Biedermann und Brandstifter – Vierter Teil

Chef?

Hm?

Hast Du nicht gesagt, dass heut noch keiner wissen kann, wie sich die Moblität inner Zukunft gestaltet?

Ja, habbich.

Es gibt aber doch eine, die scheints zu wissen.

Und wer?

Na, unsere Bunsekanzlerin!

Ach nee… Ausgerechnet die?!

Doch, weil die denkt ja immer alles vom Ende her, verstehste?

Ja, klar. Von unser ALLER Ende!

Jetzma im Ernst, Chef!

Das is mein Ernst!

Schon klar. Weil die war doch neulich auf Staatsbesuch in Südamerika. Haste doch bestimmt gelesen.

Ja, habbich. Aber leider isse zurückgekommen.

Und da hatse doch verlautbart, dass man inner Zukunft, also in 20 Jahren, nur noch mit ner Sondererlaubnis selbständig Auto fahren darf. Na, und das kannse doch nur wissen, wennse auch weiss, wie sich die Moblität inner Zukunft gestaltet. Oder nich, Chef?!

Ja, na klar, kannse das nur wissen, wennse auch weiss, wie sich die Mobilität in der Zukunft gestaltet. Aber das Problem ist, das weiss die ja gar nicht. Denn wenn der lebende Hosenanzug eins bisher nachdrücklich bewiesen hat, dann dasser zweifelsfrei nich in der Lage ist, in die Zukunft zu schauen. Schon gar nicht über einen Zeitraum von 20 Jahren. Der ist ja schon von ner Woche total überfordert!

Warum erzähltse dann son Scheiss?

Weiss ich nicht. Vielleicht sind irgendwann n paar Heinis von der Autoindustrie bei ihr im Bundeskanzleramt aufgekreuzt und hamse besoffen gequatscht von wegen selbstfahrenden Autos und Trallala. Weil das’ ja sozusagen gesetzliches Neuland und da brauchen die das Wohlwollen der Exekutive als auch der Legislative und Merkel is nunma die Chefin der Exekutive und manchmal sogar noch mehr als das, dann isse nämlich höchstselbst und sozusagen gleichzeitig die Legislative und braucht das Parlament gar nicht mehr. Und weil man einfache Gemüter nicht überfordern sollte, isses manchmal hilfreich mit einprägsamen Bildern zu operieren. Also ham sich die Autoindustriefritzen vielleicht gedacht, jetzt erzählen wir dem Hosenanzug mal, dass die schöne neue Welt der autonomen Autos in ihrer letzten Ausbaustufe so unendlich perfekt und der Verkehr so schön automatisch fliessen werde, dass deshalb der Mensch nicht nur nicht mehr selbst eingreifen muss sondern auch mehr nicht eingreifen darf, um die Automatik in ihrer Perfektion nicht zu stören, es sei denn, er ist im Besitz einer Sondererlaubnis. Und dieses Bild hat der Hosenanzug dann vielleicht irgendwie so halb begriffen und in seinen Synapsen unter dem Oberbegriff „Zukunft“ abgespeichert. Und alsse dann in Südamerika von so einem naseweisen Studenten gefragt wurde, wie sie sich die Welt in 20 Jahren vorstellt, sind eben die Worte aus ihr herausgefallen, die sie unter dem Oberbegriff „Zukunft“ in ihren Synapsen abgelegt hatte, also „Digitalisierung“, „Demographischer Wandel“ und eben auch „Sondererlaubnis“. Das ist ganz normal bei der, bei der fallen öfters Wörter raus, die eigentlich gar keinen Sinn ergeben, wie „Neuland Internet“, „Wir schaffen das“, „Keine Obergrenze“, „Sie kennen mich“. Das ist an und für sich auch nicht so schlimm, wenn nicht ihr Amt ihren Worten so ein starkes Gewicht geben würde, was sie entweder regelmässig vergisst oder was ihr in ihrer Wurschtigkeit herzlich egal zu sein scheint. Und das entfaltet dann zuweilen fatale Wirkungen, denn ein wurschtiges „No Limits“ wird in unterschiedlichen Weltgegenden auch unterschiedlich interpretiert, manchmal als Einladung und dann wiederum als Abschreckung.

Und dann hatse noch gesagt: „Wir sind das grösste Risiko.“

Ja, und was sie angeht, sah es wohl die Mehrheit der britischen Wähler genauso.

Nee, das mit dem grössten Risiko bezog sie auf die selbstfahrenden Autofahrer.

Achso. Is aber letztendlich auch egal, bei der is ohnehin alles wurscht.

Alles wurscht?

Ja, gewissermassen aus Prinzip.

Wie meinste das denn jetzt: Prinzip?

Na, das Prinzip der Wurschtigkeit aus Prinzip.

Das Prinzip der Wurschtigkeit aus Prinzip?

Ja, das Prinzip der Wurschtigkeit aus Prinzip besagt, dass der Hosenanzug mal den einen Standpunkt vertritt und dann wieder genau das Gegenteil, je nach dem was gerade gefragt is. Verstehste?

Nö…

Na, die is eben maximalstmöglich flexibel. Im Prinzip ist sie das Wahlprogramm der SPD, der Grünen, der FDP und n bisschen auch der AFD gleichzeitig. Aber nicht immer sondern nur wenn bestimmte Elemente davon gebraucht werden, weil der Zeitgeist sie gerade nach oben gespült hat.

Und das Wahlprogramm der CDU?

Na, genau das is doch das Wahlprogramm der CDU, das ham die nur noch nich begriffen.

Ähä… Das Wahlprogramm der CDU ist also maximalstmögliche Flexibilität?

Nee, das Wahlprogramm der CDU ist Angela Merkel. Und die steht für maximalstmögliche Flexibilität oder auch für das Prinzip der Wurschtigkeit aus Prinzip. Genau das treibt ja so viele in den Wahnsinn, weil die einfach nicht zu fassen ist, da isses echt einfacher einen Pudding an die Wand zu nageln als vorherzusagen, was die Frau als nächstes anstellen wird. Dabei isses so schwer auch wieder nicht, denn letztendlich wird sie immer das unternehmen, was ihr und damit der Machterhaltung nutzt. Und das ist das Prinzip der Wurschtigkeit: Keine festen Standpunkte zu haben sondern die Meinung bei Bedarf wechseln wie andere Leute die Unterhosen.

Und warum isse so?

Warum sind Menschen so wie sie sind?

Keine Ahnung..?

Na, weil sie so geworden sind!

Sehr witzig!

Nein, im Ernst, wir sind so wie wir sind, weil wir so geworden sind. Natürlich bringen wir gewisse genetische Veranlagungen mit, aber letztendlich ist es unsere Geschichte, die uns prägt. Und irgendwas muss auch den Hosenanzug geprägt haben, dasser so geworden ist, wie er ist.

Aha. Und was soll das gewesen sein?

Da müsste man sich mal ihre Familiengeschichte ansehen, beziehungsweise das Wenige, was davon bekannt ist. Und sie scheint sehr darauf zu achten, dass das auch so bleibt. So sind die Stasi-Akten über sie und ihren Vater unter Verschluss. Dann gibts noch n paar, meist eher unkritische Biographien, die mehr oder weniger alle die gleiche dürre Datenlage durchkauen. Nur nach und nach kommen paar neue Fakten dazu. So erschien 2013 eine Biografie oder sagen wir ein weiteres Jubelbuch über den Hosenanzug, das immerhin zutage brachte, was bis dahin kaum einer wusste, dass nämlich Merkel auch polnische Wurzeln hat, durch ihren Grossvater väterlicherseits, einen gewissen Ludwik Kazmierczak, der 1896 in Posen geboren wurde. Posen war damals Teil des deutschen Kaiserreiches, weil der polnische Staat bereits gegen Ende des 18. Jahrhundert aufgehört hatte zu existieren, als Preussen, Russland und Österreich das innerlich zerrissene Land überfielen und dessen Territorium unter sich aufteilten. Kazmierczak war somit ethnischer Pole, aber auch Staatsangehöriger des deutschen Reichs und wurde als solcher 1915 zu deutschen Armee eingezogen und an der Westfront des Ersten Weltkriegs eingesetzt. Was dann dort geschah, weiss man nicht genau, entweder er geriet in Gefangenschaft oder er lief über, jedenfalls wurde er Mitglied der Blauen Armee, was auch durch ein Foto belegt ist.

Blaue Armee?

Die Blaue Armee oder auch Haller Armee war eine Einheit aus patriotischen Exilpolen und polnischen Überläufern, die, von den Franzosen aufgestellt, auf Seiten der Allliierten zunächst im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland kämpfte, nach Ende des Kriegs aber nach Polen verlegt wurde, um dort die Unabhängigkeit Polens zu erkämpfen, was ihnen schliesslich auch gelang, woraufhin die westlichen Alliierten die Blaue Armee als die einzig legitime Armee des nun unabhängigen Polens anerkannte.

Dann war Merkels Opa also polnischer Patriot, der zunächst gegen seinen Willen in die deutsche kaiserlich Armee gepresst wurde, sodann der polnischen Armee beitrat, um die Unabhängigkeit seines Vaterlandes zu erkämpfen. Das’ aber mal n feiner Zug von ihm.

Ja, sollte man meinen. Bei Kriegsende gehörte er jedenfalls zu den Siegern. Kannste mal sehen. Danach geschah aber etwas Ungewöhnliches. Nachdem er Polens Unabhängigkeit mit erkämpft hatte, optierte er dennoch für die deutsche Staatsangehörigkeit und liess sich in Berlin nieder.

Häh?

Ja, vielleicht aus Liebe zu einer Deutschen, einem Dienstmädchen, der er nach Berlin folgte. Vielleicht aber auch, weil er gar kein polnischer Patriot war sondern nur in einem alliierten Gefangenenlager zur Blauen Armee gepresst wurde. So genau weiss das niemand. Wie auch immer, erst einmal in Deutschland wird der ethnische Pole und ehemalige Soldat der polnischen Blauen Armee sozusagen deutscher als nur deutsch. Er, der Katholik, wird im protestantischen Berlin evangelisch, deutscht seinen Namen Kazmierczak in Kasner um und tritt als Polizist in den Dienst des Landes, Deutschland, das einst sein Vaterland überfallen und aufgeteilt hatte, dessen Unabhängigkeit er als Angehöriger der Blauen Armee später mit erkämpfen sollte, um dann 1939 als Polizeibeamter des nationalsozialistischen Regimes mit anzuschauen, wie sein Herkunftsland Polen wiederum von seinem Wahlland, Deutschland, und den Sowjets überfallen, besiegt und aufgeteilt wurde.

Ähä, also halten wir mal fest. Der Typ war anfangs Soldat der deutschen kaiserlichen Armee, dann Soldat der polnischen Blauen Armee, die gegen die deutsche kaiserliche Armee kämpfte, dann Polizeibeamter des deutschen Staates, der Weimarer Republik und des NS-Regimes. Erst polnisch-katholisch, dann preussisch-protestantisch und deutschte seinen polnischen Namen so ein, dass kein Hinweis mehr auf seine ursprünglich polnische Identität verblieb?

Eben maximalstmöglich flexibel, der Mann. Es geht aber noch weiter. Nachdem Kasner 1930 seinen Familiennamen änderte, erhielt selbstredend auch der 1926 geborene Sohn Horst den neuen Nachnamen, so wie er zunächst auch katholisch getauft, später dann aber evangelisch konfirmiert wurde. Und dann setzte Sohnemann noch eins obendrauf, als er – eher ungewöhnlich für den Sohn eines Polizisten und eines Dienstmädchens in der damaligen Zeit – ab 1948 evangelische Theologie studierte. Das Studium beendete er in Hamburg, wo er auch heiratete und 1954 sein erstes Kind, Angela, geboren wurde. Wenige Wochen nach der Geburt seines ersten Kindes verzog der junge Kasner dann in die Ostzone, um dort in irgendeinem armseligen Kaff in Brandenburg eine Hilfspfarrstelle anzutreten.

In die DDR? Warum das denn?

Offiziell weil ihn der spätere Hamburger Bischof dazu aufgefordert hatte, da die Kirche in Brandenburg wohl unter einem Pfarrermangel litt. Kasner begründete den ungewöhnlichen Schritt – immerhin verliessen damals zwischen 30.000 bis 40.000 Menschen monatlich die DDR in Richtung Westdeutschland, weshalb ihn sein Umzugsunternehmer auch wissen liess, nur “Kommunisten und wirkliche Idioten” zögen in die entgegengesetzte Richtung, wie folgt: „Für mich war das eine Verpflichtung. Ich stamme aus Berlin. Ich kehrte nach dem Theologiestudium zurück, um gegen die atheistische und gottlose Propaganda des SED-Staates zu kämpfen.“ Kasner wäre aber, so sagte er später, auch nach Afrika gegangen, wenn ihn seine Kirche dazu aufgefordert hätte. Wie auch immer, der Kampf gegen den atheistischen und gottlosen SED-Staat gestaltete sich für den Jungpfarrer Kasner zunächst wenig erfreulich, auf karger Scholle ernährte sich die junge Familie bei geringem Gehalt nach den Erinnerungen Angela Merkels von Brennnesselspinat aus eigenem Anbau und selbstgemolkener Ziegenmilch, bis der junge Kasner dem örtlichen Superintendenten und Direktor des Brandenburger Priesterseminars, Albrecht Schönherr, auffiel, der dem Jungpfarrer schon 1957, also erst drei Jahre nach dem Abschluss des Studiums, aufgrund seiner pädagogischen Begabung zu einer neuen und jetzt erfreulicheren Stellung verhalf. Kasner wurde in die Uckermark geschickt, genauer nach Templin, um dort in einer stiftungseigenen Behinderteneinrichtung eine kirchliche Weiterbildungsstelle aufzubauen. Somit besetzte er – vielleicht ohne es zunächst zu wissen – eine Schlüsselposition für die weitere Entwicklung der evangelischen Kirche in der DDR, denn zwischenzeitlich war man in Moskau auf den Trichter gekommen, dass unter anderem in der DDR eine aggressive Auseinandersetzung mit der „Feindorganisation“ Kirche wenig zielführend sei, da zum einen damals noch 70% der SED-Mitglieder auch der evangelischen Kirche angehörten und zum anderen die noch junge DDR als Staat international isoliert war, weshalb man sich als Regime, dem die Bürger in Scharen davonlaufen, von einer Kirche, die sich dem Sozialismus dienstbar macht, auch eine höhere internationale Akzeptanz versprach. Reuth und Lachmann bemerken in ihrem Buch „Das erste Leben der Angela M.“ in diesem Zusammenhang: „Die SED war sich dabei bewusst, dass dies nur erreicht werden würde, wenn es gelänge, eine DDR-eigene evangelische Kirchenorganisation zu schaffen. Hierfür musste die gesamtdeutsche EKD zerschlagen und West-Berlin in der ebenfalls grenzüberschreitenden Landeskirche Berlin-Brandenburg isoliert werden.“ Blöd war nur, dass die evangelische Kirche in der DDR weiterhin Teil der gesamtdeutschen Evangelischen Kirche Deutschlands war und die EKD und namentlich der Berliner Bischof Otto Dibelius, ein erzkonservativer Vertreter seiner Zunft aber überhaupt keine Lust verspürten, die evangelische Kirche inder DDR der Sache des Sozialismus dienstbar zum machen. Ganz im Gegenteil sprach er der SED nicht nur jegliche Legitimation ab und forderte von seinen Pfarrern Standhaftigkeit im Kampf gegen das totalitäre Regime. Die SED bedurfte demnach eine eigene theologische Positionierung für eine DDR-eigene Kirche, die, konträr zu der offiziellen Position der EKD, auch von Theologen innerhalb der DDR erarbeitet werden musste. Diese Gegenposition lieferte der sogenannte „Weißenseer Arbeitskreis“, eine Gruppe von linkssozialistischen und SED-treuen Theologen um Albrecht Schönherr, die vom Ministerium für Staatssicherheit unterwandert war und in deren elfköpfigen Leiterkreis auch Horst Kasner sass. In ihren „Sieben Sätzen von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ kritisierten die Urheber bereits 1961 die traditionelle Verbindung der Kirche als Institution mit weltlicher Macht und erhoben brav die Zusammenarbeit mit der „antifaschistischen“ Staatsmacht, also der DDR, zur Christenpflicht. Die staatsnahe Haltung der Theologen war dabei so ausgeprägt und ihre Begeisterung für den Sozialismus anscheinend so gross, dass ihre Liebdienerei seitens der SED bereits schon wieder als irritierend empfunden wurde. Die Positionierung des „Weißenseer Arbeitskreises“ stand somit nicht nur konträr zu der Linie der EKD sondern auch zu einer Standortbestimmung der Evangelischen Kirchen in der DDR, wonach die Christen sich nicht dem „Absolutheitsanspruch deiner Ideologie“ unterwerfen sollten. Dennoch wurden diese sieben Sätze des Arbeitskreises zum Theologischen Kern der „Kirche im Sozialismus“-Konzeption, die sich Anfang der 1970er Jahre innerhalb der DDR entwickelte, als der SED-Staat die gesamtdeutsche Kirche EKD qua Verfassung verbot und sich schliesslich eine DDR-eigene Dachorganisation der Kirchen, der “Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ (BEK), etablieren musste. „Kirche im Sozialismus“ bedeutete nicht, dass sich alle Kirchenvertreter der Meinung Albrecht Schönherrs, „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein.“, anschlossen und auch nicht, dass alle, die sich dieser Konzeption schliesslich  anschlossen, dies auch als Bekenntnis zum Sozialismus verstanden – ganz im Gegenteil. Dennoch verstanden einige Kirchenvertreter die Formel „Kirche im Sozialismus“ durchaus orthodox, unter ihnen wohl auch Horst Kasner, der für sich auch die geistige Urheberschaft der Konzeption „Kirche im Sozialismus“ in Anspruch genommen haben soll. Kasner stand der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren kritisch gegenüber, überhaupt verhält er sich, der einst ausgezogen sein will, um die gottlose und atheistische SED-Propaganda zu bekämpfen, in der DDR erfreulich systemkonform. Reuth und Lachmann zitieren aus einer IM-Vorlaufakte von 1970: „Denn in einer späteren Einschätzung der Geheimdienstler der für Templin zuständigen Neustrelitzer Bezirksverwaltung ist die Rede davon, dass Kasner nicht nur an einem guten Verhältnis zwischen Staat und Kirche interessiert sei. Er sei auch bestrebt, „dieses Verhältnis (…) auf eine höhere kirchliche Ebene zu übertragen“, heisst es. Weil er sich nicht scheue, seinen Standpunkt offen darzulegen, habe sich „Pastor Kasner bei den progressiven Kräften (…) ein hohes Ansehen erworben”, wurde ausserdem noch vermerkt.“ Mit Hilfe seines Mentors Schönherr wurde die kirchliche Weiterbildungsstätte, der Waldhof, an den Kasner versetzt worden war, unter seiner Leitung sukzessiv ausgebaut und schliesslich Pastoralkolleg und damit Bestandteil der Pastorenausbildung und somit auch nach Reuth und Lachmann: „…ein Ort der Indoktrination, ein Ort, an dem die Anschauungen, die im Weißenseer Arbeitskreis erarbeitet worden waren, an den Pfarrernachwuchs weitervermittelt wurden. (…) Wo der Leiter der Fortbildungsstätte, der gleichzeitig das Amt des Gemeindepfarrers ausübte, politisch stand, war inzwischen kein Geheimnis mehr. In seiner Kirche nannten ihn seine Gegner längst den „roten Pastor“ oder den „roten Kasner“.“ Es kann wohl keine Rede davon sein, dass Kasner sich in der DDR mit dem System „arrangiert“ habe, in dem Sinne, dass er in einer Nische der inneren Emigration „überwinterte“, um auf die Wiedervereinigung zu warten, während er die Kollaboration mit dem System nur auf das Notwendigste beschränkte, dazu war er als Leiter der Fortbildungsstätte und Pastoralkollegs einfach zu wichtig. Und natürlich war man bei der SED zufrieden zu wissen, dass diese Schlüsselposition innerhalb der Kirche mit einem „progressiven“ Kirchenmann besetzt war, für den Sozialismus und Frohe Botschaft keine unvereinbaren Gegensätze sondern vielmehr sich ergänzende Heilsversprechen waren. Dass die SED selbst diese Sichtweise nicht teilte sondern sich vielmehr daran machte, den Kirchen höchst erfolgreich das Wasser abzugraben – 1945 waren 90% der Bürger in Ostdeutschland Kirchenmitglieder, kurz vor der Wiedervereinigung warns nur noch 25% – Kasner also mit seinem Engagement im Weißenseer Arbeitskreis letztendlich einem System zugearbeitet hatte, das seinem eigenen Laden nach und nach die Lichter ausblies, wurde dem roten Pastor langsam bewusst. 1974 vertraute er einem Gesprächspartner, Rainer Eppelmann, an: „…dass noch zu seinen Lebzeiten die evangelische Kirche in der DDR so schrumpfen werde, dass die meisten Gemeinden sich keine hauptamtlichen Pfarrer mehr leisten können.“ Ein Vater, der die Zukunft seiner eigenen Profession so düster einschätzt, kann seinen Kindern kaum empfehlen in seine Fußstapfen zu treten. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass keines seiner drei Kinder Theologie studierte, wobei wiederum interessant ist, dass zwei der drei Physik studieren sollten, also den Welterklärungsanspruch des Vater gewissermassen säkularisierten.

Das war aber’n seltsamer Pfarrer, Chef. Geht vom Westen in den Osten, um gegen Gottlosigkeit und Atheismus zu kämpfen. Hilft dann aber der SED, die DDR-Kirche von der gesamtdeutschen Kirche zu lösen, wird Sozialist und muss sodann dabei zusehen, wie die SED “seiner Kirche“ langsam den Garaus macht.

Kommt einem irgendwie bekannt vor, gelt?

Du meinst den Ludwig?

Genau. Und da gibs noch mehr Parallelen.

Und die wären?

Na, zum Beispiel die Berufswahl. Polizist und Pfarrer. Auf den ersten Blick total unterschiedliche Berufe, auf den zweiten ergeben sich dann aber doch Gemeinsamkeiten. Nicht nur der Pfarrer ist ein Hirte in seiner Herde sondern auch der Polizist, dessen Aufgabe es ist, die öffentliche Ordnung in der weltlichen Gemeinde zu gewährleisten. Gleiches gilt für den Pfarrer und seine Kirchengemeinde. Beide, Pfarrer und Polizist, walten im Auftrag einer höheren Macht, der sie auch ihre Autorität verdanken. Die Kirche wirkt durch den Pfarrer und der weltliche Staat durch den Polizisten. Gewissermassen verleihen diese Institution ihre Macht an ihre Vertreter. Sie sind dann befugt, diese verliehene Macht weisungsgebunden anzuwenden. Ein symbolischer Ausdruck dieser verliehenen Macht ist die Uniform, sie ist nicht das Zeichen der Individuen Polizist oder Pfarrer, sondern das Zeichen der Institution, das sich die Individuen als Polizist oder Pfarrer erst nach ausdrücklicher Erlaubnis der Institutionen Staat und Kirche aneignen dürfen. Die Individuen schlüpfen sozusagen in die Zeichen der Macht, Polizeiuniform und Talar, und verkörpern danach die Institutionen, deren Zeichen sie tragen, mehr noch – sie sind für das jeweilige Gegenüber immer Staat und Kirche. Und weil sie das sind, weil sie die Institutionen vertreten sollen, haben die Institutionen natürlich ein noch grösseres Interesse daran als andere Arbeitgeber, dass ihre Vertreter absolut verlässlich sind. Gleiches gilt natürlich auch für den Soldaten. Ein Staat muss sich auf seine Soldaten und Polizisten absolut verlassen können, eben weil sie den Staat und dessen Gewalt verkörpern, meuternde Soldaten, korrupte Polizisten können einen Staat innerhalb kürzester Zeit implodieren lassen. Ebenso wie sich eine Kirche darauf absolut verlassen muss, dass sich ihre Vertreter als Einheit präsentieren, dass sie den Weisungen der Kirche, in deren Dienst sie eingetreten sind, Folge leisten, denn wenn ein jeder etwas anderes predigt, ists mit der Einheit der Kirche bald vorbei. Loyalität oder altdeutsch: Treue dem Dienstherrn gegenüber ist demnach eine absolut unabdingbare Vorbedingung vor Verleihung des Amtes und den damit einhergehenden Machtbefugnissen. Und genau deshalb wird die Übergabe der Machtbefugnisse durch eine bestimmte Zeremonie nicht nur markiert sondern symbolisch erhöht, in deren Zentrum ein Eid bzw. Gelübde steht, die ja nichts anderes sind als Treubekundungen gegenüber dem Staat oder der Verfassung oder der Allgemeinheit oder eben auch der Kirche.

Vater und Sohn haben sich also berufsmässig in den Dienst einer höheren Macht gestellt. Der Vater in den Dienst des Staates und der Sohn in den Dienst der Kirche.

Genau, der Sohn sogar mittelbar in den Dienst der höchsten Macht, nämlich Gott. Man könnte also sagen, er habe den Vater symbolisch überflügelt. Letztlich aber sind sie jeder in seiner Welt mit der gleichen Aufgabe betraut, der Vater als Polizist mit der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Sohn mit der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der, wenn man so will, religiösen Ordnung innerhalb der Kirchengemeinde, wobei sie in der Art und Weise, wie diese Ordnung durchgesetzt werden soll, weisungsgebunden bleiben. Und beide tragen als sichtbares Zeichen ihrer verliehenen Machtbefugnisse eine Uniform.

Beide sollen Ordnung bringen in das Leben der Anderen.

Ja.

Und beide schwören einen Eid oder sprechen ein Gelübde.

Ja. Der Vater sogar mindestens vier Mal.

Vier Mal?

Ja. Den Fahneneid der deutschen Armee des Kaiserreichs, den Fahneneid der polnischen Blauen Armee, den Amtseid der preussischen Polizei in der Weimarer Republik und nach 1933 den Führereid der Nazis. Ludwig Kasner war bei Kriegsende erst 48 Jahre alt, gut möglich also, dass er auch noch einen fünften Eid geleistet hat. Vielleicht für die VoPo.

Junge, Junge…

Bewegte Zeiten damals. Und auch nicht gänzlich ungewöhnlich, schliesslich wurde der ganze verbliebene Beamtenapparat der Weimarer Republik nach der Machtergreifung auf den Führer und damit auf die Nazis eingeschworen und von denen wurden später nicht wenige in den Dienst der Bundesrepublik übernommen. Ungewöhnlich sind vielleicht nur die ersten drei Eide des Ludwig Kasners, die zwei Eide für zwei gegnerische Armeen und der Eid für die preussische Polizei. Kasner wurde damit nicht nur zu einem Wanderer zwischen den Welten sondern zu einem Wanderer zwischen den Fronten. Eine weitere Parallele zu seinem Sohn.

Anscheinend hat er das mit den Eiden nicht sonderlich ernst genommen.

Offensichtlich, obwohl Krieg doch eine ziemlich ernste Sache ist und sich die preussische Polizei der Weimarer Republik zu einem grossen Teil aus ehemaligen Soldaten des Kaiserreichs rekrutierte, Männer also, auf die er als Soldat der Blauen Armee hätte schiessen müssen, wenn er gegen sie eingesetzt worden wäre, die dann aber zu seinen Kollegen wurden und denen er wohl kaum anvertraut haben dürfte, dass er einst auf ihrer und dann auf der gegnerischen Seite im Weltkrieg kämpfte.

Ein Wanderer zwischen den Fronten sollte nicht zu gesprächig sein, Chef. Das hätte sicherlich Ärger gegeben…

Das denke ich auch.

Und der Sohn?

Na, angehende evangelische Pfarrer, die in den Pfarrerdienst eintreten, werden eigens in einem sogenannten Ordinationsgottesdienst öffentlich berufen und beauftragt innerhalb der Kirchengemeinde pfarramtliche Aufgaben zu übernehmen. Das ist sozusagen das evangelische Pendant zu dem, was man in der katholischen Kirche landläufig die Priesterweihe nennt. Anlässlich der Ordination sprachen die Pfarrer der damaligen Evangelischen Landeskirche Berlin Brandenburg, Teil der gesamtdeutschen EKD, auch ein Gelübde, das Ordinationsgelübde, in welchem sie unter anderem geloben, ihren Dienst für Herrgott und Jesus gemäss der Weisungen und Ordnungen ihrer Landeskirche zu tun. Dieses Ordinationsgelübde muss auch Horst Kasner gesprochen haben, wie alle anderen seiner „Kollegen“ auch. Und nicht nur Ende der 1950er Jahre nahm die Kirche dieses Gelübde sehr ernst. So ernst, dass, wie einem alten Presseartikel zu entnehmen ist, die Landeskirche Berlin Brandenburg 1957 Disziplinarverfahren gegen zwei Pfarrer eröffnete, die in der DDR ihren Dienst taten, dann aber ihre Gemeinden im Stich liessen und nach West-Berlin flüchteten, da sie fürchteten, verhaftet zu werden. In dem Artikel heisst es dazu:

„Der Zusammenstoß mit der weltlichen Macht ist dem Christen seit Anbeginn als eine Prüfung mit auf den Weg gegeben, die er zu bestehen hat. Der Pfarrer soll in diesem Kampf Hirte seiner Herde sein. Verlässt er sie, dann handelt er nicht nur gegen den Sinn seines Amtes, sondern er verstößt auch gegen die Verfassung, die das Leben der Kirche regelt. „Der Pfarrer steht zur Kirche in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, das sich aus seiner Ordination herleitet“, heisst es im Artikel 29 der Grundordnung der Landeskirche Berlin-Brandenburg, der die geflüchteten Pfarrer angehören. „Mit der Berufung zum Pfarrer wird das Dienstverhältnis auf Lebenszeit begründet“, oder mit anderen Worten: ohne Zustimmung seiner vorgesetzten Kirchenbehörde – in diesem Fall der Landeskirche Berlin-Brandenburg – darf kein Pfarrer seine Gemeinde verlassen.”

Die Landeskirche warf ihnen gewissermassen Feigheit vor dem Feind vor, im Kirchengerichtsverfahren wurden die zwei Pfarrer dann aber freigesprochen mit der sinnigen Begründung, ein Märtyrertum könne nicht von Amts wegen verordnet werden, dieses müsse der betreffende Pfarrer schon freiwillig eingehen, was in sich schlüssig ist, denn ein Märtyrer von Amtswegen is schliesslich nix anderes als Kanonenfutter, verstehste?

Nö.

Na, is auch egal, aber letztlich zeigt der Fall der zwei Pfarrer Ende der 1950er Jahre, dass die Front zwischen Landeskirche und SED-Staat ziemlich verhärtet war. Und das auch nicht ohne Grund, war doch die Kirche die letzte verbliebene „Feindorganisation“ in der DDR und musste schon allein deshalb um ihre Existenz fürchten. Es ist kaum vorstellbar, dass eine solche vom Sozialismus bedrängte Landeskirche ihrem Jungpfarrer Horst Kasner die Weisung erteilt hätte, sich mal n bisschen n Kopf zu machen, wie die Kirche die Zusammenarbeit mit dem „antifaschistischen Staat“ zu Christenpflicht erheben könnte, wie es der Jungpfarrer innerhalb des „Weißenseer Arbeitskreises“ ab 1958 tat. Nach der Wiedervereinigung breitete die auch wiedervereinigte Kirche gnädig den Mantel des Schweigens über den alten Dissens und relativierte zudem die Taten der Protagonisten des „Weißenseer Arbeitskreises“. Allein schon weil die Tatsache, dass nur wenige Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus schon wieder Teile des Klerus sich gleich dem nächsten totalitären Regime auf deutschen Boden angedient hatten, wenig Glanz versprühte, war man seinerzeit bestrebt, die Zeit in der sozialistischen Diaspora als Erfolg zu verkaufen. Schliesslich waren die Bürgerproteste, die zum Ende der DDR führten doch vielerorts von den Kirchen ausgegangen. Allerdings waren nicht alle Protestierer auch gute Protestanten, nur wenige sollten nach der Wiedervereinigung in den Schoss der Kirche zurückkehren, weshalb heute ganze Landstriche im Osten der Republik – vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt – praktisch „enchristianisiert” sind. Erfolgsgeschichten sehen eigentlich anders aus. Immerhin bekannte der Initiator des „Weißenseer Arbeitskreises“, Albrecht Schönherr, im Nachhinein die „Kirche im Sozialismus“ sei ein Fehler gewesen. Dergleichen hat man von Horst Kasner, der doch der eigentliche Erfinder dieser Konzeption gewesen sein will, nie gehört.

Und was das jetzt alles mit der “Wurschtigkeit aus Prinzip” zu tuen hat, steht im fünften Teil von “Biedermann und Brandstifter”, der in wenigen Tagen erscheint.

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