Mexiko, Brasilien oder Serbien, eben nicht nur Pflegefachkräfte, sondern immer auch Töchter und Söhne, welche in ihren Ländern, wo es nur wenig bis gar keine professionelle Altenpflege-Infrastruktur gibt und man dort deshalb im Grossfamilienverband pflegt, vermeintlich fehlen werden.

Dennoch – man kann es gar nicht oft genug schreiben – stehen wir vor einer enormen Herausforderung. Die Demographiekrise bringt alle Voraussetzungen mit, um sich zu einer gewaltigen humanitären Katastrophe auszuwachsen. Und nicht nur in der Altenpflege, dieser Tage vermeldet das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) Zahlen, wonach allein in den deutschen Krankenhäusern 17.000 Pflegekräfte fehlen. Vier von fünf Krankenhäusern haben massive Probleme offene Stellen in der Pflege zu besetzen. Auch deshalb mussten in jedem dritten Krankenhaus bereits Intensivbetten gesperrt und ganze Fachbereiche von der Notfallversorgung abgemeldet werden. Anfang Dezember verhängte das Kinderkrebszentrum der Berliner Charité einen Aufnahmestopp, da vor allem im Pflegebereich jede fünfte Stelle nicht besetzt werden konnte. Wer denkt, der Pflegenotstand sei vor allem ein Problemchen der verschnarchten Pflegebranche und die solle sich mal nicht so anstellen, irrt gewaltig. Der Pflegenotstand kann für jeden Einzelnen von uns ziemlich schnell ziemlich konkret werden mit allen seinen hässlichen Folgen. Aber anders als beim Klimawandel kann man diese humanitäre Katastrophe allein durch nationale Anstrengungen vielleicht noch abwenden oder wenigstens lindern. Und ja: Wir müssen unbedingt versuchen, nicht nur mehr junge, sondern auch schon ältere Menschen für den Beruf der Pflege zu begeistern. Und ja: Unsere Gesellschaft muss alles unternehmen, um den Beruf für Berufsaussteiger wieder attraktiver zu machen. Und ja: Wir müssen es schaffen, jungen Müttern den Wiedereinstieg in den Pflegeberuf so einfach wie möglich zu machen, auch wenn es dazu notwendig werden sollte, Kindergärten und Schulen zu betreiben, die eine Betreuungszeit von 14 Stunden täglich anbieten. Und nein: Lauterbachs Paradigma: „Personal aus dem Ausland zu holen, ist das falsche Signal.“ ist gerade nicht der richtige Weg, auch wenn man das bei Verdi ungern hört. Den Pflegenotstand kann man nicht dadurch bekämpfen, dass man das Pflegeelend überall auf der Welt möglichst sozialdemokratisch gleichmässig verteilt. Auch weil es keineswegs moralisch verwerflich ist, jungen Menschen, die in ihren Ländern keine Perspektive mehr sehen und die zudem eine wertvolle Qualifikation mitbringen, hier eine Zukunft zu eröffnen. Vor allem dann nicht, wenn man sie anständig bezahlt, wovon deren Herkunftsfamilien profitieren werden als auch und gerade die pflegebedürftigen Alten.

Und vielleicht ist das ja einer ihrer wichtigsten Gründe, warum sie sich überhaupt auf den Weg machen.

Auch wenn man dazu von Thailand zu einer Mutter in Deutschland reisen muss.

Die reformpflege wünscht allen Lesern ein Gutes Neues Jahr!

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