Der Krankenwagen des Grauens

Und auch wenn das niemand für möglich hält in unserer beschaulichen Branche, der Pflege, so bleibt sie doch immer noch eine Welt der Mysterien und Wunder, in der Unerklärliches und zuweilen auch Schauderhaftes geschieht. So gibt es beispielsweise viele Mutmassungen über das, was unseren Bewohnern widerfährt, wenn sie einmal auf Reisen gehen, sich einer stationären Behandlung oder Diagnostik unterziehen müssen, und sie aufgrund ihrer dementiellen Erkrankung nicht mehr selbst berichten können, was ihnen unterwegs widerfahren ist, wenn sie immer öfter nicht vollständig zurückkommen in ihr heimatliches Pflegeheim, ihnen immer öfter etwas fehlt und zwar meistens ihre Versichertenkarte oder ihr Gebiss oder ihre Brille oder ihr Hörgerät oder auch alles zusammen. Es halten sich merkwürdige Gerüchte und Legenden was diesen stummen Reisenden wohl begegnet sein könnte, während ihrer Abwesenheit, da sie immer öfter zurückkehren in ihr heimatliches Pflegeheim mit einem Dekubitus oder zwei Dekubiti oder Wunden oder vollkommen exsikkiert oder alles zusammen. Doch was immer wir auch unternehmen, um Licht in dieses Dunkel zu bringen, wir beispielsweise in den Krankenhäusern anrufen, weil mal wieder ein Bewohner ohne Gebiss in sein Pflegeheim zurückkehrte und ein Mitarbeiter von uns die Vermutung äusserte, hinter fast jedem Krankenhaus befände sich mittlerweile ein grosser Haufen von Gebissen und Versichertenkarten und Hörgeräten und Brillen, und wir also die lieben Kollegen in den Krankenhäusern anrufen und bitten, doch einmal um ihr Krankenhaus herumzugehen zu ihrem Haufen, um mal nachzugucken, ob da vielleicht auch das Gebiss von Herrn W. … , ernten wir immer eine grosse Empörung von den lieben Kollegen, das sei eine Unverschämtheit, sagen sie dann, sie hätten nämlich überhaupt keinen Haufen und den Herrn W. vielmehr vollständig, also mit Gebiss an die Sanitäter vom Krankenwagen übergeben. Und wenn wir dann die lieben Kollegen fragen, warum der Herr W. oder die Frau D. mit einem Dekubitus oder zwei Dekubiti oder einer Wunde oder vollkommen exsikkiert zurückverlegt worden sind, ernten wir immer basses Erstaunen, da der Herr W. oder die Frau D. bereits vollkommen exsikkiert im Krankenhaus aufgenommen wurden und sodann mühsamst aufgepäppelt worden sind, und gerade eben die Schwester Monika, die den Herr W. oder die Frau D. vor der Rückverlegung gepflegt hat, noch gesagt hätte, dass der Herr W. oder die Frau D. bei bester Gesundheit und makellosem Hautzustand an die Sanitäter vom Krankenwagen übergeben worden sind. Und da fragen wir uns dann immer, wie das denn sein kann, dass wir den Herrn W. und die Frau D. vollständig und bei stationär behandlungsbedürftiger Gesundheit und ausreichend mit Flüssigkeit versorgt an die Sanitäter vom Krankenwagen übergeben, die diese vollkommen exsikkiert bei den lieben Kollegen vom Krankenhaus abliefern, die sie sodann mühsamst aufpäppeln müssen und nach Abschluss der stationären Behandlung bei bester Gesundheit und makellosem Hautzustand wiederum an die Sanitäter vom Krankenwagen übergeben, und wir unsere Bewohner endlich vollkommen exsikkiert und unvollständig und mit mangelhaften Hautzustand wieder zurückempfangen.

Und dann schauen wir uns tief in die Augen und fühlen einen eiskalten Schauder über die Rücken laufen und wagen eine kleine Ewigkeit nicht, das Unfassbare auch auszusprechen, bis ein heiseres Raunen endlich die Stille bricht:

„Der Krankenwagen des Grauens.“

Der Krankenwagen des Grauens ist die einzige Erklärung für dieses übernatürliche Phänomen, und auch wenn seine Existenz, wie das so ist bei übernatürlichen Phänomenen, bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, so gibt es dennoch genügend mittelbare Beweise, die sich in das Fleisch so vieler unserer Bewohner geschrieben haben und sich im mysteriösen Verschwundensein so vieler Brillen, Gebisse, Versichertenkarten und Hörgeräten manifestieren, dass seine tatsächliche Existenz völlig ausser Frage stehen muss. Äusserlich nicht von einem normalen Sanitätswagen zu unterscheiden, verfügt der Krankenwagen des Grauens auch über eine Besatzung, die vollkommen unverdächtig daher kommt, die nett ist und freundlich, sich aufopferungsvoll um unsere Bewohner kümmert, sie vorsichtig auf die Bahre befördert, ihnen sachte die Sicherheitsgurte anlegt und sie behutsam in das Innere des Wagens bugsiert. Spätestens aber wenn die Heckklappe geschlossen ist, der Fahrer den Motor angelassen hat und der Krankenwagen langsam vom Hof fährt, müssen in seinem Inneren unheimliche Veränderungen vor sich gehen. Dann erst schnallt die Besatzung den Sicherheitsgurt fester, so fest, dass es kein Entkommen mehr gibt, dann erst wird der Patientenbereich hermetisch von der Fahrerkabine abgeriegelt und – Gipfel der Perfidie – die Heizung angeschaltet, die den Patientenbereich grausam zuverlässig und effizient schnell auf über 50 Grad Celsius erhitzt, und unsere Bewohner in vor Hitze flirrender Luft und unter dem hämischen Gelächter der grauenhaften Krankenwagenbesatzung all jene mühsam vereinnahmten Milliliter Flüssigkeit wieder dampfend von sich geben. Und weil der Krankenwagen des Grauens keine Gnade kennt, wird die Heizung erst ausgeschaltet, wenn die Bewohner vollkommen ausgedampft und exsikkiert sind und sie an ihrem Bestimmungsort wie ein welkes Blatt den lieben Kollegen vom Krankenhaus entgegenwehen, die allein schon deshalb und nicht etwa zur eigenen Absicherung in ihren seltsamen Entlassberichten schon bei Aufnahme aus einem Pflegeheim den immer gleichen Textbaustein „Exsikkose“ aktivieren, bevor sie sich daran machen, die Bewohner liebevollst zu hegen und pflegen, sie wieder aufzupäppeln, um sie im allerbesten und vollständigen Zustand eben wieder den Sanitätern des Grauens zu überantworten, die natürlich unsere armen Bewohner wieder auf ihre Trage festschnallen und die Heizung anschalten, sich aber diesmal nicht nur mit einer läppischen Exsikkose zufriedengeben sondern sich auch noch auf unsere Bewohner stürzen, sie zusätzlich mit Haltegurten fixieren, ihnen Gebiss und Hörgerät und Brille und Versichertenkarte entreissen, das Fenster herunterkurbeln, die Gebisse und Hörgeräte und Brillen und Versichertenkarten bei rasender Fahrt aus dem Fenster schmeissen, um sodann die bewegungsunfähigen Bewohner stunden-, wenn nicht sogar tagelang durch die Gegend zu fahren, bis sich endlich ein Dekubitus oder auch zwei Dekubiti oder auch Wunden oder auch alles zusammen ausgebildet haben.

Es muss jetzt ungefähr zehn Jahre her sein, da telefonierte ich mit der Pflegedienstleitung eines Krankenhauses. Anlass des Telefonats war der Ärger eines gesetzlichen Betreuers eines dementen und immobilen Bewohners von uns, der sich eben in diesem Krankenhaus einen ziemlich hässlichen Dekubitus eingehandelt hatte. Die Pflegedienstleitung bestritt seinerzeit, dass sich der Bewohner den Dekubitus in ihrem Hause zugezogen hätte. Da fragte ich dann eher aus Scherz, ob sie denn meine, der Bewohner hätte sich den Dekubitus während des Krankentransports, der schätzungsweise 30 Minuten währte, zugezogen. Das könne sie nicht ausschliessen, antwortete sie. Der Betreuer hat dann später das Krankenhaus wegen Körperverletzung angezeigt.

Ich kann nicht behaupten, dass derartige “Fälle” vor zehn Jahren aussergewöhnlich waren, sie waren jedoch eher die Ausnahme. Dieses Bild hat sich in den vergangenen Jahren drastisch gewandelt, wenn man es auch nicht generalisieren kann, es betrifft nicht alle Krankenhäuser und auch nicht alle Stationen der betroffenen Krankenhäuser, Tatsache ist aber, dass Menschen mit Demenz heutzutage einem grösseren Risiko ausgesetzt sind, Opfer eines Pflegefehlers im Krankenhaus zu werden als noch vor zehn Jahren. Sollten die Menschen mit Demenz auch noch immobil sein, steigert sich dieses Risiko noch einmal beträchtlich. Ursache dafür ist natürlich nicht der „Krankenwagen des Grauens“ sondern die ausgedünnten Schichten auf den Stationen der Krankenhäuser, die grundpflegerischen Aufgaben nicht mehr oder nicht mehr im ausreichenden Masse nachkommen können.

Wir pflegen derzeit mal wieder ein Opfer des „Krankenwagens des Grauens“, eine demente Bewohnerin, die sich in einem Krankenhaus zwei offene Fersen eingehandelt hat, eine davon schon mit nekrotischem Gewebe. Ich muss gestehen, dass mich derartige „Fälle“ nicht mehr sonderlich erstaunen, sie sind mir eigentlich schon zur Routine geworden, umso beschämter war ich, als ich bemerkte, wie verärgert unsere Pflegedienstleitung war. Sie hatte sich stark für die stationäre Behandlung der Bewohnerin eingesetzt, hatte sich dadurch eine Verbesserung ihres Allgemeinzustandes erhofft – und jetzt das. Sie war ausser sich. Und ich verstand: das war oder ist eine Routine, die sie niemals bereit sein wird, zu akzeptieren. Die Routine eines der reichsten Länder der Welt, dessen Krankenkassen in den letzten Monaten einen Milliardenüberschuss „erwirtschaftet“ haben, den ein Gesundheitsministerchen gerne an sein hoffentlich dankbares Wahlvolk verteilen lassen will. Die Routine eines Gesundheitssystems, das jedes Jahr über 250 Milliarden kostet, und dafür regelmässig in Kauf nimmt, dass gerade die Wehrlosesten unter uns im kosteneffizient zu gestaltenden Krankenhausalltag komplett untergehen. Meine Routine, zwei offene Fersen aus dem Krankenhaus, notdürftig mit Betaisodona bepinselt und verbunden, das Zucken im Gesicht des behandelnden Hausarztes, wenn er hört, dass unsere PDL auf das neue und ziemlich teure Wund-Gel insistiert, und er an seine Budgetgrenzen denken muss, der Anruf von der zuständigen Krankenkasse, der ein Rezept für eine Matratze zur Dekubitusprophylaxe für die zwei Fersen vorliegt, das man nur erhält, wenn man schon Dekubitus hat, und die nun argumentiert, die zwei Fersen bräuchten doch eigentlich keine Matratze zur Dekubitusprophylaxe mehr, da sie ja bereits Dekubitus haben.

Das Verfahren gegen das Krankenhaus, welches der Betreuer vor zehn Jahren durch seine Anzeige angestrengt hat, wurde übrigens eingestellt. Wegen mangelndem öffentlichen Interesse.

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