Neue Wege in der Pflege

Der baden-württembergische Notendurchschnitt bei der MDK-Transparenzprüfung der stationären Pflegeeinrichtungen liegt derzeit bei 1,2. Es ist kaum zu erwarten, dass sich dieser Schnitt bei dem weiteren Fortgang der Prüfungen noch signifikant verändern, gar verschlechtern wird. Alles in Ordnung also? Oder anders gefragt: Hat sich die mit vielen Millionen Steuergeldern finanzierte Pflegeheimförderung des Bundeslandes tatsächlich auch qualitativ ausgezahlt? Wenn dem so ist, wären dieser Blog, dieser Artikel und diese Überschrift eigentlich vollkommen überflüssig. Warum etwas verändern oder erneuern wollen, das so beispielhaft gut funktioniert?

Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung steht die Pflege vor gewaltigen Herausforderungen. Wie inzwischen sattsam bekannt, wird unsere Gesellschaft zunehmend älter und mit dem gestiegenen Lebensalter erhöht sich das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Gleichzeitig drohen Nachwuchssorgen. Die Pflege als Beruf hat für viele junge Menschen an Attraktivität verloren. Viele Pflegekräfte steigen bereits nach wenigen Jahren wieder aus dem Beruf aus. Auf vielen Stationen versorgen immer weniger Pflegekräfte immer mehr Pflegebedürftige. Die Folgen sind nicht selten Stress, Burn-out und schliesslich die Flucht aus dem Beruf.

Mangelnde Finanzierung der Pflege ist hierbei nicht das vordringliche Problem. Die Einführung der Pflegeversicherung hat die Situation vieler Pflegebedürftiger stark verbessert bzw. hätte diese stark verbessern können. Pflege ist Handarbeit. Der vorherrschende Kostenfaktor bei der Erstellung der Dienstleistung Pflege sind die Personalkosten. Sparen Einrichtungen an diesen Kosten, sinkt die Dienstleistungsqualität unmittelbar. Natürlich muss Pflege wirtschaftlich sein. Das ist Grundvoraussetzung für eine reformierte, moderne und selbsbewusste Pflege: dass sich ihre Dienstleistungen selbst refinanzieren. Pflege hat, wie jeder andere Beruf, einen Wert und darf nicht länger den Anschein erwecken, auf staatliche Subventionen oder private Almosen angewiesen zu sein. Das Wirtschaften der Pflege muss aber nachhaltig bleiben. Wir erleben gerade schmerzhaft, welche verheerenden Folgen kurzfristiges Gewinndenken haben kann. Für die Pflege hat dies zur Folge, dass es schon jetzt zu wenig qualifizierte und motivierte Pflegefachkräfte gibt. Kurzfristige Gewinnorientierung schädigt unsere wichtigste Ressource: die Auszubildenden von heute und morgen.

Pflege heute steht aber nicht nur vor einer quantitativen Herausforderung sondern in viel stärkerem Maße auch vor einer qualitativen, was gemeinhin noch unterschätzt wird. Immer mehr pflegebedürftige Menschen haben Demenz. Nach Auskunft des MDK Baden-Württemberg wurde bei 70% aller Heimbewohner im Land eine Form der Demenz diagnostiziert. Auch das hat seinen Grund in der gestiegenen Lebenserwartung. Früher sind alte Menschen gestorben, bevor die Demenz manifest werden konnte. Mit dem althergebrachtem Altenpflegebegriff, der sein Hauptaugenmerk immer noch auf die Befriedigung somatischer Bedürfnisse legt, wird Pflege dieser Herausforderung kaum gerecht werden können.

Dekubitusprophylaxen sind wichtig, Deprivationsprophylaxen aber nicht minder.

Menschen mit Demenz sind dement an 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Die Begriffe “Frühschicht” oder “Wochenende” sagen ihnen ziemlich wenig. Mit zunehmender Demenz ist es ihnen auch herzlich egal, ob ihr Einzelzimmer mit oder ohne Vorraum 14 oder 16 qm Wohnfläche hat oder die lichte Raumbreite mindestens 3,2 m beträgt. Menschen mit Demenz brauchen eine soziale Struktur, die sie in ihrer Hilflosigkeit auffängt, aufhebt und ihnen eine unmittelbare Geborgenheit vermittelt. Die tagtägliche Herstellung dieser sozialen Struktur wird neben der Grund- und Behandlungspflege die Hauptaufgabe der modernen Altenpflege sein. Um diese Struktur aber errichten zu können, braucht Pflege mehr Betreuungskompetenz. Denn Soziale Struktur ist kein therapeutisches Surrogat, intendiert keine 10 Minuten Aktivierung sondern fordert einen therapeutischen Alltag alle Tage, der konsequent um die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz konstruiert wird. Hierzu muss sich die Pflege noch in stärkerem Maße anderen Professionen öffnen und auch sich selbst ein mehr an sozialer und therapeutischer Kompetenz aneignen. Erst diese Kompetenz im Umgang mit Menschen mit Demenz wird dann ihr eigenes Professionalisierungsmerkmal sein.

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