Big City Lies

Henning Scherf hat einen Film gesehen. Und dieser Film hat Henning Scherf sehr gut gefallen. Er handelt von mobilen, lebenshungrigen, alten Menschen, die sich im Alter noch einmal neu erfinden, anstatt alleine Trübsaal zu blasen in einer Wohnung, die zu gross und einsam geworden ist, nachdem die Kinder ausgezogen sind. Die Protagonisten in dem Film, der Hennig Scherf so gut gefallen hat, machen sich auf nach Indien und finden dort jeder für sich ein neues Glück, sodass Henning Scherf alle neuen Alten auffordert:

“Gebt euch nicht auf! Ihr könnt die spannendsten Sachen erleben, ihr müsst einfach einen Schritt aus eurer Behausung machen und euch auf andere zubewegen! Und wenn es Indien ist, dann ist es eben Indien. Kann aber auch genauso München sein, Berlin oder wo auch immer!”

Und wer möchte diesen Sätzen nicht zustimmen, zumal die zwei ersten ganz sicher für alle Altersgruppen Gültigkeit besitzen. Sich nicht aufgeben sondern sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und auf andere zugehen. Gemeinsam kann man viel erreichen. Gut, dass wir darüber geredet haben usw. usf. Henning Scherf führt dann weiter aus, dass man aufgrund des Demographiewandels als alter Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nehmen müsse, da die heutigen und die kommenden Alten sich nicht darauf verlassen können, dass die Jüngeren sich um sie kümmern werden:

“So wie wir mit unseren Eltern umgegangen sind, werden die mindestens auch mit uns umgehen, meinen wir – die haben uns ja viel zu verdanken und so.

Nein. Die Jüngeren können das zahlenmäßig gar nicht mehr schaffen.”

Auch der Staat solle keine Milliarden mehr ausgeben, um damit “Alten-Quartiere” oder “Alten-Ghettos” zu bauen. Nein, die neuen Alten sollen vielmehr mitten im Leben sein. Natürlich, so weiss auch Henning Scherf, gibt es Gebrechlichkeit und Altersarmut, aber eben auch viele Ältere, die einen vitalen Lebensentwurf für das letzte Lebensdrittel haben und immer noch mit anpacken wollen.

Und da kann man dann eigentlich nur noch schreiben:

So isses, Henning! Und so machen wir das!!

Und alles wäre gut.

Aber irgendwann setzt der Verstand dann doch wieder ein und man überlegt sich, ob der Demographische Wandel wirklich das Problem ist, denn immerhin ist die Einwohnerzahl Deutschlands auch 2013 im dritten Jahr in Folge durch Zuwanderung gestiegen. Deutschland hat jetzt 300.000 Einwohner mehr als noch 2012. Und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend angesichts enormer Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Ausland und der florierenden Wirtschaft in Deutschland noch verstärken wird, so dass die erwarteten negativen Effekte des Demographischen Wandels wenn nicht gänzlich ausgeglichen so doch stark abgemildert werden könnten. Allerdings würde diese Abmilderung einen anderen Effekt verstärken bzw. europäisieren und zwar den der Alters-Segregation, also des sozialen Phänomens, dass sich die Bevölkerung entlang der Altesgruppen weiter räumlich entmischt, da die Jungen den Arbeitsplätzen hinterherziehen und/oder dort hinziehen, wo Henning Scherf gerne seine aktiven Alten verorten würde, nämlich in die Grosstädte, was jetzt schon zur Folge hat, dass nicht nur im Osten ganze Landstriche entvölkert werden oder vergreisen, weil nur noch die Alten zurückbleiben. Die andere Seite dieses Effekts führte selbstredend dazu, dass die Mieten in den Grosstädten nicht nur in den gentrifizierten Stadteilen stark gestiegen sind, was wiederum zur Folge hat, dass viele alleinstehende ältere Menschen im ehemals bestenfalls kleinbürgerlichen Milieu diese Mieten nicht mehr zahlen können oder aufgrund erhöhter Lebenserwartung mit zunehmender Gebrechlichkeit ausziehen müssen, da die schicken Altbauten nunmal ohne Aufzug und nur leidlich barrierefrei sind.

Das heisst, die Wohnformen, vor denen Henning Scherf so pathetisch warnt, gibt es schon längst, barrierefreie Alten-Ghettos an den Rändern der Grosstädte und nicht nur Alten-Quartiere sondern ganze Alten-Dörfer oder Alten-Kleinstädte auf dem Land. Und wenn jetzt einige wenige der Aufforderung Scherfs folgen und nach München oder Berlin umziehen, dann verschärfen diese wenigen die Lebensituation für die vielen anderen Alten, da sich die Landflucht verstärkt und die Mieten in den Grosstädten weiter steigen.

Es kann also für alle oder die allermeisten Alten gar keine Lösung sein, dem Leben hinterherzuziehen, weshalb eigentlich nur zu hoffen bleibt, was auch politisch unterstützt werden sollte, dass das Leben wieder aufs Land zieht und der Trend der Landflucht zumindest in einigen Gegenden irgendwann endlich bricht, weil wieder mehr junge Menschen sich entscheiden, Kinder zu bekommen oder eine Familie zu gründen, der öffentliche Nahverkehr weiter effektiviert wird, durch e-Mobilität die Fahrtkosten deutlich sinken, die ländliche Infrastruktur sich verbessert oder wieder mehr Menschen einfach verstehen, dass das Leben auf dem Lande durchaus einige Vorteile bieten kann.

Und bis dahin bleibt Scherfs Vorschlag, was er ist: Die Traumtänzerei eines Priveligierten.

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