Biedermann und Brandstifter – Fünfter Teil

Ende 1999 verfasste eine 45jährige Frau einen offenen Brief, der am 22. Dezember in einer grossen überregionalen Frankfurter Zeitung erschien. Dieser Brief enthielt unter anderen folgenden Satz:

„Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu dem stehen, der sie ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute.“

Kein Mensch trägt Verantwortung für die Taten seiner Vorfahren. Auch kann sich kein Mensch seine Familie oder die Welt, in die er oder sie geworfen wird, aussuchen. Und natürlich gibt es keine Zwangsläufigkeit oder Vorbestimmung in der Entwicklung eines Menschen, in dem Sinne, dass wenn er oder sie in bestimmte Verhältnisse geboren wird, er oder sie sich nur so entwickeln kann und nicht anders. Dennoch muss sich jeder von uns mit den Verhältnissen, in die wir geworfen worden sind, auseinandersetzen. Und in gerade dieser Auseinandersetzung bestimmt sich unsere Entwicklung.

Auf den ersten Blick beschreibt die Kindheit und das Erwachsenwerden von Angela Dorothea Kasner eigentlich die ganz stinknormale Biographie einer Akademikerin in der damaligen DDR. 1961 Einschulung, 1962 Beitritt zu den Jungpionieren und damit zur FDJ. Die kleine Angela war eine sehr gute, strebsame Schülerin, welche zudem von ihrer Mutter, einer Lehrerin, die in der DDR aber nicht unterrichten durfte, da sie im Westen ausgebildet worden war, eingebimst bekommen hatte, dass von Pfarrerskindern Bestleistungen erwartet werden. 1973 dann folgerichtig das Abitur mit der herausragenden Durchschnittsnote 1,0 und herausragenden Leistungen in Mathematik und Russisch. Noch im gleichen Jahr nimmt Angela Kasner das Studium der Physik an der Karl-Marx-Universität Leipzig auf, das sie, wie sie später berichten sollte, im Gegensatz zu den schulischen Anforderungen an die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit bringt, dennoch schliesst sie auch das Studium mit dem Diplom „sehr gut” ab, bewirbt sich dann zunächst erfolglos an der Technischen Hochschule Ilmenau, bevor sie gleich im Anschluss 1979 auf Empfehlung eines Professors eine Stelle an der Akademie der Wissenschaft der DDR in Berlin-Adlershof, der bedeutendsten Forschungseinrichtung der DDR, antritt. Die ganze Zeit über bleibt sie engagiert in der FDJ, tritt aber nicht in die SED ein. So weit, so sehr gut, so stinknormal. Allerdings gibt es bei dieser “brillanten Stinknormalität“ doch einen kleinen Schönheitsfehler in der Entwicklung der engagierten Jung-Wissenschaftlerin und dieser betrifft ihre Herkunft. Angela Kasner ist das Kind eines Pfarrers in der DDR. Und Pfarrerskindern blieb eine solche Ausbildung und Karriere, wie sie Angela Kasner durchlaufen durfte, im real existierenden Sozialismus stinknormalerweise verwehrt. Warum sollte man auch die Sprösslinge des Klassenfeindes auf Kosten des Arbeiter-und-Bauern-Staates schlau machen? Stinknormalerweise hätte sie deshalb noch nicht einmal Abitur machen dürfen. Aber für Angela Kasner öffnete das Regime seine Pforten, liess sie nicht nur an der Karl-Marx-Universität Leipzig studieren, eine Institution, welche von der SED so auf Linie gebracht worden war, dass nach der Wiedervereinigung von 10.000 Mitarbeitern 7000 entlassen werden mussten, sondern gesteht ihr danach auch noch eine Berufstätigkeit an der Akademie der Wissenschaften der DDR zu. Jene Forschungseinrichtung in der DDR, die aufgrund ihrer Bedeutung direkt dem Ministerrat unterstellt war, weil sie nicht nur Grundlagenforschung sondern auch Forschungen für die Industrie und Landwirtschaft betrieb, und allein schon deshalb sicherheitstechnisch als äusserst sensibel galt, weshalb alle, die dort arbeiteten, selbstverständlich penibelst überprüft wurden. Offenbar hielt man von DDR-Staatswegen die Physikerin Kasner für eine äusserst vertrauenswürdige und zuverlässige Genossin, denn sonst hätte sie ihre Stelle dort niemals antreten dürfen. Und der gute Eindruck, den der Staat von seiner Genossin gewann, sollte sich noch verfestigen, denn 1986 wurde sie „Reisekader“, das waren DDR-Bürger, denen die SED Reisen in das kapitalistische Ausland erlaubte. Man kann also sagen, dass Angela Kasner ein Günstling des Regimes war, und zwar in dem Sinne, dass man an den offiziellen Stellen von ihrer Loyalität gegenüber der DDR zu 100% überzeugt war. Und das ist schon ein weiter Weg für die Tochter eines Pfarrers, der einst ausgezogen war, um gegen Gottlosigkeit und Atheismus in der DDR zu kämpfen. Überhaupt lebte die Familie Kasner spätestens nachdem Vater Kasner die Leitung der kirchlichen Weiterbildungsstätte übernommen hatte, durchaus privilegiert. So verfügte man über zwei Autos, unternahm Westreisen und wurde über kirchliche Schmuggelwege mit im Osten verbotener Literatur versorgt. Vater Kasner wusste seine Sonderstellung in der DDR zu nutzen und verfügte über mehrere belastbare Verbindungen in die Nomenklatura der DDR. Aber selbst beste Beziehungen konnten seine Tochter nicht vor dem herrschenden Anpassungsdruck schützen, der jeden erfasste, der in der DDR auch Karriere machen wollte. Diese gab es im sozialistischen Staat nur um den Preis der Unterwerfung. Wer diesen Preis nicht zu zahlen bereit war, blieb bestenfalls unten stecken, wenn er oder sie nicht noch schlimmere Gegenmassnahmen vergegenwärtigen musste. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass Horst Kasner und mit erwachendem Bewusstsein auch seiner Tochter Angela bekannt war, dass es Christen und Pfarrer und auch Pfarrerskinder gab, die dem Regime nicht dienlich waren, die sich ihm widersetzten und gegen es opponierten und deshalb einen Preis zu zahlen hatten. In diesem Zusammenhang ist von Angela Kasnervon eine bemerkenswerte Anekdote überliefert. Sie habe, wenn sie von Lehrern in der damaligen DDR, nach dem Beruf ihres Vaters gefragt wurde, immer irgendetwas genuschelt, dass sich irgendwie nach „Fahrer“ anhörte.

Häh?

Naja, diese Geschichte hat sie nach der Wiedervereinigung offenbart, als sie schon eine Person des Öffentlichen Interesses war. Sie wollte damit sagen oder den Eindruck erwecken, dass sie den Beruf des Vaters verheimlichen wollte, da sie besondere Beobachtung oder – schlimmer noch – Repressalien durch die Handlanger des Staates befürchten musste, wenn diese von ihrer Herkunft erfuhren. Und das ist natürlich zum einen totaler Quatsch, denn von DDR-Staatswegen hatte sie gar nichts zu befürchten, ganz im Gegenteil ebnete dieser ihr doch den Weg bis in die Wissenschaftselite der DDR, und zum einen ist es… ja doch, auch n bisschen… schäbig, stellt sie sich doch nach dem Ableben der DDR auf dieselbe Ebene wie die Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, als Pfarrerskinder, in der DDR nicht nur Repressalien befürchten mussten, sondern sie tatsächlich auch erlitten haben. Ich glaube aber dennoch, dass diese von ihr überlieferte Anekdote stimmt, dass sie wahr ist.

Warum denn das?

Ich glaube, dass es ihr tatsächlich unangenehm war, den Beruf ihres Vaters zu nennen. Ein Pfarrerskind in der damaligen DDR, dessen Vater sich nicht in dem Masse dem Regime andiente, wie es Horst Kasner tat, hatte sicherlich viele, viele Repressalien zu erleiden, aber dennoch einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber Angela Kasner: Es wusste, wo es stand. Wenn Angela Kasner hingegen den Beruf ihres Vaters zu offenbaren hatte, wurde allen Anwesenden, die diese Offenbarung hörten, doch allein schon durch den Ort, wo sie dieses ihr Geheimnis offenbarte – die FDJ, die Abiturklasse, die Karl-Marx-Universität, die Akademie der Wissenschaften – sofort der „Verrat“ ihres Vaters offenbar – denn ein „normales“ Pfarrerskind, dessen Vater sich nicht in dieser Weise dem Regime nutzbar gemacht hatte, hätte an diesen Orten allein schon von Staatswegen niemals sein dürfen und das – da kannste dir sicher sein – wussten alle. Angela Merkel verfügt somit über eine Biographie oder Sozialisation, die einzigartig ist, die nur wenige Kinder oder Heranwachsende in der DDR geteilt haben dürften, denn sie war das Kind eines erklärten Staatsgegners, der dennoch mit Privilegien belohnt wurde, weil er – zumindest nach der Meinung der Offiziellen – übergelaufen war. Und das nicht nur vom Westen oder vom Kapitalismus, sondern von einer Institution, die noch viel höhere Ansprüche an die Loyalität ihrer Diener hatte, denn durch die Institution der Kirche hindurch dienten sie letztlich Gott, dem sie in letzter Instanz auch immer legitimationspflichtig blieben. Mehr noch, der Wert, den Horst Kasner  für die SED besass und damit die Privilegien, die ihm der Staat zugestand, verdankten sich eigentlich allein der Tatsache, dass es in der DDR auch eine systemkritische Geistlichkeit gab, die der Staat mittels verschiedner Werkzeuge bekämpfte, wobei “die Kirche im Sozialismus” und somit auch Horst Kasner jeweils eines davon war. Denn ein jeder Pfarrer, den Horst Kasner in seinem Pastoralkolleg für die Sache der „Kirche im Sozialismus“ gewann, war ein potentieller Systemkritiker weniger. Das heisst, dass Horst Kasner dem Regime genau solange nützlich war, wie es unangepasste Geistliche in der DDR gab, die für ihre Unangepasstheit Nachteile zu erleiden hatten, wie zum Beispiel den, dass ihrem Nachwuchs der Zugang zu Abitur und Studium verwehrt wurde. Es sind somit diese Nachteile, auf denen die Vorteile der Kasners fussten. In diesem Sinne war der Zwiespalt, in den Kasners Spagat seine Tochter trieb, gewaltig, eben weil sie von Vaters Privilegien profitierte und letztlich von Gnaden der Partei zur Wissenschaft-Elite aufstieg. Und das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Entwicklung eines jungen Menschen, der lernen musste, erstens, diesen Zwiespalt oder genauer gesagt: Dreispalt auch auszuhalten, um auch, zweitens, sinnvolle Handlungsmuster und -strukturen und damit auch wie alle anderen Heranwachsenden eine Identität entwickeln zu können. Als Erstgeborene konnte sie nicht von älteren Geschwister lernen, sie ging allein durch eine Sozialisation, durch eine Welt, die bis dahin für sie ohne Beispiel war. Im Grunde genommen, musste sie sich nicht nur in einer Welt behaupten sondern gleich in drei: Der Welt der Anforderungen ihrer Herkunftsfamilie, die von ihr Bestleistungen verlangte, die Welt der SED-Diktatur, deren Bedingungen sie erfüllen musste, um die von der Familie geforderten Bestleistungen erbringen zu dürfen und die Welt der Mitschüler, Kommilitonen und Kollegen, die spätestens, wenn sie in Kenntnis ihrer Herkunft gesetzt wurden, wussten, welchen Preis sie, welchen Preis ihre Familie bereit war für ihr Fortkommen zu zahlen. Und in jeder dieser Welten galten andere Werte, die zum Teil diametral entgegengesetzt waren. In der Familie die christlichen Werte oder zumindest deren Anschein, der es ihrem Vater ermöglichen sollte, das Bild eines aufrichtigen Pfarrers, der sich und seiner Kirche treu geblieben war, aufrechtzuerhalten. Dagegen forderte die SED das Bekenntnis zu den Werten der Partei. Und die Welt der Gleichaltrigen, der Mitschüler, Kommilitonen und Kollegen, die bei Angela Kasners privaten Marsch durch die Institutionen vom System immer handverlesener wurden, in dem Sinne, dass sie um den Preis, der für das eigene Fortkommen im System zu zahlen war, immer besser wussten, beäugten dieses Pfarrerskind, das in ihrer Gesellschaft wie ein kurioses Alien auftauchte mitunter mit verwundertem Interesse und begehrten sicherlich nicht selten, zu wissen, wie sie es den nun hielte, mit ihrem Leben, ihrer Herkunft, ihren Werten und ihrer Identität unter dem Spagat ihres Vaters. Und je nachdem, wie vertraut sie mit dem Gegenüber war, wie sie es einschätzte, wie nützlich oder schädlich es ihr vielleicht werden konnte, wird sie ihre Antwort überdacht, abgewogen und variiert haben. Ein Beispiel dieser möglichen Antworten findet sich in einem BILD-Interview aus dem Jahre 2010, also aus einer Zeit in der Angela Merkel längst in ihre vierte Welt, die der Bundesrepublik, eingetaucht war. Auf die Bemerkung, „Sie kommen aus einem kirchlich geprägten Elternhaus, in dem Sozialismus gleichwohl kein Schimpfwort war.“ entgegnete sie:

“Wie kommen sie denn darauf? Mein Vater kam in den Sechzigerjahren zu der Erkenntnis, dass die Teilung Deutschlands für eine bestimmte Zeit als Realität hinzunehmen sei und dass Seelsorge in der DDR etwas anderes als in der Bundesrepublik zu sein habe. Das heißt aber nicht, dass er die Realität guthieß und den Gedanken an die Einheit aufgegeben hätte.“

Und das ist natürliche ein sehr geschönte „Wahrheit”, denn das einzige, was in diesen Sätzen wahr war, ist die Tatsache, dass ihr Vater als Gemeindepfarrer auch Seelsorge betrieb, alles andere ist stark verändert oder einfach unwahr, aber dennoch offenbart dieser kurze Absatz ihre Strategie: Sie relativiert. Und bedient sich dazu der einzigen unumstösslich wahren Aussage in ihrer Antwort, nämlich die unbestreibare Seelsorgertätigkeit ihres Vater, stellt diese dann aber in einen ganzen anderen Kontext und zwar in den Kontext, von dem sie annimmt, dass dieser so von ihr durch den Interviewenden erwartet werden würde. Nun ist es nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, was so ein BILD-Zeitungsfritzi von jemandem wie der Bundeskanzlerin erwartet, wenn es um ihre Jugend in der ehemaligen DDR geht, dennoch könnte dieser Absatz das Produkt der gemachten Erfahrungen in den ersten Lebensjahrzehnten widerspiegeln, als sie lernen musste, dass scheinbar unumstössliche, allgemeingültige und „ewige” Werte oder Standpunkte doch nur Gültigkeit besassen, wenn sie auch in den gerade vorherrschenden sozialen Kontext passten. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass wenn der Kontext wechselte, auch die Werte des alten Kontexts nicht nur wegfielen sondern durch ganz andere ersetzt werden mussten – und zwar durch ziemlich krass andere: Gott, der in einem Kontext höchste Instanz war und von dem sich alle christlichen Werte ableiteten, kam in dem anderen nicht nur nicht vor, sondern wurde noch als Relikt der vorsozialistischen Unterdrückung der Arbeiter und Bauern bekämpft. Demgegenüber konnte man mit dem obersten Gebot des Bildungssystems der DDR, nämlich die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“ und der deshalb zu vermittelnden und abzufragenden sozialistischen Werte, in einem herkömmlichen Pfarrerhaushalt nur relativ wenig bis gar nix anfangen. Und damit nicht genug, setzte sich dieser Relativismus der Werte, der auf der Makroebene der beiden ersten Welten beständig zwischen Christentum und Sozialismus oszillierte und sich gegenseitig negierte, noch auf der Mikroebene der dritten Welt der vielen, vielen sozialen Beziehungen fort, in welcher sie aber besonders aufpassen und vorsichtig sein musste, da die Fronten in dieser Welt nicht so klar verliefen wie in den ersten beiden. Das heisst, sie musste sich erst ihres jeweiligen Gegenübers versichern, ihn kennenlernen, seinen möglichen sozialen „Kontext“ abschätzen, um auch den richtigen, weil sozial erwünschten „Wert“ einsetzen zu können, denn ein richtiger Wert oder Standpunkt im falschen Kontext hätte fatale Wirkung haben können, weshalb es in dieser Lebenssituation auch von Vorteil sein kann, zu lernen, den Standpunkt bei Bedarf schnell wechseln zu können. So schnell, wie andere Leute die Unterhosen. Und wenns sein muss, sogar noch schneller. Und wenn man richtig schnell sein will, dann leistet man oder frau sich den Luxus, so wenig Werte wie nur möglich zu haben, denn Werte bedeuten für ein Pfarrerskind in dieser speziellen Welt der drei Welten eigentlich immer nur Stress, weshalb es manchmal schlauer ist, sich einfach nur pragmatisch durchzuwurschteln. Wobei man auch sagen muss, dass es eine nicht zu unterschätzende Leistung ist, sich unter diesen Bedingungen bis in die Akademie der Wissenschaften durchzuwurschteln, sensiblere Gemüter wären an diesen schizophrenen Anforderungen wohl zerbrochen. Angela Kasner jedoch nicht, ganz im Gegenteil, sie wird diese Zeit, die immerhin 35 Jahre währte, im Nachhinein vielleicht sogar als Trainingslager für “Soziale Intelligenz” und “verquere Kommunikationsstragien” betrachten können, die ihr in ihrem zweiten Leben als Politikerin einige Vorteile brachten.

Warum denn das?

Weil sie erstens, psychisch sehr belastbar ist, zweitens über eine hohe soziale Intelligenz verfügt, drittens ein gutes Einfühlungsvermögen hat und viertens verschiedene Kommunikationsstrategien entwickelte, die ihre Gegner regelmässig in den Wahnsinn treiben. So verstand sie es in den Jahren ihres politischen Aufstiegs sich immer son bisschen doof und dröge zu präsentieren, was zur Folge hatte, dass sie von innerparteilichen Gegnern, die vielleicht zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal wussten, dass sie ihre Gegner waren, regelmässig unterschätzt wurde. Vordergründig könnte man sagen, es sei ein Nachteil unterschätzt zu werden, in ihrem Fall war es aber immer ein Vorteil n bisschen doof und dröge zu wirken, da ihre Gegner – und hier zumeist Männer – dann nicht selten überheblich und unvorsichtig wurden und mehr über sich und ihre Schwächen preisgaben als sie eigentlich ursprünglich wollten, bevor sie dann selbst endgültig abserviert wurden. Dann noch das Vermögen, Positionen, die sie eben noch mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte, unter Inkaufnahme desaströser Folgeschäden völlig schmerzfrei und skrupellos innerhalb von nur einer Nanosekunde zu räumen, wenn es ihr aus persönlichen Machterhaltungs- oder parteipolitischen Gründen irgendwie opportun erschien. Oder ihre Fähigkeit, sich an Fürsprecher und Förderer und andere Personen, die ihr nützlich sein könnten, ranzuwanzen und für sich einzunehmen, wie geschehen beispielsweise mit Helmut Kohl, Friede Springer und Liz Mohn. Und dann noch neben der Vorsicht, möglichst nichts Essentielles über sich preiszugeben, sich nicht angreifbar zu machen, die Fähigkeit stundenlang zu reden ohne irgendetwas von Substanz zu sagen. Eine Politikereigenschaft, die sie zur Meisterschaft gebracht hat. Neulich hat sie das Folgende von sich gegeben:

„In den letzten zwölf Jahren hat sich in der Tat in Deutschland die Arbeitslosigkeit halbiert und das bedeutet für Millionen von Menschen, dass heute Menschen eine Arbeit haben, die vor zwölf Jahren keine Arbeit hatten.“

Das ist selbst für Wahlkampf ein unglaublich flaches Niveau, zumal sie ja nun wirklich nix dafür kann, dass die Arbeitslosigkeit gesunken ist. Aber der Erfolg scheint ihren Mitteln recht zu geben. Wobei man sich schon fragt, warum wird so jemand Politikerin. Warum will so jemand Ordnung bringen in das Leben der Anderen?

Ja, und? Warum?

Ich denke, das war son Vater-Tochter-Ding. Denn obwohl sie zur Mutter das innigere Verhältnis hatte, war der Vater wohl der prägende Mensch in ihrem Leben. Der Vater war moralische Autorität und Vorbild. Und auch wenn Angela Merkel kaum etwas über ihren Vater verlautbaren lässt, so gibt es doch einige wenige Indizien, dass sie in einem ambivalenten Verhältnis dennoch die Anerkennung des Vaters, der sich, wie sie einmal klagte, durch viel Arbeit den familiären Pflichten entzog, suchte. So war sie eine fleissige Schülerin, emsige Studentin und schliesslich Physikerin an der Akademie des Wissenschaft. Auch findet man keine Spuren von Rebellion in ihrem Lebenswurf. Sie war vielmehr brav, angepasst und vielleicht ein bisschen zu langweilig. Mit ein bisschen Mühe kann man ihre erste Ehe mit Ulrich Merkel, einem erklärten Atheisten, als kleine Eskapade deuten, als einen ersten Versuch, aus dem väterlichen Schatten herauszutreten und ein eigenes Leben unter neuem Namen zu beginnen. Wenn das so war, scheitert dieser Versuch jedoch kläglich, nach fünf Jahren verlässt sie ihren Mann sang- und klanglos. Sie sei, so sagte sie später, nicht mit dem nötigen Ernst in die Ehe gegangen, habe nur geheiratet, weil alle geheiratet haben, wobei sie interessanterweise den neuen Nachnamen „Merkel“ behielt, offensichtlich wollte sie keine Kasner mehr sein. Ein weiteres Indiz findet sich in der von ihr selbst kolportierten Anekdote, der Vater habe sie 1984 anlässlich ihres 30. Geburtstags besucht, da war sie schon zwei Jahre geschieden, und habe angesichts des chaotischen Zustands der Wohnung gesagt: „Weit hast Du es noch nicht gebracht.“ Und das kann natürlich ein herber Schlag sein für eine Tochter, die alle Leistungsvorgaben des protestantisch schroffen Vaters, der sich selbst zu Höheren berufen fühlte, zeitlebens aber Leiter eines Pastoralkollegs blieb, brav und vorbildlich übererfüllte, sogar unter den widrigen Bedingungen, die allein dem Vater zu schulden waren. So hatte sie, die emsige Schülerin, Studentin und Physikerin das Ende der Fahnenstange für Physiker doch längst erreicht. Vielmehr als die Akademie der Wissenschaften ging in der DDR nicht. Was sollte sie also noch erreichen können – den Physik-Nobelpreis? Aber aufgrund der sich langsam ankündigenden politischen Umwälzungen innerhalb der DDR und der darauf folgenden Wiedervereinigung, sollte sich schon bald eine weitere Karrierechance eröffnen. Wenn sich Parteien neu gründen, die aufgrund politischer Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft – zumal in Umbruchzeiten wie 1989 – berechtigte Aussichten darauf haben, an der „politischen Willensbildung“ im Land zukünftig mitwirken zu können, so ziehen diese neuen Parteien im besten Falle pragmatische Idealisten an, aber leider immer auch, wie bei den Grünen in den 1980er Jahren, den Wendeparteien 1989, den Piraten in den Nuller Jahren und der AFD ab 2013 zu beobachten war, eine bestimmte Mischung aus gescheiterten Existenzen, Profilneurotikern, Spinnern, Esoterikern, Karrieristen und sonstigen Interessierten. Und es hat natürlich einen Grund, dass diese neuen Parteien eine magische Anziehung auf Menschen haben, die aus verschiedenen Gründen mit der Verwirklichung ihres ersten Lebensentwurfs nicht so wahnsinnig zufrieden sind und deshalb gerne Ordnung bringen möchten in das Leben der Anderen, und dieser Grund ist sozusagen der beschleunigte zweite politische Bildungsweg, der mit ein bisschen Glück den Sofortzugang zu Macht, Diäten und Pöstchen eröffnet, anstatt sich in den etablierten Parteien auf die lange Ochsentour durch die parteiinternen Instanzen begeben zu müssen, die zuverlässig nicht nur das Rückgrat in Mitleidenschaft ziehen kann. Eine derjenigen, die diese zweite Chance ergriff, war bekanntlich Angela Merkel, für die auch aus verschiedenen Gründen mehr oder weniger dringender Handlungsbedarf bestand, denn zum einen bedrohte der Umbruch das Geschäftsmodell ihres Vaters, der vielleicht auch deshalb ein Gegner der Deutschen Einheit war und blieb, und zum anderen, war nicht ausgemacht, dass die Physikerin sich nach der Wiedervereinigung im dann westdeutsch dominierten Wissenschaftsbetrieb würde behaupten können. Angela Merkel, die zuvor, abgesehen von ein wenig Schwärmerei für Gorbatschow, kaum als politisch interessiert aufgefallen war und noch im September 1989 einer Besucherin aus dem Westen anvertraut haben soll: „Am meisten störe sie an der DDR, dass es keinen anständigen Joghurt gebe.“, engagierte sich nur etwa vier Monate vor der ersten demokratischen DDR-Volkskammerwahl ab Dezember 1989 in einer der neuen Parteien, dem „Demokratischen Aufbruch“, hing zunächst wie andere der verkopft-elitären Idee von einem alternativen und sozialistischen zweiten Deutschland an, schwenkte aber mit der Mehrheit der Partei kurze Zeit später auf Kurs Wiedervereinigung um. Bei der Volkskammerwahl erreichte die Partei, die zuvor gute Chancen auf grössere Stimmenanteile hatte, aber nur 0,9% der Stimmen, da wenige Tage vor der Wahl der Vorsitzende Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel aufflog, was das abrupte Ende der politischen Karriere der Angela Merkel hätte sein können, wenn sie nicht das Glück gehabt hätte, dass ihr Verein bereits einen Monat zuvor auf Initiative der CDU ein Wahlbündnis mit verschiedenen anderen konservativen Parteien, darunter auch der spätere Wahlsieger, die Ost-CDU, eingegangen war. Ein Wahlbündnis, welches sich die CDU wenig später in grossen Teilen einverleiben sollte. Überhaupt hatte die Politikquereinsteigern Angela Merkel bei aller Strebsam- und Emsigkeit sehr viel Glück. Glück, dass sie jemanden kannte, der sie auf ihren ausdrücklichen Wunsch Helmut Kohl vorstellte. Glück, dass sie jemanden kannte, der ihre einen sicheren Wahlkreis für die CDU verschaffte. Glück, dass Helmut Kohl ihr, die über keinerlei politische Erfahrung verfügte, bereits 1991 ein Bundesministerium überantwortete. Glück, dass sie in ihrer Eigenschaft als ostdeutsche Frau gewissermassen eine Doppelquote erfüllte und in dieser Eigenschaft immer wichtiger wurde, da sich immer mehr ostdeutsche Politiker innerhalb der CDU aufgrund ihrer Stasi-Vergangenheit oder späteren Masslosigkeiten im Amt selbst ins Aus katapultierten. Und auch das Glück der CDU-Spendenaffäre, in welche die Partei 1999 nach der verlorenen Bundestagswahl schlitterte, und in deren Verlauf nicht nur die Kanzlerkandidatenträume Schäubles zerstoben, sondern auch die alten West-Seilschaften innerhalb der CDU in den Sog der Affäre gerieten, weshalb die ostdeutsche Generalsekretärin Merkel ihre Chance witterte. Im September 1998 wurde ihr Mentor und Förderer Helmut Kohl abgewählt, am 30.November 1999 gestand er, was er zuvor abgestritten hatte, die persönliche Annahme von insgesamt 2,1 Millionen DM Parteispenden, die er auf schwarzen Partei-Konten bunkerte, und deren Spender er sich aufgrund eines gegebenen Ehrenwortes weigerte, zu nennen. Einige Tage später trat Kohl auf Druck des Präsidiums vom Ehrenvorsitz der CDU zurück. Am 22. Dezember 1999, also ungefähr drei Wochen später, erschien dann ein „offener Brief“ mit dem Titel: „Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorwürfe haben der Partei Schaden zugefügt“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, geschrieben von der Generalsekretärin Merkel und nicht abgestimmt mit ihrem Vorsitzenden Schäuble, in dem sie Helmut Kohl – naja – ziemlich blümerant aufforderte, sich endlich zu verpissen. Nun ist Dankbarkeit keine politische Kategorie und auch hat Kohl „sein Mädchen“ im Sinne der doppelten Quote als ostdeutsche Frau immer benutzt, dennoch verdankte wohl niemand in der CDU-Funktionärsebene seine politische Karriere so ausschliesslich einem Mann, wie sie Merkel Kohl verdankt. Er hatte sie sprichwörtlich aus dem Nichts aufgebaut, und bereits 1991 zur Ministerin gemacht, was sie bis 1998 bleiben sollte. Doch wenn der ehemalige Mentor nach seinem Fall nicht mehr von Nutzen sein konnte, so zog sie wenigstens grösstmöglichen Nutzen aus seinem politischen Ende, indem sie den alten störrischen Mann, der jetzt ohnehin erledigt war, auch wenn er den Schuss mal wieder nicht gehört hatte, ohne mit der Wimper zu zucken öffentlich politisch exekutierte. Und dazu gehört schon eine gehörige Portion Chuzpe. Die taz titelte damals „Vatermord“. Und ich glaube, damit hatten sie auch recht, eigentlich war es aber beides, ein symbolischer Vatermord und ein skrupelloser Seitenwechsel aus dem Schatten ihrer „beiden” Väter, Kasner und Kohl, heraus auf ihre ureigene Seite. Am 10. April 2000 wurde Angela Merkel zur Bundesvorsitzenden der CDU gewählt, sie war in der Steueraffäre durch ihre Ost-Vergangenheit die letzte gänzlich unbelastete Führungsreserve geblieben und hatte durch den politischen Mord an Kohl die Sympathien weiter Teile der Partei-Basis gewonnen. Und Fortuna blieb ihr weiter hold, als es im Sommer vor der Bundestagswahl 2002 nicht aufhören wollte, zu regnen und zu regnen und zu regnen, und der amtierende Bundeskanzler Schröder die sich damit bietende Möglichkeit nutzte, sich im Wahlkampf als Deichgraf zu präsentieren und in Gummistiefeln über aufgeweichte Dämme zu stapfen, was den zuvor als sicher eingeschätzten Wahlsieg Stoibers zunichte machte, denn ohne dieses Hochwasser wäre Merkel heute bestenfalls Ministerin in einem Kabinett Stoiber oder Merz oder vielleicht sogar schon eine Fussnote der Geschichte. Stattdessen aber war sie als CDU-Kanzlerkandidatin bei der Bundestagswahl 2005 nicht mehr zu verhindern, die sie gewann, wenn auch knapp, sodass sie am 22. November 2005 unter den Augen ihres Vaters endlich ihren Amtseid als Bundeskanzlerin sprechen konnte.

Sie hats geschafft. Und es ihrem Vater gezeigt!

Ja, sie hat sich abgenabelt und emanzipiert.

Na, is doch prima!

Ja, als Emanzipationsgeschichte ganz toll. Es gibt nur ein klitzekleines Problemchen dabei.

Und das wäre?

Dass sie seitdem Bundeskanzlerin ist.

Und warum das ein “Problemchen” ist, steht im nächsten Teil von “Biedermann und Brandstifer”, der in wenigen Tagen erscheint.

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