Souverän verzweifelt gesucht

Und dann ist er einfach vom Schreibtisch aufgestanden, der Souverän, gerade als er eine Woche vor der Bundestagswahl seinen letzten Text am Laptop hochgeladen hatte, drehte sich zu uns um und sagte, er habe jetzt die Faxen dicke und werde gehen. Und da sagten wir, was denn das heissen solle, er habe die Faxen dicke und wolle gehen, jetzt, eine Woche vor der nächsten Bundestagswahl, er könne doch gerade jetzt nicht einfach weg, er müsse doch sein erhabenes demokratisches Recht wahrnehmen und nächsten Sonntag eine neue Chefin oder Chef wählen, und selbst wenn bei uns nicht alles so lupenrein demokratisch sei, ist es hier immer noch besser als in Botswana oder anderswo, und ob er sich vorstellen könne, wie froh die Menschen in Botswana wären, wenn sie unsere stabilen politischen Verhältnisse hätten, wie froh die Menschen dort wären, könnten sie nur in einer Demokratie wie der unseren leben. Daraufhin sagte der Souverän sinngemäss, dass es Veranstaltungen gebe, die seien selbst unter seinem Niveau und am nächsten Sonntag wäre so eine. Ausserdem könne er nicht erkennen, was daran erhaben sein soll, immer wieder dieselben Bratpfannen wählen zu müssen (Anmerkung der Redaktion: “Bratpfannen” ist ein Zitat des Souveräns und keine von uns gewählte Begrifflichkeit. Wir distanzieren uns in aller Form von diesem Begriff, da er unserer Überzeugung nach Menschen nicht adäquat beschreiben kann, ja vielleicht sogar diffamiert, die aus zutiefst empfundener Verantwortung gegenüber dem Allgemeinwohl, ihr Leben und ihre ganze Karriere selbstlos in den Dienst der Allgemeinheit stellen, wenn sie nach nur zwanzig Semestern Literaturwissenschaftsstudium oder nach dem juristischen Staatsexamen und parallel verlaufender Ochsentour bei den Jusos oder im RCDS ohne wirkliche Sachkenntnis oder Erfahrung bereits Ministerverantwortung übernehmen müssen.) und überhaupt sei es ihm ziemlich egal, wie es anderswo ist, weil er lebe schliesslich hier und nicht in Botswana. So sprach der Souverän und liess uns dann noch wissen, dass es ihn nach Brasilien ziehe, genauer nach der Copacabana in Rio de Janeiro, da er gehört und gelesen habe, dass die Jugend Brasiliens aufbegehre und er, der Souverän als wahrer Demokratieversteher, sie, die brasilianische Jugend, deshalb entschieden in ihrem Trachten nach mehr Demokratie unterstützen müsse.

Und natürlich dachten wir zuerst an einen Scherz, so genau weiss man das ja nie bei unserem Souverän, der bestimmt bald wieder in der Tür erscheinen würde, durch die er im Anschluss an seine Rede gegangen war. Doch der Souverän kehrte nicht zurück. Nicht am nächsten Tag, nicht übermorgen, nicht in der Woche darauf, noch im nächsten Monat. Sein Stuhl in der Redaktion blieb verwaist, sein Laptop im Stand by Modus auf dem Schreibtisch unangetastet und so begannen wir uns Sorgen zu machen und versuchten wir ihn auf seinem Mobiltelefon zu erreichen, das er aber ausgeschaltet hatte, also suchten wir ihn dort, wo er sonst in der Vergangenheit zuverlässig zu finden war, suchten ihn in der Bar, die er immer mal wieder aufsuchte, um sich dann darüber aufzuregen, dass er im Winter rauchend und frierend auf der Terrasse sitzen müsste, um dann doch im Sommer drinnen sitzen zu müssen, weil irgendwelche nichtrauchenden Badkappen, wie er sich ausdrückte, die im Winter drinnen sassen, nun die Plätze draussen besetzten, dessen sommerliches und ausschliessliches Benutzungsrecht er der Meinung war, sich im Winter heroisch erfroren zu haben; in der Metzgerei mit noch eigener Schlachtung, die er regelmässig aufsuchte, um uns nach Zubereitung und Verzehr der dort erworbenen Produkte mit kulinarischen Erfahrungsberichten zu beehren, war er doch der Meinung, dort das beste Entrecôte erstanden zu haben, das er je in der Pfanne hatte – und mit Entrecôtes kennt sich der Souverän wahrlich aus; in der Motorradwerkstatt, in welcher er immerzu werkelte, um dem ganzen EU- und BRD-Verkehrsverordnungswahnsinn zu entkommen, dem man seiner Ansicht nach nur auf den zwei Rädern eines alten Motorrades entfliehen konnte in diesem, seinem seltsamen Land, dem riesigen Autokonzern mit angeschlossener Bevölkerung, der, wie er nicht müde wurde auszuführen, seinen Geiseln im Prinzip immer nur Schrott ab Werk zu völlig überhöhten Preisen verhökert.

Wir suchten den Souverän und fanden ihn nicht, gaben eine Anzeige auf: “Souverän verzweifelt gesucht” und wandten uns schliesslich, nachdem diese erfolglos geblieben war, an die für den Souverän zuständige Behörde, die uns endlich beschied, dass der Souverän tatsächlich einen Tag, nachdem er sich von uns verabschiedet hatte, am Flughafen Frankfurt eine Maschine nach Rio de Janeiro bestiegen hat und sich seine Spur danach verlor, da er nachweislich derzeit kein Mobiltelefon oder ein anderes, zu ortendes Elektronikgerät benutzt.

Und so blieb uns neben tiefster Gram nur das Zurückgelassene des Souveräns, die Habseligkeiten, die er absichtlich oder unabsichtlich in der Redaktion hinterlassen hatte, die Hustenlutschbonbons, die er für gewöhnlich in Massen konsumierte, das gammelige Paar Socken, das er letzten Sommer auszog und auf dem Schreibtisch deponierte, als er beschlossen hatte, nur noch barfuss zu gehen, der Ersatzteilkatalog für sein altes Motorrad, den er benötigte, um im Internet nach gebrauchten und verrosteten Teilen zu suchen und schliesslich sein Laptop, das immer noch unangetastet auf seinem Schreibtisch lag.

Und natürlich ist so ein Laptop nicht irgendein Arbeitsgerät, enthält es doch neben den bereits veröffentlichten Texten viele Daten des Souveräns, die aus gutem Grund von ihm nicht veröffentlicht wurden, da sie eindeutig seiner Privatsphäre zuzurechnen sind, weshalb es ziemlich schäbig von uns gewesen wäre, ohne Einverständnis des Souveräns in eben diese, seine Privatsphäre vorzudringen und sich den Inhalt des Laptops mal etwas genauer anzusehen. Allerdings – und diese Frage haben wir ausführlichst diskutiert, handelt es sich bei dem Souverän ja nicht um irgendwen, der Souverän ist vielmehr eine besondere Person, nämlich eine so genannte Person des öffentlichen Lebens und auch nicht irgendeine Person des öffentlichen Lebens sondern wiederum eine ganz besondere Person des öffentlichen Lebens, denn wer – jetzmalohnewitz – könnte mehr Person des öffentlichen Lebens sein als der Souverän? Eben. Und weil der Souverän nun einmal und unzweifelhaft eine ganz besondere Person des öffentlichen Lebens ist, hat er sich auch ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit gefallen zu lassen, weshalb es für uns zur unerlässlichen Chronistenpflicht wurde, nicht nur sämtliche Hustenlutschbonbons des Souveräns restlos aufzulutschen sondern auch sein Laptop komplett zu durchleuchten. Und so fanden wir im Laptop des Souveräns zunächst einmal die erwarteten Ausspähprogramme des Verfassungsschutzes, des amerikanischen Geheimdienstes, des chinesischen Geheimdienstes, des russischen Geheimdienstes, des englischen Geheimdienstes, des luxemburgischen Geheimdienstes sowie zwei weitere Trojaner unklarer Herkunft. Daraufhin schauten wir uns seine persönlichen Dateien an und fanden neben den üblichen Peinlichkeiten eine internationale und äusserst umfangreiche Rezeptsammlung für die Zubereitung von Kalbsinnereien, eine Sprachlernsoftware für Spanisch, 21 Romanfragmente, die allesamt und nur aus einem einzigen Satz bestehen, eine Huldigungs-eMail an Luiz Ruffato (auf spanisch), die er nie abgeschickt hatte, eine imposante aus dem Internet zusammengeklaubte Sammlung von insgesamt 2.316 Fotos, auf denen ausschliesslich Repräsentantinnen der brasilianischen Jugend in – naja – gut belüfteten Sambakostümen zu sehen sind, ein vom Souverän höchstselbst verfasstes 148seitiges Traktat über mögliche Verdauungsprobleme fleischfressender Pflanzen sowie einen seiner Texte, der offensichtlich in die “Ich, der Souverän” Reihe gehört, von dem wir aber nichts wussten, da der Souverän ihn nie veröffentlicht hat. Der Text macht einen ziemlich fertigen Eindruck, wenn er auch noch ohne Titel ist. Ausgangspunkt des Textes war wohl die Lektüre eines Artikels der SZ, in dem der Autor über eine kleine Schweizer Gemeinde berichtete, welche unlängst einen Volksentscheid veranstaltet hat, um einen Teil der Steuereinnahmen an Schweizer Hilfswerke zu spenden. Erklärt wird diese caritative Tat mit der Herkunft der Steuergelder, die zum grossen Teil von dem in der Gemeinde ansässigen Ivan Glasenberg stammen, dem schwerreichen Chef und Miteigentümer von Glencore Xstrata, grösster Rohstoffhandelskonzen der Welt mit einem Jahresumsatz von 215 Milliarden Dollar, der im Ruf steht nicht eben zimperlich seine Geschäftsziele in Entwicklungsländern zu verfolgen, mithin also dort die üblichen Kollateralschäden wie Kinderarbeit, Ausbeutung und Umweltverschmutzung zu verursachen, wogegen die Mehrheit der Bürger in der kleinen Gemeinde ein einmaliges Zeichen setzen wollte. Und auch wenn diese Tat sicherlich nicht den Lauf der Welt ändern wird, so ist dieser symbolische Akt der Solidarität doch schön zu lesen, was allein schon deshalb nicht ausgereicht haben könnte, die Aufregung des Souveräns zu entzünden, die ihn ziemlich zuverlässig veranlasst hätte, sofort einen Text zu schreiben, denn eine kleine oder besser noch grosse Aufregung braucht er ja immer, unser Souverän, um endlich tätig zu werden. Aufgeregt hat sich der Souverän, wie man vermuten könnte, diesmal auch nicht über Glencore sondern, wie wir rekonstruieren konnten, da er die entsprechenden Passagen im Artikel auf dem Bildschirm mit rotem Edding markierte, über zwei Stellen in Text und Kommentar des Artikels selbst. So steht eingangs des Artikels zu lesen: “…ein Lehrstück, wie es sich wahrscheinlich nur in der Schweiz zutragen kann, wo die Bürger frei und eigenständig Entscheidungen treffen dürfen und entsprechend verantwortungsbewusst handeln.”, worauf ein Forist wütend kommentierte: “Welch Witz! “wo die Bürger frei und eigenständig Entscheidungen treffen dürfen…” “Dürfen” ist das komplett falsche Wort. Eidgenossen haben DAS RECHT und werden sich von keiner Regierung bevormunden lassen. Insofern ist die journalistische Denkweise über die Demokratien westlicher Prägung ziemlich bedenklich…” Und das fand der Souverän wohl auch, dass das bedenklich sei, weil “Dürfen” tatsächlich der falsche Begriff ist, denn das würde ja voraussetzen, dass noch jemand anderes über ihm, dem Souverän, stehen würde, der ihm das Recht zu “Dürfen” einräumt, was aber gar nicht sein kann, weil ja im Grundgesetz (Art. 20) deutlich zu lesen steht, dass alle Staatsgewalt von ihm, dem Souverän, auszugehen hat, also über ihm nichts und niemand mehr stehen kann und somit eigentlich er derjenige sein müsste, der das Recht zu “Dürfen” anderen einräumt. Und dann dachte der Souverän wohl zwangsläufig und folgerichtig darüber nach, welche und wie viele demokratische RECHTE er eigentlich habe oder wie viele demokratische Entscheidungen er eigentlich frei und eigenständig treffen darf, und da fiel ihm dann trotz intensiven Nachdenkens wohl nicht mehr so wahnsinnig viel ein – abgesehen von alle vier Jahre Wählengehen und Fussballgucken, eine Erkenntnis, die ziemlich todsicher wiederum der Grund dafür war, dass er eine mittelgrosse bis grosse Aufregung in sich aufsteigen fühlte, die ihn endlich dazu veranlasste, unverzüglich diesen Text zu schreiben, der nun fortfuhr, die Unterschiede der Schweizer und der bundesdeutschen Demokratie zu beleuchten, die sich eigentlich allesamt, wie der Souverän schnell und gewohnt messerscharf herausfand, im Kern auf einen einzigen Unterschied zurückführen lassen: die Schweizer Verfassung oder das politische System dort sei nach dem Prinzip der Subsidiarität aufgebaut, das heisst politische Entscheidungen sollen auf der politischen Ebene getroffen werden, die von den Folgen der Entscheidung am meisten betroffen sind, dies impliziere, so hatte der Souverän wohl auf Wikipedia gelesen, dass der Schweizer Staat funktional von unten nach oben gebaut ist, er besteht auf der untersten politischen Ebene aus den Gemeinden, die in insgesamt 26 so genannten Kantonen zusammengefasst sind, die wiederum alle zusammen den Bundesstaat bilden. Der Bund soll idealtypisch lediglich die Angelegenheiten regeln, die Gemeinden und Kantone nicht regeln können, wie beispielsweise die Aussenpolitik, das Arbeitsrecht, die Verteidigungspolitik und die Währungspolitik, alle anderen Angelegenheiten, die in den Kantonen oder Gemeinden geregelt werden können, so staunte der Souverän, wie beispielsweise direkte Steuern, Polizeiwesen, Schulwesen, Sozialhilfe und Gerichtsorganisation auch von diesen geregelt werden, wobei die einzelnen Zuständigkeiten zwischen den Gemeinden und Kantonen sich von Kanton zu Kanton stark unterschieden kann, also manche Gemeinden eine grössere Souveränität und Autonomie besitzen als andere, aber in diesem Zusammenhang auch nicht unterschlagen werden soll, dass die Kantone bezüglich der Bevölkerungszahl nicht mit deutschen Bundesländern zu vergleichen sind, da nur der bevölkerungsstärkste Kanton, Zürich, mehr als 1 Million Einwohner hat und die fünf kleinsten Kantone jeweils weniger als 50.000 Einwohner aufweisen könnten, was der Souverän natürlich gleich als Indiz deutete, dass allein schon dadurch, die im Vergleich geringere Einwohnerzahl, eine grössere Bürgernähe der Politik gewährleistet sein müsste, zumal eine von zwei Kammern des eidgenössischen Bundesparlamentes aus Vertretern der Kantone besteht, ohne deren Zustimmung keine Entscheidung des Bundes gefällt werden kann. Und dann fing der Souverän an, seine bisherigen Aussagen ein wenig zu relativieren, natürlich sei auch die Schweiz kein demokratisches Paradies, schrieb er, da Politik nun einmal von Menschen gemacht wird, die immer Mittel und Wege finden würden, auch die beste Verfassung der Welt zu korrumpieren, aber rein idealtypisch, so schrieb er, denn den Idealtypus brachte er jetzt, um ihn rein und unbefleckt der tristen bundesdeutschen Realität entgegenhalten zu können, weshalb er sich dieses rhetorischen Kniffs bediente, rein idealtypisch käme diese Verfassung schon sehr nah an den Idealtypus einer demokratischen Verfassung, die nahe an den Bedürfnissen und Nöten der Bürger geschrieben worden sei. Nach dieser Vorbereitung hob er dann an: auch unsere Verfassung, unser politisches System sei von den Gründungsvätern, die das deutsche Grundgesetz unter der Aufsicht unserer amerikanischen Freunde verfasst hätten, von unten nach oben gebaut worden, allerdings seien die zwei oberen politischen Eben, die Länder und der Bund, von der untersten, der kommunalpolitischen, abgeschnitten, das wisse er aus erster Hand, womit er mich meinte, den Autor dieser Zeilen, denn wir hatten oft über meine kommunalpolitischen Erfahrungen diskutiert, wobei ich ihn immer bat, diesbezüglich Stillschweigen zu bewahren, was ihn aber nicht daran hinderte fortzufahren: der eigentliche Kern des demokratischen Idealtypus sei die Gemeindesouveränität und -autonomie, nämlich dass der Bürger und die Gemeinden sich um die Angelegenheiten, die sie selbst betreffen möglichst auch selbst kümmern sollten, da nur eine solche Praxis eine grösstmögliche Bürgernähe garantieren könne, und genau von dieser sei die bundesdeutsche Kommunalpolitik jedoch meilenweit entfernt, da die so genannte kommunale Selbstverwaltung, also die Gemeinde und die gewählten Gemeinderäte, eigentlich und immer nur willfährige Vollstrecker dessen sein müssten, was Länder und Bund beschlossen haben, von einer “kommunalen Selbstverwaltung” könne daher überhaupt keine Rede sein, es müsse vielmehr “kommunale Verwaltung” heissen, da die Kommunalverwaltungen laut Verfassung lediglich ein paar gewählte Trottel bräuchten – also unter anderen mich -, die die Verwaltung per Abstimmung zu dem Verwaltungsakt ermächtigen, zu dem diese qua EU-Verordnung, Bundes- oder Landesgesetz von anderen anderswo ohnehin verpflichtet ist. Freie Bürger, zog der Souverän dann eine Zwischenbilanz, sähen anders aus als diese traurigen, alibidemokratischen Tanzbären der Republik. Und das war natürlich hart und darüber werden wir auch noch einmal reden müssen, der Souverän und ich, aber grundsätzlich hat er nicht ganz unrecht, denn auch wenn sich einige Gemeinderäte in einem kommunalpolitischen Parlament wähnen, hat der Gemeinderat als Gremium keine nennenswerte legislative, also gesetzgeberische Kompetenz, er ist die “politische” “Kontrolle” der kommunalen Verwaltung, somit Organ der Exekutive, und hat auch dafür Sorge zu tragen, dass das was in Berlin oder der jeweiligen Landeshauptstadt beschlossen worden ist, auf kommunaler Ebene umgesetzt bzw. vollstreckt wird. Der Gestaltungsspielraum des Kommunalpolitikers ist deshalb durch bundes- und landesgesetzliche Leitplanken eng umrissen und wird immer enger durch die fortwährende Zechprellerei der Länder und des Bundes, die bei den Kommunen die eine oder andere sozialpolitische Wohltat bestellen aber leider vergessen, auch die Zeche dafür zu zahlen. So räumt der Bund den Eltern grosszügig einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ein, was gut ist und richtig, fördert den Kita-Ausbau auch mit einigen Milliarden Euro, das Land schreibt dann genauestens vor, wie so eine Kita auszusehen hat, wie viel Erzieherinnen pro Kind beschäftigt werden müssen, und beide, Bund und Land, lassen die Kommunen sodann mit den hohen laufenden Kosten der neu errichteten Kitas allein. Und weil das so ist, türmen sich bei der Verabschiedung des kommunalen Haushaltes, der ja angeblich das “Königsrecht” der Gemeinderäte sein soll, nicht nur durch dieses Sozialgeschenk enorme Belastungen im Haushaltsplan, die von Bund und Land bestellt, aber nie bezahlt worden sind, die aber zu den unerlässlichen Pflichtaufgaben der Kommunen gehören und die nicht nur jedes Jahr wiederkehren sondern auch anwachsen werden, was den Gestaltungsspielraum des Gemeinderates ziemlich sicher gen Null tendieren lassen wird. Der Souverän beschreibt den begrenzten Gestaltungsspielraum des kommunalen Volksvertreters natürlich plastischer, er vergleicht die kommunalpolitische Spielwiese des Gemeinderates mit einem Flipperautomaten, in welchen der Gemeinderat gleich einer Flipperkugel mittels der Verfassung hinein katapultiert werde. Jeder, der schon einmal einen Flipper gespielt hat, weiss, dass das Spielfeld mit einer Vielzahl von so genannten Slingshots, Bumpern, Holes und Kicker gespickt ist, Mechanismen, die den Spielball, sobald er auf diese trifft wieder in das Spielfeld zurückschleudern oder ihn abprallen lassen oder gegen den nächsten Widerstand werfen. Und genauso verhalte es sich mit der Gemeinderatskugel, meint der Souverän in seinem Text, nur dass sein Spielfeld mit Gesetzen, Verordnungen und Behörden gespickt ist. So finden sich dort EU-Verordnungen, Bundesgesetze, Landesgesetze, Aufsichtsbehörden, Schulämter, Regierungspräsidien, der TVöD usw. und ganz unten die zwei Hebel des Flippers, die Bund und Land darstellten, und wenn der honorige, nichts ahnende Gemeinderat nun auf das Spielfeld geschossen würde, dann ginge es die ganze Zeit immer nur ding-ding-ding-ding-ding-ding-ding-ding-ding bis die Flipper ihn endlich nicht mehr erwischten und der Gemeinderat das Spielfeld ermattet verlassen habe. So sieht das jedenfalls der Souverän und auch wenn das Bild ein wenig überzeichnet ist, ganz von der Hand zu weisen ist es sicher nicht. Es könne also gar keine Rede davon sein, schrieb er weiter, dass der Bürgerwille von unten nach oben weiter gegeben wird, wenn der Bürger tatsächlich und gnadenlos von oben nach unten in Grund und Boden verwaltet werde. Und weil der Souverän gerade so schön in Fahrt war, ging er im Anschluss der Frage nach, ob es in unserer repräsentativen Demokratie überhaupt Elemente des “von unten nach oben” gäbe und zwar nicht nur auf dem Papier sondern auch in echt. Also untersuchte er die Rolle der Volksvertreter, die von den Wahlkreisen in die Parlamente entsandt werden und eigentlich laut Grundgesetz nur ihrem Gewissen verpflichtet seien, aber letztlich ihren Parlamentssitz nicht nur den Wählern sondern in erster Linie ihrer Partei zu verdanken haben, weshalb es dem Souverän ein Leichtes war, die Mär der freien Entscheidungsfindung des Abgeordneten zu widerlegen, indem er den Ball auf den Elfmeterpunkt legte und dann lustvoll vollstreckte, dass jedes Kind wisse, dass dem nicht so sei, da die Repräsentativvolksvertreter, erst einmal unter der Knute ihres jeweiligen Fraktionsvorsitzes, fast immer so abstimmten, wie es der Parteivorsitz wünsche. Und langsam kam er dann zum Schluss, indem er darlegte, dass der Eindruck weiter Kreise der Bevölkerung, Politik sei abgehobenen oder bürgerfern nicht aus der Luft gegriffen sei, wenn die Angelegenheiten, die die Bürger betreffen eben auch fern von ihnen durch eine Profi-Politikerkaste in Hinterzimmern entschieden würden, eine Praxis, so meint er, für die es eigentlich nur zwei mögliche Gründe geben könnte, entweder die Politik habe Angst vor dem Bürger, halte ihn für ein unberechenbares Kind, dem man keine Verantwortung übergeben dürfe oder die Parteien hätten den Staat schon längst gekapert und in ihrem Sinne instrumentalisiert – und wahrscheinlich sei es eine Mischung aus beidem. Denn wenn die Politik tatsächlich ein Interesse an mehr Bürgernähe hätte, müsste sie die Bürger auch mehr an den Entscheidungen beteiligen, die sie betreffen und endlich mehr Volksentscheide sowie endlich auch Volksentscheide auf Bundesebene zulassen, folgerte der Souverän, was sie den Bürgern aber bisher verweigere, und wofür sie immer nur die gleichen zwei zynischen Gründe ins Feld führe, erstens, der Bürger neige dazu, Entscheidungen nicht sachbezogen und vernünftig zu treffen sondern emotional, was zwangsläufig extreme Entscheidungen zur Folge hätte, und zweitens, nur die interessierten oder gebildeten Bürger, also eine Minderheit, würden an Volksentscheiden teilnehmen, was nicht mehr so richtig demokratisch wäre. Dem hält der Souverän in seiner Schrift entgegen, dass dies im Grunde eine sehr pessimistische, wenn nicht sogar paranoide Sichtweise des eigenen Volkes sei, da sie dem Volk misstraue, wozu es zum Zeitpunkt der Verfassung des Grundgesetzes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch guten Grund gegeben hätte, dass aber heute eine Demokratie, die sich auf Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk gründe, eigentlich keine echte Demokratie mehr sei. Demokratie müsse endlich auch in Deutschland ein lebendiger Prozess werden, eine res publica, die alle angehe und nicht nur die, welche sich in einer innerparteilichen Ochsentour an die Spitze irgendeiner Partei gewurschtelt hätten. Direkte Demokratie können man lernen, schloss der Souverän ungewohnt versöhnlich, und jeder Aufbruch in eine direktere Demokratie sei besser als die politikverdrossene Agonie auf dem Fundament eines nicht gelebten und im Grunde ängstlichen Grundgesetzes.

So schrieb der Souverän. Ob er da richtig liegt? Ich weiss es nicht. Tatsache ist aber, dass sich die Bürger immer mehr von der Politik und den Parteien abwenden. Die Politik- und Parteienverdrossenheit ist gross und mit einem “weiter so” wird sich das sicherlich nicht beheben lassen. Vielleicht hat der Souverän ja Recht und man kann direkte Demokratie wirklich lernen und damit auch wieder den Bürger mehr für die Politik interessieren.

Merkwürdig nur, dass er diesen, seinen letzten Text nicht veröffentlicht hat.

In der Nacht, nachdem ich den Text des Souveräns gelesen hatte, träumte ich, im Briefkasten eine Postkarte des Souveräns gefunden zu haben. Aus Rio. Der Souverän schrieb, er hätte sich das alles hier zunächst ganz anders vorgestellt. Er hat auch die Eingeborenen anfangs nur schlecht bis gar nicht verstanden, die sprächen irgendeinen seltsamen lokalen Dialekt, mittlerweile klappe das aber besser, da er sich besonnen habe, dass ja die Kunst die wahre universale Sprache der Menschheit sei, die überall auf der Welt verstanden werde, weshalb er sich der darstellenden Kunst verschrieben und sich an einer der berühmten Sambaschulen Rios angemeldet hätte. Seine Sambalehrerin meine, er mache gute Fortschritte, und wenn er so weiter mache, dürfe er beim nächsten Karneval mit seiner Tanzschule im Sambodromo vortanzen. Eigens zu diesem Zweck hätte er sich schon aus seiner Strandmatte ein Baströckchen gebastelt.

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