Die weisse Armee

In einer arbeitsteiligen Welt ist Organisation alles. Das hat zur Folge, dass nicht alle alles machen sondern alle immer nur eines, das in der Kombination der vielen Einen ein Alles wird. Das ist spätestens nach Erfindung oder Verfeinerung des Fliessbandes durch Henry Ford eine Binsenweisheit. Der Gedanke hinter der Erfindung des Fliessbandes war das Trachten nach einer grösstmöglichen Effektivität der Arbeit, das heisst eine Steigerung der Produktivität bei gleichzeitiger Senkung der Produktionskosten, wozu es notwendig war, dass der ökonomische Organismus, zu denen sich die vielen Einen zusammenschlossen, funktionierte, auch wenn die vielen Einen nicht wussten, was die vielen Anderen machten. Das mussten sie auch gar nicht wissen, sie mussten sich vielmehr darauf verlassen, dass es die Anderen wussten. Sie mussten sich darauf verlassen, dass die Organisation der vielen Einen so planvoll war, dass der Einen Einziges genau in das Ganze aller Einen passte. Das setzt voraus, dass einige für alle oder für das Ganze dachten und die Einen eben nicht denken oder nur ihr Eines denken mussten, so dass es in das Gedachte aller passte.

Diese Idee des blinden und ungedachten Funktionieren der Einen im Alles des von einigen Gedachten, das dazu führte, dass der Eine sich auf die vielen Anderen verlässt oder von ihnen verlassen wird, da er sich dem grossen Alles entfremdet, ist natürlich nicht vom Himmel gefallen, wie noch nie eine Idee überhaupt und ohne Weiteres vom Himmel gefallen ist, weil eine Idee immer ältere Ideen als Vorgänger hat, die immer nur neu kombiniert werden müssen, um zu neuen Ideen zu werden. Und eine dieser Vorgänger-Ideen geht zurück bis auf Alexander den Grossen oder gar Philipp von Makedonien, der etwas erfand oder entwickelte oder perfektionierte, was man das „Gefecht der verbundenen Waffen“ nennt, also das geplante und koordinierte Gefecht verschiedener spezialisierter Waffengattungen, wie der schweren Kavallerie, der Hopliten-Infanterie, den Bogenschützen aber auch den ersten Pioniereinheiten, die auf dem Schlachtfeld als die unterschiedlichen Glieder eines Armeekörpers koordiniert und taktisch als ein Ganzes agierten, obwohl sie Unterschiedliches taten. Der Erfolg dieses frühen Prinzips ist bekannt, es verlässt sich darauf, dass die Hierarchien klar sind, dass einige für alle und alles denken und jeder Eine sein Eigenes so wissen und ausführen musste, das es in das Gedachte aller passte.

Wenn man nicht nachdenken muss, was zu tun ist, ist man schneller. Und wenn man weiss, was man tut oder das Tun eingeübt und automatisiert ist, arbeitet oder kämpft man perfekter.

Das braucht man, um gute und kostengünstige Autos zu bauen.

Das braucht man, um siegreich zu sein.

Das braucht man, wenn man schnell und perfekt sein muss.

Das braucht man, wenn man schnell und perfekt sein muss und nicht alles alleine machen kann.

Und so wurde dieses Prinzip der militärischen Arbeitsteilung des Gefechts der verbundenen Waffen schon früh und weit vor der Erfindung des Fliessbandes durch zwei bestimmte Branchen kopiert und in deren Sinne verfeinert, die beide zufälligerweise mit verderblichen Waren befasst sind, die eine in der unmittelbaren Lebensmittelzubereitung und die andere in der Wiederherstellung oder Pflege von Gesundheit. Es ist kein Zufall, dass grosse Küchen und zumal Feinschmeckerküchen organisiert sind wie kleine Armeen. Diese Küchenbrigaden müssen perfekt und schnell zusammenarbeiten, sie stehen unter hohem Geschwindigkeits- und Perfektionsdruck im Zusammenspiel aller Spezialisten in der Suppen-, Gemüse-, Saucen-, Gemüse- und Beilagenzubereitung der einzelnen Posten des Potagers, des Sauciers, des Légumiers und des Entremetiers, um nur einige der kochenden Spezialisten zu nennen, die in strenger und klarer Hierarchie untereinander stehen, an deren Spitze der Chef de Cuisine wacht zusammen mit seinem Stab, dem Sous-Chef, seinem Stellvertreter, und den einzelnen Leitern eines Postens, die jeweils den Rang eines Chef de Partie bekleiden. Gute Küche arbeitet schnell und präzise und je erfahrener die einzelnen Posten besetzt sind, je routinierter, raffinierter und perfekter sie miteinander als ein Ganzes agieren, das vom Küchenstab und dessen Chef gedacht und geplant worden ist, desto kürzer wartet und desto besser isst der Gast.

Noch augenscheinlicher wird die militärische Arbeitsteilung bei der Betrachtung des medizinisch-pflegerischen Komplexes, der sein Schlachtfeld, das Krankenhaus, gewissermassen als eine weisse Armee betritt. An ihrer Spitze findet sich die medizinische Generalität, die Chefärzte mit den leitenden Oberärzten, welche den einzelnen spezialisierten Abteilungen vorstehen, gefolgt von den Stations- und Assistenzärzten, die wiederum die einzelnen Kompanien, die Stationen führen und somit das eigentliche Offizierskorps der weissen Armee nach unten hin abgrenzen. Bis 2004 kannte auch diese Armee noch den Posten des Arztes im Praktikum, der zur Erlangung seiner Approbation ein 18monatiges Praktikum absolvieren musste und deshalb durchaus als Offiziersanwärter oder als eine Art Oberfähnrich der weissen Armee betrachtet werden konnte. Unter dem Offizierskorps der Ärzte dekliniert der medizinisch-pflegerische Komplex die Ränge der Unteroffiziere, an ihrer Spitze stehen die Pflegedienstleitungen oder auch die Hauptfeldwebel, welche den Offizieren unterstehen, aber ihrerseits die Frauschaftsgrade der eigentlichen Truppe anführen. Es folgen den Hauptfeldwebeln die Unteroffiziere, die Stations- oder Schichtleitungen des Pflegedienstes, sodann die Dienstgrade der Frauschaften, die einfachen Pflegefachkräfte, nur weisungsbefugt gegenüber den dienstjüngeren Gefreiten und den einfacheren Grenadieren oder Schützen, den Pflegehelfern der Stationen. Daneben kennt die weisse Armee selbstredend eine Menge von Spezialeinheiten, die unter anderem der Aufklärung und Diagnostik dienen, die Laborärzte, aber auch die Pioniereinheiten der Apparatemedizin oder der Radiologie, ebenso wie die Spezialisten der Anästhesie oder der Intensivpflege, um nur einige dieser spezialisierten Einheiten zu nennen.

Diese Organisationsform der weissen Armee ist historisch gewachsen und sie ist so gewachsen, weil man meinte, dass sie notwendig sei, um die Aufgaben, die ein Krankenhaus zu erledigen hat, möglichst schnell und präzise zu erledigen, da die Gegner der weissen Armee diese vor immer komplexere Aufgaben stellten, die keine Langsamkeit oder Schlampigkeit duldeten, weshalb es notwendig wurde, dass nicht alle alles machen sondern einer immer nur eines, das in das Alles des von einigen planvoll gedachten sinnvoll und rechtzeitig eingefügt werden muss, um den Gegner möglichst schnell und präzise mit den Mitteln der verbundenen Waffen zu schlagen. Und jetzt könnte man sich natürlich fragen, was eigentlich mit einer Organisation geschieht, die in ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte über Jahrhunderte hinweg so strukturiert worden ist, dass sie ihre eigenen Funktionen wie in einer Armee differenziert und automatisiert hat, wenn ihre Zielstellung oder angestammte Vorgehensweise von aussen durch vollkommen sachfremde Zwänge verändert wird, wenn beispielsweise ein neues Vergütungssystem eingeführt würde, das nach speziellen Pauschalen vergütet, wonach bestimmte Behandlungsmethoden aus dem Arsenal dieser Armee lukrativer sind als andere oder bestimmte Leistungen wie beispielsweise die der Pflege gar nicht mehr gesondert vergütet würden, ob es dann nicht zwangsläufig wäre, dass bestimmte Operationen gehäuft und völlig unnötig vorgenommen und die betroffenen Patienten im Anschluss blutig entlassen würden, ebenso wie man sich vielleicht auch fragen könnte, was wohl in deutschen Küchenbrigaden geschehen würde, wenn man ihnen anböte, ein Gericht nicht mehr nach dem Wert der Zutaten und dem Grad der handwerklichen Kreativität zu vergüten sondern nur noch nach der Anzahl der in ihm enthaltenen Kalorien.

Vergleicht man die kulinarische Armee mit der weissen, so fällt auf, dass die weisse Armee im Gegensatz zu der kulinarischen noch ein bestimmtes Element des Militärischen in sich birgt, das schon sehr alt ist, und insbesondere in der Armee der Kaiserzeit sehr ausgeprägt war, und das ist die strikte Trennung zwischen dem Offizierskorps auf der einen Seite, das in der Kaiserzeit grösstenteils dem Adel entstammte, und dem Unteroffizierskorps und den Mannschaftsrängen auf der anderen Seite, deren Vertretern es völlig unmöglich war, bis in die Offiziersränge aufzusteigen. Die Unmöglichkeit des Aufstieges ist ein altes Phänomen, das auch schon in den Landsknechthaufen des 30jährigen Krieges zu finden war, und das von dem Zeitgenossen Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen in seinem „Simplicissimus“ anhand des Ständebaums allegorisch beschrieben worden ist:

„Über diesen wies der Stamm des Baumes einen Abschnitt oder Absatz auf, ein glattes Stück ohne Äste, das mit eigenartigen Mitteln und einer seltsamen Seife aus Missgunst geschmiert war, so dass kein Mensch hinaufklettern konnte, so viel Mut, Geschicklichkeit oder Wissen er auch mitbringen mochte und sosehr er sich bemühte, es sei denn, er war von Adel. Denn dieses Stück war glatter poliert als eine Säule von Marmor oder ein stählerner Spiegel.“ *

Pflegedienste in Pflegeheimen, also in Einrichtungen, deren Bewohner durch niedergelassene Hausärzte eigener Wahl ärztlich betreut werden, sind – wenn man so will – halbe weisse Armeen. Der ärztlichen Generalität und der medizinischen Offiziere beraubt, führt eine Pflegedienstleitung die gesamte Truppe und die Stations- oder Schichtleitungen die einzelnen Kompanien der Wohnbereiche. Das bedingt ausserordentlich flache Hierarchien, die wenig Aufstiegsmöglichkeiten oder Karriereperspektiven eröffnen, was neben den familienunfreundlichen Arbeitszeiten mit ein Grund dafür ist, dass die Zahl der Auszubildenden in letzter Zeit zwar gestiegen ist, aber kaum eine der Ausgebildeten länger in dem Beruf verbleibt. Die Ausbildung in der Pflege wird deshalb mehr und mehr zum Durchlauferhitzer für weiterführende Ausbildungen oder Studiengänge wie der Pflegewissenschaft oder des Pflegemanagements oder der Pflegepädagogik, deren Studentinnen denen, die die eigentliche Arbeit machen, später einmal sagen sollen, wie man sie richtig oder besser macht. So eine Art McKinsey für Pflegeberufe, nur wird niemand die Masse an Pflegemanagern, Pflegewissenschaftlern oder Pflegewirten wirklich brauchen können, da die einschlägigen Stellen an den evangelischen und katholischen Hochschulen rar gesät sind, ebenso wie bei den Medizinischen Diensten der Krankenkassen. Demgegenüber klagt die Pflege über massive Nachwuchssorgen. Da verwundert es schon, dass im Grunde sinnlose Karriereperspektiven erfunden werden, indem man der Pflege sachfremde Fakultäten der Wirtschaftslehre, Sozialwissenschaft und Pädagogik öffnet, die den Einen beinahe schon krampfhaft ein Anderes lehren, während ihre eigentlich angestammte Fakultät, jene der Medizin, den Einen das Wissen ihrer Einigen vorenthält und ihnen selbst bei langjähriger Berufserfahrung verschlossen bleibt.

* In der Übersetzung von Bernhard Kaiser.

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