Allzu Menschliches

Und eigentlich ist schon alles mit dem ersten Satz gesagt, mit dem Jürgen Graalmann, geschäftsführender Vorstand des AOK-Bundesverbandes, die Leserinnen und Leser der neuesten AOK – ja was ist das eigentlich?, nennen wir es mal: Broschüre, begrüsst: “Menschen machen Fehler”. Eine nicht eben überraschende Erkenntnis, deren Neuigkeitswert auch zu bescheiden ist, um hier Thema zu werden, wenn es sich in dieser Broschüre bei den Menschen, welche die Fehler machen, nicht um beruflich pflegende Menschen handeln würde, von denen ein paar Auserwählte, die sich allerdings schon längst auf irgendwelche Vorstands-, Verbandsgeschäftsführerposten in der Verbandslandschaft der Pflege oder aber Professuren abgeseilt haben, sich innerhalb der immerhin 36seitigen Broschüre “Fehler als Chance” darüber auslassen dürfen, welche Fehler sie damals, als sie noch pflegten, gemacht haben. Auszug:

“Ich tat, wie mir geheißen. Und war zu Tode erschrocken, als plötzlich das gesamte Personal der Intensivstation gerannt kam und Wiederbelebungsmaßnahmen einleitete. Auf dem Überwachungsmonitor war plötzlich eine Null-Linie erschienen, die den Atem- und Kreislaufstillstand meines Patienten angezeigt hatte.”

Und weil die AOK sich natürlich des nationalen Aufsehens bewusst war, das diese Broschüre wieder einmal auslösen würde, die wie alle Broschüren der Krankenkassen neben den anderen regelmässigen Kommunikationsmitteln, wie den spannenden Krankenkassenheftchen, von den Beitragsgeldern der Versicherten finanziert und gedruckt und versandt und sodann schätzungsweise zu 90% und ungelesen und sofort in der Altpapiertonne landen, liess sie die ganze Aktion denn auch noch und ausgerechnet von der Bildzeitung publizistisch flankieren, die dann den Bundesgesundheitsminister gewohnt scheinheilig fragte: “HERR GRÖHE… Müssen wir Angst vor Pflege haben?” oder reisserisch titelte: “SCHWESTER BEKENNT Patientin starb, weil ich den Arzt nicht rief”.

Und da fragt man sich dann schon: GEHT’S NOCH?

Es mag ja sein, dass eine Studie des Zentrums für Pflegeforschung in Bremen herausgefunden haben will, dass beruflich Pflegende unsicher sind im Umgang mit ihren beruflichen Fehlern. Und auch ist es richtig, dass man zu seinen Fehlern stehen sollte, weil man sonst alles noch viel schlimmer macht, und dass man aus seinen Fehlern lernen kann und dass sie offen und transparent kommuniziert werden müssen, statt vertuscht, und dass es durchaus wichtig und richtig ist, die beruflich Pflegenden in diesem Zusammenhang zu mehr Vertrauen, zu mehr Verantwortung und zu mehr Transparenz zu ermutigen.

ABER DOCH NICHT SO!

Man stelle sich vor, eine Hochschule für angewandte Automobilforschung will in einer Studie herausgefunden haben, deutsche Autos hätten eine mangelhafte Qualität, weil in der Montage die Arbeiter nicht zu ihren Fehlern stehen würden und diese vertuschten, woraufhin die Allianz als Versicherungsgesellschaft die Arbeiter zu mehr Offenheit im Umgang mit ihren Fehlern ermutigen will, deshalb eine Broschüre in Auftrag gibt, in denen ehemalige Monteure, die sich inzwischen auf irgendwelchen Vorstands- und Geschäftsführerpöstchen der Verbandslandschaft der Automobilbranche abgeseilt haben oder irgendwelche Professuren in der angewandten Automobilforschung bevölkern, unter anderem Folgendes von sich geben:

“Ich tat, wie mir geheissen. Und war zu Tode erschrocken, als plötzlich das Auto explodierte, nachdem der Kunde den Zündschlüssel umgedreht hat.”

Und die Bildzeitung dann nachzieht, diesmal den Bundesverkehrsminister gewohnt scheinheilig fragend: “HERR DOBRINDT… Müssen wir Angst vor deutschen Autos haben?” und ausserdem reisserisch titelt: “MONTEUR BEKENNT Autofahrer starb, weil ich die Bremsen falsch eingebaut habe”

NA, DA WÄRE ABER WAS LOS IN DER REPUBLIK!

Da wäre es dann auch nicht verwunderlich, wenn verschiedene Vorstands- und Geschäftsführerpöstchen in der Verbandslandschaft der Automobilbranche auf einen Schlag aber so was von vakant wären, so wie auch manche Hochschulkarriere in der nahen Zukunft einen bis dahin etwas unerwarteten Verlauf nehmen dürfte, weil unter anderem ein Ferdinand Piëch leider so überhaupt kein Interesse daran hat, Verlautbarungen aus quasi-internen Quellen ausgerechnet in der auflageschwachen Bildzeitung zu lesen, was sie bei VW und Audi schon für einen Mist gebaut hätten, und sie haben ganz sicher einen Haufen Mist gebaut, denn auch bei VW und Audi arbeiten Menschen.

Vielleicht sollte den Vertretern der so bunten Welt der Pflegeinteressenverbände, der Pflegewissenschafts- und Pflegemanagementfakultäten, die ja leider ab und an auch einen Tätigkeitsnachweis zu erbringen haben, mal jemand sagen, dass Kunden, und nicht wenige potentielle Kunden von Pflegedienstleistungen lesen die Bildzeitung, die fatale Neigung haben, fehlerhafte Produkte nicht zu akzeptieren, selbst dann nicht, wenn die Verursacher so heroisch ehrlich zu ihren Fehlern stehen! Oder würden Sie ein Auto kaufen, von dem der Hersteller sagt, kann sein, dass es dich umbringt, aber wir üben schon jetzt, zu unseren Fehlern zu stehen?

Keine Ahnung, was für eine Auffassung die Verfasser der Broschüre von Öffentlichkeitsarbeit haben, was sie über die beruflich Pflegenden denken, wird aber im weiteren Fortgang der Lektüre deutlich, als es darum geht, den lieben Kollegen auf Station praktische Handlungsanweisungen zu geben, was sie sagen oder besser nicht sagen sollen, wenn ihre Fehler in der beruflichen Praxis offenbar geworden sind. Da steht dann zu lesen, man fasst es nicht, aber das steht da wirklich, kein Witz:

“Wenn ein Fehler passiert ist:

Das können Sie sagen …

“Es tut uns sehr leid, dass wir versehentlich einen Tupfer im Operationsgebiet zurückgelassen haben”

“Wir bedauern aufrichtig, dass wir während Ihrer Blinddarm-OP einen Tupfer übersehen haben.”

(…)

Wenn ein Fehler passiert ist:

Was Sie besser nicht sagen …

“Erschwerte Bedingungen machen es uns nicht gerade leicht, einen Überblick über alle Tupfer im OP-Gebiet zu behalten.”

“Jeder kann doch mal was vergessen.”

Da kann man mal sehen, was für Klappspaten in deutschen OP-Sälen so unterwegs sind…

Dabei hätte alles so einfach sein können, denn wie schreibt Jürgen Graalmann, der geschäftsführende Vorstand des AOK-Bundesverbandes, in seinem Grusswort so trefflich (und ehrlich):

“Trotz des Wunsches zu helfen, unterlaufen auch ihnen (den Pflegenden) Fehler, meist aufgrund fehleranfälliger Strukturen, aufgrund von Missverständnissen und weil ein hoher Zeitdruck auf ihnen lastet. Um Fehler zu verhindern, brauchen wir eine Fehlerkultur frei von Angst und Sanktionen.”

Und damit ist eigentlich alles gesagt: fehleranfällige Strukturen, da die Kassen Hilfsmittel wie beispielsweise Dekubitusprophylaxematratzen verweigern oder erst genehmigen und zahlen wollen, wenn der Kunde bereits Dekubitus hat. Fehlerhafte Strukturen, da die Bewohner immer mehr Behandlungspflege benötigen, die Kassen aber keinen Cent dafür zahlen. Zeitdruck, da von den Kassen immer noch nach dem unsäglichen Minutenmodell und somit rein somatischen Gesichtspunkten eingestuft wird und der zeitintensive Betreuungsbedarf von dementen Bewohnern nicht ausreichend berücksichtigt wird. Zeitdruck, da die Umstellung auf die Fallpauschalen die Schichtstärken in den Krankenhäusern immer mehr ausdünnen. Zeitdruck, da die ambulante Pflege die mickrigen Vergütungen gerade auf dem Land auf vielen Kilometern einsammeln muss. Angst und Sanktionen, da für die unsinnige MDK-Prüfung immer noch mehr Zeit für Dokumentationspflege draufgeht, die der Pflege und Betreuung von Menschen fehlt. Und Missverständnis, weil dieses ganze Pflege- und Gesundheitssystem ein einziges Missverständnis aus falschen Prioritäten und Anreizen ist, das immer nur eins zuverlässig produziert:

FEHLER.

Und trotz dieses Wahnsinns immer wieder beste Arbeit anbieten zu können. Das ist Pflege. Und sich gegen diesen Wahnsinn zu wehren, ist eine der Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit von Pflege! Anstatt sich auch noch freiwillig stellvertretend für andere an den Pranger stellen zu lassen.

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