Vielleicht hat dieses Blog oder sein Urheber oder die reformpflege anfänglich gedacht, sich um die Notwendigkeit der gründlichen Bestandsaufnahme der ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Pflege heute herumdrücken zu können und anstatt ihrer, der gründlichen und beschwerlichen Bestandsaufnahme, gleich mit der Präsentation von pflegerischen Reformideen glänzen zu wollen und es bezüglich der kritischen Bestandsaufnahme lediglich bei Andeutungen zu belassen. Wenn das so gewesen ist, dann war das nicht nur billig sondern auch ein klein wenig feige, denn das Unterlassen einer kritischen, beschwerlichen und gründlichen Bestandsaufnahme der ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Pflege heute, die nicht vom Elfenbeinturm herab oder aus den Redaktionsbüros heraus unternommen wird sondern gerade von der Basis her aus der Pflege selbst erfolgt, ist auch das Herumdrücken um ein Risiko, denn eine kritische Bestandsaufnahme erfordert das Aussprechen von Wahrheiten, die keiner hören will oder die gerne gewollt falsch verstanden werden und dieses Nichthörenwollen und das absichtliche Falschverstehen von Wahrheiten kann für den- oder diejenigen, die diese Wahrheiten aufschreiben und anderen Menschen zu lesen geben, fatal sein, weil sie ja gerade dadurch in den Besitz dieser Wahrheiten gelangt sind, da sie in und mit diesen Wahrheiten oder Lügen leben und denselben, wenn man so will, auch ausgeliefert sind.
Aber ein Blog oder sein Urheber oder die reformpflege, das oder der oder die vor fast genau einem Jahr mit dem ersten Beitrag „Neue Wege in der Pflege“ an den Start gegangen ist und zudem noch versprochen hat, die Möglichkeiten zu einer neuen Pflege von der Basis her, aus der Praxis in die Theorie, zu reflektieren, darf nicht auch nur ein klein wenig feige sein, wenn das Blog, die reformpflege, seinem eigenen Anspruch gerecht werden will, es oder sie muss diese Feigheit überwinden und die Wahrheiten, die so gerne falsch verstanden werden, aussprechen und diese bereits ausgesprochenen und aufgeschriebenen und zu lesen gegebenen Wahrheiten oder auch die eigentliche Grundverlogenheit von Pflege seien oder sei hier deshalb noch einmal zusammengefasst:
Dass gerne von bestimmten Trägern der Anschein erweckt wird, sie verdienten mit Pflege kein Geld. Das ist eine Lüge. Alle Träger von Pflege wollen mit Pflege Geld verdienen.
Dass der so genannte Pflegenotstand lange nur ein soziales Konstrukt war oder ein behaupteter Pflegenotstand, der behauptet wurde, um Personalkosten einzusparen, um so noch mehr Geld zu verdienen. Die fortwährende Behauptung des Pflegenotstandes führte in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer zunehmenden Verelendung der Pflege, da sie alsbald mit dem Pflegenotstand selbst gleichgesetzt wurde, was vielen Trägern nicht unrecht war, da sie mit dem Verweis auf die wiederum behauptete Gemeinnützigkeit (s. o.), die ja eine nicht auf Gewinn ausgerichtete Pflege vorgaukeln soll, wiederum behaupten konnten, die Pflege sei verelendet, da es ihr an Geld mangele und dabei ganz unterschlugen, dass der von ihnen selbst behauptete Pflegenotstand, die eigentliche Ursache der Pflegeverelendung, lediglich der eigenen Profitmaximierung diente.
Eine weitere ausgesprochene und aufgeschriebene Wahrheit beleuchtete die Rolle der Politik, die sich gerne bestimmten Trägern andient und deshalb Statistiken unvollständig veröffentlicht, grosszügig wie ökonomisch unsinnig Fördergelder verteilt als auch vorbestellte Gesetze erlässt, die den vorbestellenden Trägern den wirtschaftlichen Wettbewerb erleichtern sollen. So nimmt es kaum Wunder, wenn Politik auf die durch den behaupteten Pflegenotstand ausgelöste öffentliche Empörung dergestalt reagierte, dass sie ausgerechnet die so genannte Pflegeselbstverwaltung, ein Gremium bestehend aus Trägerverbänden, Kassen, trägernahnen Berufsverbänden usw., damit beauftragte, der Pflegeverelendung Abhilfe zu schaffen und somit willentlich den Bock zum Gärtner machte (denn so blöd kann man gar nicht sein, um nicht zu wissen, was dann folgt) und sich selbst damit zum eigentlich hauptverantwortlichen Geburtshelfer der so genannten Pflegetransparenzprüfung, die nichts anderes ist als ein weiteres Placebo für die öffentliche Meinung, ein wenig Schminke im Gesicht einer verelendenden Pflege, ein gewaltiger Theaternebel, in dessen Sichtschutz alles am besten so bleiben soll wie es ist. Es ist schon erstaunlich, was für einen Aufwand Politik immer wieder mit viel öffentlichem Geld betreibt, nur damit einige Marktteilnehmer (und nicht nur in der Pflegebranche) mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel eigenes Geld einstreichen können.
Wenn also nach dem Fazit von McPflege gefragt wird oder man fragt, wie ist es möglich, dass wir die Pflege haben, die wir haben? Dann kann es eigentlich nur eine Antwort geben und diese lautet: Weil genau die Pflege, die wir haben auch die Pflege ist, die politisch gewollt ist und keine andere.
Das politische perpetuum mobile der Befriedigung mannigfaltiger Lobbyinteressen kalkuliert dabei leider nur selten und eigentlich fast nie mit ein, dass eben durch die Befriedigung der Lobbyinteressen der eigentliche Sinn einer Sache, einer Dienstleistung, einer Sozialversicherung immer mehr aus der Bahn gerät und sich schliesslich auflöst. Im Falle der Pflege bedeutet dies, dass durch die Befriedigung der monetären Lobbyinteressen der Ruf einer gesellschaftlich dringend benötigten Institution, der stationären Pflegeeinrichtung, und das Image einer Profession, der Pflege, nachhaltig diskreditiert und stigmatisiert worden ist. Wie schon mehrfach an gleicher Stelle betont, wird sich bzw. hat sich das Anforderungsprofil an die moderne Pflege schon jetzt dramatisch verändert: Jede zweite Frau und jeder dritte Mann wird im Alter dementiell erkranken, d. h. die moderne Pflege muss hinsichtlich dieser veränderten Bedarfslage dringend neu gedacht und konzipiert werden. Sie muss ihr Design, ihre Mauern und ihr Handwerkszeug von den Bedürfnissen dieser zukünftigen Klientel ableiten und nicht aus dem Fragenkatalog einer im Dienste der Lobbyinteressen erstellten Pflegetransparenzprüfung herauslesen, die ihr Hauptaugenmerk immer noch zu sehr allein auf somatische Bedürfnisse abstellt und somit Antworten auf Fragen gibt, die man vielleicht in den 60er oder 70er Jahren hätte stellen sollen. Pflege heute weiss, wie man Dekubiti vermeidet, wie eine qualifizierte Wundversorgung auszusehen hat und wie viel Flüssigkeit ein älterer Mensch jeden Tag benötigt, gibt man ihr, der Pflege, die notwendigen Produktionsmittel, sprich Mitarbeiter an die Hand, so wird sie all diese Aufgaben zuverlässig erledigen. Wenn es aber schon so schlimm um Pflege steht, dass durch eine Pflegetransparenzprüfung implizit geprüft werden soll oder muss, wie sie die Aufgaben erfüllt, die sie erfüllen kann, wie steht es dann um die Erfüllung der Aufgaben, die sie aufgrund ihrer Fixierung auf die Erfüllung von somatischen Bedürfnissen noch gar nicht wird erfüllen können? Wie soll sie denn umgehen mit der Welle an dementieller Hilflosigkeit, die auf sie zurollt? Vielleicht 5-Minuten-Aktivierung für Tausende Menschen mit Demenz? Wie will sie umgehen mit Menschen, die gar nicht lang genug im Bett liegen bleiben, um eine Dekubitusrisiko zu entwickeln, da sie aufgrund eines dementiell gestörten Tag-und-Nacht-Rhythmus’ die ganze Nacht durch das Pflegeheim geistern – ebenso wie ihre Einzelzimmernachbarn? Wie will sie umgehen mit Menschen mit Demenz, die gar keine Wunden haben, die vielmehr körperlich fit sind, und die therapeutisch sinnvoll jeden Tag müde gearbeitet werden sollten, damit sie in der Nacht schlafen und nicht in Gruppen über Station nomadisieren und die Nachtwachen in die Verzweiflung treiben? Wie will sie umgehen mit dementiell erkrankten Menschen, die aufgrund der Fokussierung auf somatische Pflege und nicht oder nur unzulänglich erfolgter sozialer und therapeutischer Betreuung zunehmend deprivieren, hospitalisiert und in die Depression getrieben werden und deshalb jegliche Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verweigern?
Demenz ist eine Volkskrankheit, Dekubitus nicht.
Die durch das McPflege-Prinzip hinlänglich diskreditierten stationären Pflegeeinrichtungen könnten für Menschen mit Demenz die kostengünstigste professionell beste Betreuungsform bereitstellen, zumal der allgemeine Fachkräftemangel die Wirtschaft zwingen wird, die pflegenden familiären Reserven, das sind die Frauen, die mit der Volkskrankheit Demenz in den Familien oft alleine gelassen werden, für den Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Die Professionalisierung der Pflege, der Pflegeeinrichtungen, bezüglich der Herausforderung durch die Demenz kennt neben der menschlichen, therapeutischen und pflegerischen also auch eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Wenn man sich aber neu errichtete Pflegeeinrichtungen anschaut, die immer noch so gebaut werden, als hätten sich die Bauherrn nicht entscheiden können, ob sie ein Krankenhaus oder doch lieber ein Hotel bauen wollten, dann lässt sich an deren Räumlichkeiten nicht ablesen, dass diese Notwendigkeiten architektonisch berücksichtigt wurden. Immer mehr neue Heime ähneln sich schon äusserlich so wie eine McDonaldsfiliale der anderen gleicht, da ihren Mauern nur das immer gleiche Prinzip abzulesen ist: möglichst schnell, möglichst viel Geld verdienen, möglichst wenig investieren und deshalb möglichst wenige Quadratmeter Sozialfläche pro Bett. Es wird radikal nach dem Kostenprinzip gebaut, wo nach dem “Demenzprinzip” gebaut werden müsste. Neue Einrichtungen, in deren Mauern die Pflegebedürftigkeit lediglich verwaltet, abgefertigt und verrechnet wird. Ein Beispiel sind die neuen „Satellitenheime“, Pflegeeinrichtungen ohne eigene Versorgungseinrichtungen, die (Synergieeffekt!) durch nahegelegene grosse „Basisheime“ logistisch mit versorgt werden. Sie sind zumeist schnell und billig erbaut, zwei Flure, Zimmer, ein Foyer, Speisesaal – fertig. Mustergültig komplett am therapeutischen Betreuungsbedarf von Menschen mit Demenz vorbei gebaut. Kaum Sozialflächen, keine Gruppenräume – gut, dass es wenigstens die LHeimBauVO gibt, so hat man beim Alleinsein im schönen neuen Einzelzimmer wenigstens genug Platz. Das ist es also, was unsere Gesellschaft, was wir für unsere Demenzkranken bereithalten: Pillen und Schliessysteme. Pillen zur Beruhigung und Türcodeschlösser, die gewährleisten sollen, dass niemand verlorengeht, noch alle da sind, falls mal Besuch kommt. Und immer schön kostengünstig, denn die Pillen zahlen ja die Krankenkassen und die Türcodeschlösser, die eigentlich keine andere Funktion haben als den Ersatz von menschlicher Aufmerksamkeit, verlangen keinen Lohn, gehen nie in Urlaub, werden nie krank sondern gehen höchstens mal kaputt – aber nie so kaputt, wie es die Pflege in diesen Häusern oftmals schon ist.
Will man einen Ausblick wagen, so bleibt nur zu hoffen, dass das Thema Demenz oder der Umgang mit Demenz nicht nur gelegentlich stärker in die öffentliche Wahrnehmung rückt, wenn etwa ein prominenter Mensch erkrankt oder sich das Leben nimmt, und immer mehr Menschen aufhören zu verdrängen, dass der Umgang mit Demenz auch ein Thema ist, welches in einigen Jahren mittelbar oder sogar unmittelbar auch sie betreffen könnte. Und vielleicht haben sie bis dahin verstanden, dass die furchtbare Diagnose Demenz nicht das Ende sein muss sondern bei entsprechender medizinischer, pflegerischer und therapeutischer Begleitung auch ein Mensch in der Demenz immer noch Lebensqualität, auch Glück und Geborgenheit empfinden kann – wenn man sich das als „Gesunder“ auch kaum vorstellen mag.
Bis dieses Verständnis sich einstellt und schliesslich auch die Mainstream-Pflege nach und nach verändern wird, werden natürlich weiterhin unzählige, vollkommen sinnlose Verordnungen, Prüfungen, gute Ratschläge, Gesetze, Standards, Initiativen usw. usf. auf Pflege einprasseln und jede Einrichtung und jeder ambulante Dienst wird sich entscheiden müssen, ob sie sich weiter diesem Wahnsinn unterwerfen wollen oder ob sie sich ihm verweigern und sich besser um das kümmern, für das sie zu Recht bezahlt werden – und damit ein Risiko eingehen.