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Ich glaube, es muss zuerst Thomas Müller gewesen sein, der nach dem verlorenen Viertelfinalspiel gegen Spanien bei der letztjährigen Europameisterschaft in der sogenannten Interviewzone erschien, um einen erstaunlichen Satz loszuwerden, und der ihn dann so „los wurde“, dass man fast den Eindruck hätte gewinnen können, er sei eigens und nur zum Loswerden dieses einen Satzes im Nachgang eines verlorenen Viertelfinalspiels in der Interviewzone erschienen. Und in der Rückbetrachtung ist es auch merkwürdig, dass ich diesen Satz aus dem Munde von Thomas Müller überhaupt gehört hatte, denn normalerweise schaue ich seit dem 20. November 2020 keine Sendungen des Öffentlich Rechtlichen Rundfunks mehr, eine Ausnahme mache ich nur für Live-Übertragungen von manchen Fussballspielen, aber auch hier schalte ich erst eine Minute nach Anpfiff ein, während der Halbzeitpause und gleich nach dem Abpfiff wieder aus, um mir das Expertengeschwafel, die Nachrichtensendung und ungeduschte Interviews zu ersparen. Diesmal aber war ich „dran“ geblieben, vielleicht auch, weil dieses verlorene Viertelfinalspiel ein sehr besonderes Spiel war, zu dessen eigentümlicher Besonderheit wir im Folgenden noch kommen werden, und hörte Thomas Müller also sagen – sinngemäss, denn wörtlich bekomme ich Müllers Satz aus der Erinnerung nicht mehr zusammen: „Man kann jetzt wieder stolz auf Deutschland sein.“
In den folgenden Wochen und Monaten sollte ich diesen Satz, wenn auch leicht variiert, noch zweimal hören. Einmal aus dem Mund des CDU-Politiker Friedrich Merz, der, anlässlich irgendeiner Vorstellung irgendeines Parteiprogrammes, verlautbarte, man müsse wieder stolz auf Deutschland sein können oder so ähnlich, und dann ein zweites Mal von Christian Lindner, als er endlich der Ampel den Stecker gezogen hatte und das dann auch peripher und unter anderem damit begründete, dass man wieder stolz auf Deutschland sein könne oder müsse oder so ähnlich. Nun ist es ja nichts neues, dass sich Politiker gerne im Glanze populärer Sportler sonnen, indem sie sich beispielsweise bei Spielen der Fussballnationalmannschaft auf der Tribüne einfinden, um blödsinnige Tweets abzusetzen, oder sich in die Umkleidekabine drängen, um mit halbnackten Sportlern abgelichtet zu werden, aber diese Nummer mit „dem Stolz auf Deutschland“ als ein Zitat von Thomas Müller aus dem Mund zweier Politiker war dann doch schon etwas verwunderlich, denn jetzt mal im Ernst: Gibt es derzeit irgendeinen Grund stolz auf Deutschland zu sein? Mittlerweile ist es doch eher so, wenn man im Ausland auf Reisen ist und sich einigermassen auf Englisch durch die Gegend parliert und man dann gefragt wird, woher man denn komme, man eher versucht ist, zu antworten, man sei Däne oder Österreicher, weil die dann immer so mitleidig schauen, wenn man stattdessen sagt, dass man Deutscher ist. Und deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass die meisten Deutschen von einem Stolz auf ihr Land ziemlich weit entfernt sind und sie schon froh wären – mich eingeschlossen – wenn ihnen ihr Land ein ganz klein bisschen weniger peinlich wäre. Und dass das so ist, hat weniger mit Thomas Müller zu tun als vielmehr mit unseren Politikern, also mit solchen Typen wie Merz und Lindner, die uns jetzt erklären wollen, man könne, man müsse wieder stolz auf Deutschland sein.
Wobei sich der „Sinn“ des Satzes von Thomas Müllers, der sich natürlich in erster Linie auf die Nationalmannschaft bezog, auch nicht sofort erschliesst. Warum kann man wieder stolz auf die deutsche Nationalmannschaft sein? Weil sie immerhin die die Gruppenphase geschafft hatte und erst im Viertelfinale aus dem Turnier geflogen ist? So eine Art Minimal-Ziel-Stolz? Sind wir schon so weit? Dieser Tage erschien in der FAS ein Text des Nationalspielers Joshua Kimmich, in welchem er über seine Befindlichkeit nach dem Viertelfinale schrieb und damit auch den Sinn von Müllers Satz etwas erhellt. Es sei das bisher emotionalste Länderspiel gewesen, das er bestreiten durfte, schreibt er, auch deshalb habe er in der Nacht danach nicht schlafen können: „Gut gespielt, alles reingehauen und trotzdem ausgeschieden. Zuhause. Bei der Heim-EM. Damit mussten wir alle erstmal umgehen.“, lässt er wissen. Er und andere aus dem Tross der Nationalmannschaft hätten zusammengesessen, bis es wieder hell wurde. Man habe miteinander geredet und miteinander geschwiegen in „einer seltsamen Stimmung zwischen maximal enttäuscht und irgendwie besonders.“ Diese Nacht habe ihm „geholfen zu verstehen, dass wir dieses Turnier nicht auf das sportliche Ergebnis reduzieren können.“ Vielmehr „sei wieder etwas zusammengewachsen. Zwischen uns als Mannschaft und gefühlt dem ganzen Land. So wie ich es als Kind erlebt habe. So wie es sich richtig anfühlt und so wie es sein sollte.“
Kimmich denkt offenbar öfters zurück an jenen Sommerabend in Stuttgart, an ein besonderes Spiel, und seltsamerweise tue ich das auch, vielleicht weil dieses Spiel in gewisser Weise symptomatisch war für die Verfasstheit des Landes.
Die Spanier hatten sich bis zum Viertelfinale ohne grossen Mühen durch das Turnier gespielt, sie wurden ungeschlagener Gruppenerster, konnten es sich leisten, in ihrem für sie bedeutungslosen letzten Gruppenspiel mit einer Ersatzelf anzutreten, gewannen trotzdem, und dominierten auch ihr Achtelfinalspiel gegen ein hoffnungslos unterlegenes Georgien. Die Experten waren sich schnell einig, dass Spanien die „kompletteste“ Mannschaft war und damit auch Turnierfavorit. Spanien war eine sehr eingespielte Mannschaft, entsprechend spielstark, verfügte über eine routinierte Defensive sowie eine brandgefährliche Offensive, wenn auch über keinen echten Goalgetter mit eingebauter Torgarantie, das „Toreschiessen“ erledigte man daher im offensiven Kollektiv, was sie noch unberechenbarer und gefährlicher werden liess. Vielleicht gibt es grundlegend zwei Möglichkeiten, wie man gegen einen derart spielstarken Gegner auftreten kann. Erstens, man verstärkt die eigene Defensive, um den Spielfluss des Gegners zu unterbinden, oder zweitens, man wählt die Möglichkeit, die den vorherigen Gegnern der Spanier nicht zur Verfügung stand, da sie gar nicht über die notwendigen Ressourcen verfügten: Man verstärkt die eigene Offensive, um die Spanier ihrerseits in deren Defensive zu beschäftigen, was sie hindern soll, ihren gewohnten Spielfluss zu entfalten. Letzteres hatte keiner der bisherigen Gegner Spaniens gewagt und sie hatten es nicht gewagt, weil sie es nicht wagen konnten, da sie gar nicht über die entsprechenden Spieler in ihrem Kader verfügten. Bei allen Unzulänglichkeiten im Kader der deutschen Mannschaft war aber gerade das offensive Mittelfeld von besonderer Qualität, zudem verfügte man mit Florian Wirtz über einen Spieler, der zusammen mit dem Spanier Olmo zu den zwei besten offensiven Mittelfeldspielern des gesamten Turniers zählte. Dennoch entschied sich das Trainerteam zu einer „Mischtaktik“, man stärkte vermeintlich die Defensive, indem man den Abräumen Andrich durch Emre Can ersetzte, da dieser einer der schnellsten deutschen Spieler war, welcher die deutsche Abwehr gegen die schnellen spanischen Aussenstürmer besser unterstützen sollte, und man beliess es bei der offensiven Grundformation mit zwei deutschen Aussenstürmern und einer zentralen Spitze. Allerdings setzte der Bundestrainer ausgerechnet Florian Wirtz auf die Bank und stellte statt seiner erneut Leroy Sané auf, welcher schon im Achtelfinale nicht zu überzeugen vermochte. Das war halbherzig und sollte sich rächen, das deutsche Team bekam in der ersten Hälfte keinen rechten Zugriff auf das Spiel, der Bundestrainer reagierte und wechselte zur Halbzeit die zwei schwächsten deutschen Spieler, Can und Sané, aus, Andrich und Wirtz waren jetzt wieder im Team. Aber nur sechs Minuten später wurden die Deutschen kalt erwischt, als Dani Olmo das 1:0 für die Spanier erzielte. Der Bundestrainer reagierte jetzt entschlossen, löste die zentrale Mittelfeldposition auf und brachte unter anderem mit Füllkrug einen weiteren Stürmer. Die deutsche Elf wurde jetzt stärker, erarbeitete sich eine Fülle an Chancen und die gefürchtete spanische Offensive fand immer weniger statt, bis Wirtz kurz vor Schluss der Ausgleich gelang.
Der Rest ist Sportgeschichte. Die Spanier gewannen 2:1 durch ein Tor in der vorletzten Minute der Verlängerung, fertigten dann in den nächsten Tagen ohne allzu grosse Mühen die Franzosen und Engländer im Halbfinale und Finale jeweils während der regulären Spielzeit ab und wurden verdient Europameister. Zurück blieb eine deutsche Mannschaft, welche als einziges Team mit den Spaniern nicht nur auf Augenhöhe gewesen war, sondern eigentlich den Sieg an jenem 5. Juli ebenfalls verdient gehabt hätte. Dass daraus nichts wurde, lag aber weniger an dem unsäglichen englischen Referee, der den Deutschen einen klaren Elfmeter verweigerte, es lag vielmehr an fehlendem Mut. Anstatt die beste Elf auf das Feld zu schicken und dem Schlagabtausch der zwei besten Offensiven des Turniers selbstbewusst entgegenzusehen, machte man sich einen Kopf und tüftelte man beispielsweise mit der Aufstellung Cans taktische Speziallösungen aus, die allesamt in die Hose gingen. Und so lief man dem Spiel hinterher, man lief einer verkorksten ersten Hälfte hinterher, in der man weit unter seinen Möglichkeiten geblieben war, und man lief ab der 51. Minute einem Rückstand und damit den Spaniern hinterher. Man reagierte immer nur. Aber das Besondere an diesem Spiel war, dass, als alle taktischen Fallstricke und „Speziallösungen“ fallen gelassen werden mussten, da der Bundestrainer angesichts des Rückstandes und der drängenden Zeit wild durcheinander wechselte, diese Mannschaft tatsächlich lange vermisste Grösse zeigte. Sie spielte jetzt auf einmal „deutsch“, sie zeigte in allen Mannschaftsteilen denselben unbändigen Willen, der sie wirklich „eins“, zu einer Mannschaft werden liess, die in der besten aller Traditionen des deutschen Fussballs stand, die nie, nie, niemals aufgibt, die alles auf dem Platz lässt und in der jeder für den anderen läuft und kämpft. Jetzt auf einmal standen diese Zuversicht und das Selbstbewusstsein auf dem Platz, welche der Aufstellung und dem Spielplan so schmerzlich gefehlt hatten. Und in diesem Sinne hat Kimmich vielleicht recht, dass es eigentlich einerlei ist, ob dieses Spiel gewonnen oder verloren war, auch wenn der Sieg verdient gewesen wäre, weil man dieses Spiel eben nicht allein auf das Sportliche reduzieren sollte, sondern auch verstehen kann als die Andeutung einer Renaissance von etwas, das, so es noch nicht gänzlich vergessen war, man doch beinahe verloren glauben musste.
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Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nur wenige Narrative, welche die nationale Identität so geprägt haben wie der Fussball. Eines ist sicher das sogenannte „Wirtschaftswunder“, welche den Aufstieg einer geschlagenen und zerschlagenen Nation aus den Trümmern des Weltkrieges in die Riege der führenden Wirtschaftsnationen beschreibt. Ein weiteres Narrativ ist sicherlich der den Deutschen überaus wichtige „Umwelt- oder Naturschutz“, das eng verbunden ist mit jenem des „Wirtschaftswunders“, welches in seinen ersten Jahren hemmungslos auf Kosten der Natur betrieben worden ist, bis in vielen Wäldern ausufernde Müllhalden entstanden und fast alle Flüsse und Gewässer vergiftet und verschmutzt waren. Eines der Gewässer, welchem in den Anfangsjahren des Wirtschaftswunders auch stark zugesetzt worden ist, war der Bodensee. Das war besonders fatal, denn bereits Anfang der 1950er Jahre gab es erste Planungen, den See als Trinkwasserspeicher nicht nur für die Anrainergemeinden, sondern auch für die traditionell wasserarme Alb bis hoch in den Raum Stuttgart, der Ende der 1940er Jahre unter ungewöhnlichen Dürren zu leiden hatte, zu nutzen. Vielleicht auch deshalb war man am Bodensee schon relativ früh für den „Umweltschutz“ sensibilisiert und es gründete sich bereits 1959 die „Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee“ (IGKB), in welche die am Bodensee angrenzenden deutschen Bundesländer, schweizer Kantone und die Republik Österreich Vertreter entsandten, um über geeignete Schutzmassnahmen zu beraten und entsprechende Empfehlungen an die Länderexekutiven zu beschliessen. Bei ersten Untersuchungen der Wasserqualität stellte man fest, dass unter anderem der Phosphorgehalt des Wassers zu hoch war. Ursächlich hierfür war, dass sämtliche Abwässer der anliegenden Gemeinden aber auch der ansässigen Industrie und der Landwirtschaft ungeklärt den Bodensee erreichten. Phosphor ist eine hervorragende Nährstoffquelle der Algen, ein zuviel an Phosphor lässt die Algenbildung stark ansteigen, es können Algenblüten entstehen, eine massenhafte Vermehrung der pflanzlichen Biomasse im See, die nach ihrem Absterben und der folgenden Zersetzung im tieferen Wasser dem Seewasser massiv Sauerstoff entzieht, sodass es zu einem Fischsterben kommen kann und der See insgesamt zu kippen droht. Um dem entgegenzusteuern wurden in den folgenden Jahren rund um den See Kläranlagen gebaut, deren Effizienz zudem immer mehr gesteigert wurde, kein Tropfen Wasser sollte mehr ungeklärt den Bodensee erreichen. Nachdem Ende der 1970er Jahre mit 84 mg pro Kubikmeter Wasser die höchste Konzentration von Phosphor gemessen worden war, zeigten die getroffenen Massnahmen endlich den gewünschten Erfolg, der Phosphorgehalt nahm kontinuierlich ab, bis er sich in den jüngsten Jahren bei ca. 6 mg pro Kubikmeter Wasser einpendelte. Eigentlich ein Erfolg sollte man meinen, aber so einfach ist es nicht, denn Phosphor ist nicht nur „böse“, vielmehr dient er als „Primärnährstoff“ für eine ganze Nahrungspyramide: Phosphor lässt die Algen gedeihen, die wiederum von tierischen Kleinstlebewesen im Wasser, dem sogenannten Plankton, gefressen werden, das wiederum Fischlarven und kleineren Fischen als Nahrungsquelle dient, die dann von grösseren Fischen gefressen werden, die wiederum im Magen von noch grösseren Fischen landen, bis diese dann von Fischern gefangen auch auf dem Speiseplan der Menschen stehen. Und natürlich hatte so eine massive Reduzierung des Phosphorgehaltes auch beträchtliche Auswirkungen auf die Fischerei. Wurden in den 1990er Jahren noch 900 Tonnen Bodenseefelchen, das war aufgrund seiner Qualität und Quantität einst der „Brotfisch“ der Bodenseefischerei, im Jahr gefangen, waren es 2012 nur noch 350 Tonnen, 2022 brach der Ertrag erneut massiv ein, nur noch 21 Tonnen wurden angelandet, 2023 dann deren klägliche 10. Der Ertrag war somit seit den 1990er Jahren um sagenhafte 99% zurückgegangen, zudem waren die gefangenen Exemplare jetzt ziemlich mager und kaum noch laichfähig. Die Bestände standen kurz vor dem kompletten Zusammenbruch, das Bodenseefelchen, der ehemals beliebteste Speisefisch der Region, war vom Aussterben bedroht, was dann auch die sogenannte „Internationale Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei“ (IBKF) auf den Plan rief, die ab dem 01.01.2024 nach dem Motto „Retten, was noch zu retten ist!“ ein dreijähriges Fangverbot für den grössten Teil des Bodensees erliess. Es war somit genau das eingetreten, vor dem erfahrene Bodenseefischer seit Jahrzehnten gewarnt hatten, was grüne Betonköpfe in Kommissionen, Konferenzen und Landesregierungen aber nicht wahrhaben wollten: Der Bodensee war zu einer Unterwasserwüste geworden, der seine Bewohner nicht mehr ernähren konnte, die Fische verhungerten jetzt oder waren schlichtweg zu geschwächt, um sich noch fortpflanzen zu können. Immer wieder in den vergangenen Jahren hatten die Fischer darauf hingewiesen, dass die Kläranlagen zu viele Nährstoffe aus dem Wasser filtern würden, die Fischbestände deshalb gefährdet seien und sie um ihre Existenz fürchten müssten. Ihrer Meinung nach bedarf es für eine nachhaltige Fischerei im See eines Phosphorgehaltes von 10 bis 15 mg pro Kubikmeter Wasser, das ist etwas mehr als das Doppelte von dem, was die Umweltbehörden und -beauftragten dem See zugestehen wollen, die stoisch an ihrem Grenzwert von 6 mg pro Kubikmeter festhalten, auch wenn der von den Fischern geforderte Phosphorgehalt die Trinkwasserqualität nicht im mindesten beeinträchtigen würde, denn der Grenzwert liegt hier bei 6,7 mg pro Liter, wohlgemerkt: Pro Liter! Und weil nunmal ein Kubikmeter 1000 Litern entspricht, wäre also auch eine tausendfache Konzentration des Phosphorgehaltes im Wasser als Trinkwasser noch statthaft und erlaubt, was ganz nebenbei ein sehr spezielles Licht auf die mickrigen Dimensionen wirft, um die es hier geht. Dennoch wurden alle Versuche der Fischer, den Phosphorgehalt auch nur moderat anzuheben, von der „Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee“ konsequent abgeschmettert, zuletzt mit der sich ökologisch in die Brust werfenden Begründung, dass die „Düngung“ des Bodensees mit dem Ziel des Gewässerschutzes unvereinbar sei. Der Begriff „Düngung“ in diesem Zusammenhang ist natürlich nicht zufällig gewählt, sondern vielmehr Framing, er unterstellt, dass hier etwas Natürliches, Heiliges und Reines dem schändenden Zugriff jener entzogen bleiben muss, die ihr ökonomisches Schindluder mit ihm treiben und sogar noch – Gottseibeiuns! – Geld an ihm verdienen wollen. Deshalb ist von Seiten der Befürworter der harten 6 mg-Linie auch immer vom „natürlichen Zustand“ oder dem „Naturzustand“ des Bodensees die Rede, der jetzt endlich wieder hergestellt sei und verteidigt werden müsse. Da kann man sich dann getrost darauf verlassen, dass kein Politiker auf dumme Gedanken kommt und eventuell vielleicht doch die Anliegen der Fischer vertritt, will er sich keiner Proteste oder eines Shitstorms vergegenwärtigen, denn der „Naturzustand“ ist den naturbesoffenen Deutschen natürlich unantastbar, auch wenn keiner von ihnen genau weiss, was das überhaupt ist. Was also ist der Naturzustand des Bodensees? Ist damit jener Zustand vor 15.000 Jahren gemeint, als der Bodensee am Ende der letzten Eiszeit entstand und ab und zu mal ein Mammut vorbei kam, um seinen Rüssel in die Fluten zu tauchen, kleine niedliche Wollnashornbabies in seinem Uferdickicht spielten und die Vorfahren des modernen Menschen dort schon lendenbeschurzt Fischfang betrieben? Wohl kaum, denn die Antwort kann eigentlich nur lauten: Es gibt schon lange keinen unberührten Naturzustand des Bodensees mehr, er ist eingebettet in eine Kulturlandschaft, ist lange schon selbst Kulturlandschaft geworden und wurde vom Menschen seit Jahrtausenden genutzt, verändert und kultiviert. Der Zustand, in welchem sich der See heute befindet, ist ein technisch durch den Menschen herbeigeführter Zustand, der einen anderen durch den Menschen verursachten Zustand gewissermassen abgelöst hat. Und weil das für einige Zeitgenossen unerträglich war, mussten Kriterien definiert werden, die klassifizieren, was ein Naturzustand eigentlich ist, auch wenn das auch wieder ein durch den Menschen definierter Zustand war. Im Hinblick auf den Bodensee lautete die Klassifikation gemäss der EU-Wasserrahmenrichtlinie WRRL: „Nährstoffarmer Voralpensee mit entsprechend geringer Algenproduktion“. Zumindest bis 2018, dann änderte sich die Klassifikation plötzlich, jetzt stufte die IGKB den Bodensee als „Alpensee mit entsprechend geringer Algenproduktion“ ein. Das hört sich jetzt nicht nach wahnsinnig viel an, allerdings sind die Auswirkungen auf die Fischpopulation beträchtlich, denn ein „Voralpensee“ darf bis zu 19 mg Phosphor im Kubikmeter Wasser haben, ein Wert der noch über den Forderungen der Fischer liegt, ein echter „Alpensee“ aber nur deren 6 mg, um dann ebenfalls eine „sehr gute“ Wasserqualität bescheinigt zu bekommen. Nun scheint die Angelegenheit zumindest geographisch klar, der Bodensee liegt im Bodenseebecken, das zur nördlichen Voralpenregion gehört, demnach handelt es sich bei ihm auch um einen Voralpensee im geographischen Sinne. Für die IGKB ist der See jetzt aber ein Alpensee, der irgendwie doch in den Voralpen liegt, was zumindest die geographische Klassifikation ad absurdum führt. Einen Fingerzeig, warum die IGKB die Klassifikation änderte, liefert vielleicht das Datum der Klassifizierung, die im Oktober 2018 verlautbart wurde, also nach dem Sommer 2018, welcher sich durch sehr hohe Temperaturen und eine extreme Trockenheit auszeichnete, was dann auch den Startpunkt der Klimabewegung mit all seinen Ausformungen von Friedas for Future bis hin zu den Scientists for Future markierte. Vielleicht fühlte man sich auch seitens der IGKB aufgefordert, diesbezüglich ein Zeichen zu setzen, weshalb man dann irgendeine Simulation definierte und durchrechnete, die natürlich zu dem Ergebnis kam, dass der See besser mit dem Klimawandel zurechtkommen würde, wenn seine Wasser weniger Phosphor enthielten. Vielleicht hatte der plötzliche Sinnungswandel aber auch gar nichts mit dem Klimawandel zu tun, sondern seinen Grund vielmehr in dem sehr plötzlichen Vorhandensein eines Neuankömmlings, den Sporttaucher 2016 bei Wallhausen erstmals aus dem Bodensee holten und den verdutzten Forschern auf den Tisch legten. Dreissena rostriformis bugensis, die sogenannte Quagga-Dreikantmuschel oder auch Quaggamuschel, eine Süsswassermuschel von bis zu 40 mm Länge, die ursprünglich im Flussdelta des Dnjepr beheimatet war, mittlerweile aber als Neozoon mit besonders unangenehm invasiven Eigenschaft im Begriff ist, sich in immer mehr Süsswassergewässern in Europa, Asien und auch der Neuen Welt zu etablieren. Ein naher Verwandter der Quagga, die Zebramuschel, war schon während den 1960er Jahren im Bodensee heimisch geworden und erwies sich in den kommenden Jahrzehnten als einigermassen beherrschbar, da sie unter anderem Wasservögeln als Nahrung dient, deren Zahl sich in den Jahren nach Ankunft der Zebramuschel vervierfacht hatte. Die Quagga allerdings ist ein ganz anderes Kaliber als die Zebramuschel, siedelt sich diese bevorzugt in seichtem Gewässer bis zu 40 Metern Tiefe und auf harten Untergründen an, ist die Quagga weniger wählerisch, sie wird auch auf losen Untergründen wie Sand heimisch und stösst in grosse Tiefen vor, wo sie sich dem Verfolgungsdruck durch Wasservögel gänzlich entzieht. Nicht nur diese Eigenschaften machen sie zu einer sehr robusten Art, die derzeit im Begriff ist, die Zebramuschel zu verdrängen. Studien zufolge wird die Biomasse der Quagga im Bodensee in den nächsten 20 Jahren um das Neun- bis Zwanzigfache zunehmen, sodass den Bodensee in circa 15 Jahren ein ähnliches Schicksal wie die Great Lakes in den USA ereilen wird, wo die Quaggamuschel Ende der 1980er Jahre erstmals aufgefunden worden ist und sie heute bereit 90% der Biomasse im Lake Michigan stellt. Die Quagga ist also nicht nur gekommen, um zu bleiben, sie wird das Ökosystem Bodensee auch massiv verändern, wie und in welchem Umfang ist noch nicht ganz klar, allerdings verursacht sie heute schon Schäden in Millionenhöhe, wenn sie sich in den Rohren der Bodensee-Wasserversorgung, an welcher immerhin 320 Städte und Gemeinden angeschlossen sind, festsetzt und diese verstopft. Und weil die Muscheln sogenannte „Filtrierer“ sind, sie sich von Plankton ernähren, welches sie aus dem Wasser filtern, kann es natürlich sinnvoll sein, den Bodensee zum Alpensee zu deklarieren, um die „Düngung“ mit Phosphor zu begrenzen, was den Siegeszug der Quagga – der nicht mehr aufgehalten werden kann – zumindest ein wenig verlangsamen könnte.
Und auch wenn es natürlich kein Trost sein kann, so hat der Bodensee sein Schicksal nicht exklusiv, denn so ziemlich alle Voralpenseen sind in den letzten Jahren von der Quaggamuschel befallen worden, zuletzt hat es im September 2024 den Zürichsee erwischt, den man lange für „quaggafrei“ gehalten hatte. Für die Einträge machen Biologen den Menschen verantwortlich, der die Muscheln oder deren Larven als blinde Passagiere durch Boote oder andere Wassersportgeräte unwissentlich eingeschleppt haben muss. Wenn diese Theorie zutreffend ist, müssten die unterschiedlichen „Einschleppereignisse“ in den verschiedenen schweizer voralpinen Seen in einem engen zeitlichen Zusammenhang stattgefunden haben, selbst wenn man unterstellt, dass die Quaggapopulationen erst eine gewisse Grösse erreicht und damit eine bestimmte Zeit gebraucht haben müssen, um überhaupt entdeckt zu werden. Denn 2015 wurde die Art zuerst im Genfersee nachgewiesen, dann ging es Schlag auf Schlag: Es folgten der Bodensee 2016, dann der Neuenburgersee 2017, Bielersee 2019, Lac Hongrin 2019, Lago Maggiore 2020, Luganer See 2020, Murtensee 2021 und zuletzt eben der Zürichsee 2024. Innerhalb von nur wenigen Jahren soll die Muschel durch „Einschleppereignisse“ in neun Seen eingetragen worden sein, die fern voneinander liegen und deren Gewässer grösstenteils isoliert voneinander sind. Das müssen schon ziemlich aktive Wassersportler gewesen sein oder mit anderen Worten: Das erscheint schon etwas merkwürdig. Und noch merkwürdiger wird es, betrachtet man die Zebramuscheln, die ja schon seit den 1960er Jahren im Bodensee und den grossen schweizer Seen festgestellt worden sind. Beide Muschelarten, Quagga und Zebramuschel, sind sehr nahe miteinander verwandt, stammen urspünglich aus denselben Gewässern am Schwarzen Meer, hatten also denselben Weg, bedienen sich derselben Methoden als blinde Passagiere und dennoch war die Zebramuschel ganze 50-60 Jahre früher da. Eigentlich sollte man doch erwarten, dass beide Arten auf denselben Wegen etwa zur gleichen Zeit einwandern, so wie es auch in den Great Lakes geschehen ist, wo man 1988 erstmals die Zebramuschel feststellte und nur ein Jahr später auch die Quaggamuschel. Und auch der Umstand, dass in allen Seen immer und ausnahmslos zuerst die Zebramuschel und erst dann die Quagga auftauchte, erscheint merkwürdig. Wie kann man so eine „selektive“ Zuwanderung ähnlicher Arten auf denselben Zuwanderungswegen erklären? Was hielt die Quaggamuschel so lange auf, um dann beinahe mit einem Schlag in allen neun Seen aufzutauchen? Und genau dafür scheint es keine schlüssige Erklärung zu geben. Und vielleicht gibt es dafür auch keine schlüssige Erklärung, weil es nämlich gar nicht so war. Vielleicht kam die Quaggamuschel gar nicht so viel später an, vielleicht kam sie vielmehr zeitgleich wie ihre Verwandte, die Zebramuschel, im Bodensee und den anderen Seen an und wäre somit auch schon seit den 1960er Jahren in diesen Gewässern heimisch.
Untersuchungen der DNA von Quaggamuscheln aus Bodensee, Neuenburgersee, Genfersee und dem Rhein brachten die Erkenntnis, dass es genetische Unterschiede zwischen den einzelnen Muschelpopulationen gibt. Daraus schlossen Forscher schweizer Universitäten, „… dass entweder zwischen den Populationen dieser Seen nur beschränkt genetischer Austausch stattfindet oder dass die Populationen in Genfer-, Neuenburger- und Bodensee von unterschiedlichen Ursprungspopulationen abstammen.“ Was man aus diesen genetischen Unterschieden auch hätte schliessen können, was die Biologen aber geflissentlich ausser Acht liessen, ist die Möglichkeit, dass die verschiedenen Populationen sich schon länger isoliert voneinander in ihren jeweiligen Seen entwickeln. Lediglich die Populationen aus Bodensee, Rhein und Norddeutschland seien sich genetisch sehr ähnlich, was jetzt nicht so wahnsinnig verwunderlich ist, fliesst doch der Rhein durch den Bodensee nach Norddeutschland und mit ihm natürlich auch die Larven der Muscheln.
Wenn also die These zutreffend sein sollte, dass man immer nur beide Muschelarten im Gewässer haben kann und nie nur die Zebramuschel allein, so stellt sich natürlich die Frage, warum die Zebramuschel bis in die 2010er Jahre so viel erfolgreicher war als die Quagga, welche ihr volles Potential erst 50-60 Jahre nach ihrem Eintreffen entfalten konnte. Was also könnte der Grund oder die Gründe gewesen sein, weshalb die Zebramuschel zunächst der dominierende Einwanderer war, dann aber doch von der Quagga als dominante Art abgelöst werden konnte? Und hier kann man nur spekulieren.
Da aber die beiden Muscheln eng verwandt sind, unterscheidet sie nicht so wahnsinnig viel. Ein Unterschied, der den Unterschied gemacht haben könnte, findet sich in ihrer Fortpflanzungsbiologie. Bei beiden Arten geben die Weibchen jährlich bis zu eine Millionen Eier und die Männchen jährlich bis zu 200 Millionen Samen in das Wasser ab. Aus den befruchteten Eiern entwicklen sich Larven, die sogenannten Veliger, welche sodann im Wasser treiben, wie lange genau, hängt von der Wassertemperatur ab, es können mehrere Tagen und Wochen vergehen, bis die Larven sich in einem späteren Stadium dann an den Untergrund heften, um sich zur fertigen Muschel zu entwickeln. Im Larvenstadium sind beide Muschelarten am verletzlichsten, sie treiben ungeschützt zwischen dem Plankton und sind vielen Fressfeinden wehrlos ausgeliefert. Nur sehr wenige Larven überleben diese Phase, was auch der Grund ist, warum die Muscheln solche Massen an Eiern und Samen produzieren müssen. Sind sich beide Muscheln in ihrer Fortpflanzungsbiologie bis dahin sehr ähnlich, gibt es zwischen den Arten dann doch einen Unterschied und dieser betrifft den Zeitpunkt der Ei- und Samenabgabe. Gibt die Quagga ihr Fortpflanzungsmaterial beinahe kontinuierlich ab, also gleichmässig ganzjährig, ist die Zebramuschel wählerischer, sie wartet, bis die Wassertemperatur einen Wert von ca. 15 Grad erreicht hat. Dies hat zunächst einen vorteilhaften Effekt: Bei dieser Temperatur gibt es schon eine ordentliche Menge anderen Planktons im Wasser, erhöht die Zebramuschel die Konzentration des Planktons durch die massierte Abgabe ihres Fortpflanzungsmaterials nochmals, „übersättigt“ sie das Wasser mit Nährstoffen und es steigen die Chancen, dass die Mortalität ihrer Larven geringer ist, weil die Fressfeinde es einfach nicht schaffen, so viel in so kurzer Zeit zu fressen. Die Zebramuschel „sucht“ sich für ihre Fortpflanzung die günstigsten Bedingungen „aus“, um die Chancen für ihren Nachwuchs zu optimieren. Der Quagga hingegen sind die Umgebungstemperaturen egal, sie gibt ihre Eier und Samen ganzjährig gleichmässig ab, ganz gleich, wie kalt oder warm das Wasser ist. Der Grund ist vermutlich, dass die Muschel auch grössere Tiefen besiedeln kann, in denen das Wasser das Jahr über gleichmässig kalt ist, der „Fortpflanzung-Trigger“ Temperaturunterschied also schlichtweg nicht funktionieren könnte. Die Muschel würde sich somit eine grössere ökologisch Nische und damit einen Vorteil um den Preis der grösseren Verletzlichkeit ihres Nachwuchses erkaufen, denn die Überlebenschancen ihrer Larven in Zeiten, da das Nahrungsangebot sich verringert und der Verfolgungsdruck der Fressfeinde zunimmt, sind geringer als die der Zebramuschel. Es gibt Schätzungen, wonach die Mortalität der Quaggalarven um die 99% liegt, also fast einem Totalausfall gleichkommt.
Oben drei Varianten der Zebramuschel. Unten die Quaggamuschel. Ja, kann man schonmal verwechseln
Stimmt die These, dass Quaggamuschel und Zebramuschel ungefähr zeitgleich in die Seen eingeschleppt worden sind, und berücksichtigt man die eigentlich verblüffende Tatsache, wonach immer zuerst die Zebramuschel manifest wurde und erst im Abstand von Jahrzehnten sich endlich auch die Quagga zeigte, dann könnte es an diesem Unterschied in der Fortpflanzungsbiologie beider Arten liegen. Die Zebramuschel wäre somit eine Pionierart, die sich leichter tut, einen neuen Lebensraum zu besiedeln, während die Quagga aufgrund der hohen Larven-Mortalität erst über Jahre hinweg und sehr langsam eine „kritische Masse“, eine bestimmte Populationsgrösse, aufbauen muss, um sich dann aber mit Macht auszubreiten. Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass die Zebramuschel durch ihre angepasste Fortpflanzungsbiologie sehr viel besser mit hohem Prädationsdruck umgehen kann als die Quagga, die sehr viel mehr Larven an ihre Fressfeinde verliert. Wenn also der Prädationsdruck oder der Umgang damit das bestimmende Merkmal hinsichtlich des zunächst unterschiedlichen Erfolgs beider Arten ist, so eröffnet dieser Gedanke noch eine weitere Lesart. Nach ihrer Entdeckung brauchte die Quaggamuschel nur fünf Jahre um den Bodensee, aber auch den Genfersee, welcher noch grösser ist als der Bodensee, vollständig zu besiedeln. Das ist eine erschreckend kurze Zeit. Unterstellt man nun, dass die Quagga schlecht mit dem Prädationsdruck umgehen kann, sei es aufgrund ihrer speziellen Fortpflanzungsbiologie oder auch aus anderen Gründen, dann braucht sie entweder sehr viel Zeit, um erst eine kritische Masse an sehr vielen Muscheln aufzubauen, die dann immer mehr Larven produzieren oder sie braucht – im Umkehrschluss – weniger Prädationsdruck. Die Geschwindigkeit mit welcher sich die Muscheln in den Voralpenseen in den letzten Jahren ausgebreitet haben, deutet auf Letzteres hin. Im Bemühen, den vermeintlichen „Naturzustand“ wieder herzustellen, hat man den Seen nach und nach die Nährstoffe entzogen, was auch zu einer drastischen Reduzierung von Algen, Plankton und Fischen führte. Somit ist es möglich, dass der Niedergang der Fauna im See einhergehend mit der Verwüstung der Unterwasserlandschaft den Aufstieg der „Quaggamuschel“ stark begünstigte, wenn nicht sogar erst möglich machte, da sie sich immer weniger Fressfeinden ausgesetzt sah und immer mehr Larven sich zur fertigen Muschel entwickeln konnten. Der Aufstieg der Quagga korreliert dann mit dem Niedergang der Fischbestände, was auch das fast gleichzeitige Auftauchen der Muscheln in neun verschiedenen Voralpenseen erklären kann. Überall war die erwünschte „Naturzustands-Nährstoffkonzentration“ Mitte der der 2000er erreicht worden, der Fischbestand schwand, bis dann Anfang der 2010er Jahre in allen Seen ein Kipppunkt erreicht wurde, die Quaggas endlich so zahlreich waren, die Predatoren immer weniger, sodass die Muschel von da an fast ungebremst durchschlagen und an Ausbreitungs-Geschwindigkeit enorm zulegen konnte.
Wenn dem so wäre, dann hätte die „Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee“ und die sie beratenden Biologen, Experten und Umweltschutzorganisationen den Siegeszug der Quagga begünstigt, befördert oder gar erst ermöglicht. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die Antworten der zuständigen Behörden und Kommissionen etwas schmallippig ausfallen, so sie nach der Rolle der Seefauna bei der jetzt sehnlichst erwünschten Eindämmung der Quagga-Invasion gefragt werden. Auf eine kleine Anfrage eines SPD Abgeordneten im baden-württembergischen Landtag, der unter anderem von der Landesregierung wissen wollte, wie diese auf die Nährstoffreduzierung im Bodenseewasser durch die Quagga reagieren werde, antwortete das grüngeführte Umweltministerium am 14.02.2024:
“Konkrete Maßnahmen, um hier gegenzusteuern, sind nicht vorhanden. Möglich wäre, dass muschelfressende Fische und auch Vögel einen wesentlichen Teil der Nährstoffe durch Muschelfraß wieder freisetzen. Allerdings müssten hierzu die Bestände dieser Fische, insbesondere die der Weißfische mit Schlundzähnen wie Rotaugen und andere Karpfenartige ansteigen. Leider ist hier eher eine Abnahme zu verzeichnen.“
Und die IGKB lässt wissen:
“Wie stark die Larven etwa von Fischen gefressen werden, wird derzeit untersucht.“
Dabei ist die Datenlage gar nicht mehr so dürftig, im Juli 2023 erschien der Artikel „Natural Enemies of Zebra and Quagga Mussels: Predators, Parasites and Ecological Competitors“ von Alexander Y. Karatyev et al., der mehrere weltweite Studien zusammenfasst, die Fressfeinde, Parasiten oder Wettbewerber, die den Muscheln zusetzen können, identifizieren. Hier finden sich mehr als 20 Fischarten, welche die Larven der Muscheln vertilgen, und 65 weitere Fischarten (mit Überschneidungen), die auch mit der erwachsenen Quagga fertig werden, darunter auch im Bodensee (einst) heimische Fischarten wie Rotauge, Karpfen, Ukelei, Bodenseenase, Brasse, Sandfelchen, Trüsche, Barsch (Kretzer) und Zander, um nur einige zu nennen. Blöd nur, dass weggehungerte Fische keine Muscheln mehr fressen und auch nicht deren Larven. Und dumm, den Fischen, die noch nicht weggehungert sind und die nachweislich Quaggamuscheln im Bodensee vertilgen, das Leben noch unnötig schwer zu machen wie beispielsweise dem Rotauge. Einst nahezu ausgerottet hat sich seit Mitte der 1990er Jahre der Kormoran wieder am Bodensee angesiedelt, konsequent unter EU-Vogelschutz gestellt und beinahe schon notorisch von Umweltschutzverbänden wie dem NABU verteidigt, haben sich die Bestände inzwischen deutlich erholt. Über 5000 Vögel laben sich inzwischen an den Fischen im Bodensee, was erstmal nicht nach wahnsinnig viel klingt für so einen grossen See, allerdings verputzt so ein Kormoran locker ein halbes Kilogramm Fisch pro Tag, was sich angesichts der Anzahl der Vögel dann auf bis zu 3 Tonnen am Tag und über 1000 Tonnen Fisch im Jahr aufsummiert. Und dann auch noch leider zu oft die „falschen“ Fische, gebetsmühlenartig entgegnete der NABU auf die Klagen der erzürnten Fischer, die sich ihre gefiederten Kontrahenten lieber heute als morgen vom Halse schaffen würden, der Kormoran würde sich beim Fischfang gar nicht um Edelfische wie das Bodenseefelchen oder die Äsche scheren, sondern viel lieber und viel häufiger „wirtschaftlich unbedeutende“ Weißfische wie Rotaugen oder Brassen fangen und verzehren, also genau jene Arten, die zu den wichtigsten Prädatoren der Quagga zählen. 2022 kam dann die Fischereiforschungsstelle des Landes Baden-Württemberg in einer Studie zu dem Schluss:
„Ohne eine deutliche Verminderung der Kormoranprädation steigt die Gefährdungssituation weiter an. Insbesondere für Äsche und Nase besteht die Gefahr, dass der starke Prädationsdruck durch Kormorane zum Erlöschen lokaler Bestände führt.“
2023 kam es dann im Sommer zu dem Phänomen, dass sich ganze Schulen junger Karpfen, auch er ein Quagga-Prädator, in die Häfen flüchteten, wo sie sich in den Hafenbecken wohl vor den Kormoran-Schwärmen in Sicherheit wähnten.
2024 bequemte sich schliesslich die grüngeführte baden-württembergische Landesregierung ein sogenanntes „Kormoranmanagement“ zu veranlassen, um die Bestände der Vögel endlich wirksam zu reduzieren.
Das Gezerre um den Kormoran und das späte Einlenken der ergrünten Politik sind ein beredtes Beispiel dafür, wie sehr inzwischen in Vergessenheit geraten ist, dass unsere Altvorderen sehr gute Gründe dafür hatten, die Bestände bestimmter Arten wie Wolf, Bär und auch Kormoran ziemlich rigoros zu „managen“. Dass muss nicht heissen, dass diese Tiere keinen Platz mehr in unserem Land haben dürfen, dennoch sollten ihre Bestände streng kontrolliert werden, statt durch ein naives „Laissez Faire“ regelmässig den „heiligen Naturzustand“ wiederherstellen zu wollen und das in einer Kulturlandschaft, die heute viel dichter besiedelt ist als noch vor 200 Jahren.
Der Autor dieser Zeiten wohnte und studierte in den 1990er Jahren für insgesamt 6 Jahre in Konstanz. Als Student besuchte er auch regelmässig im Sommer das Konstanzer Strandbad „Hörnle“. Der Bodensee war seinerzeit schon längst nicht mehr so verschmutzt wie in den 1970er Jahren. Der Phosphorgehalt des Wassers betrug Anfang der 1990er Jahre ca. 25 mg pro Kubikmeter, um sich dann bis Ende der 1990er Jahre nochmals auf ca. 12 mg zu reduzieren. Dies entsprach ungefähr den Werten, welche die Fischer unlängst forderten, um ihre Erträge steigern und damit ihre Existenzen sichern zu können. Man hatte in diesen Jahren beim Bad im See nicht den Eindruck, sich in einer Kloake zu befinden. Das Wasser war vielmehr klar und sauber, die Erträge der Fischer waren mehr als nur zufriedenstellend und reichten aus, um die Gastronomie rund um den See versorgen zu können, welche sich heute zusätzlich der Erzeugnisse polnischer Aquakulturen bedienen muss. Der See war somit in einem Kulturzustand, der vielfältige Bedürfnisse befriedigte, die der Fischer, die des Tourismus, die der Anwohner, die der Wasserversorgung als auch die der Seefauna und -flora. Ein intelligentes Seemanagement hätte den See vielleicht besser in diesem Zustand belassen anstatt auch noch die letzten Milligramm Phosphor aus ihm herauszufiltern, um ihn in seinen „Naturzustand“ zu überführen, denn der See war schon damals nicht mehr in einem „naturzustandsfähigen“ Zustand, ganz einfach, weil der Mensch ihn schon zu sehr verändert hatte. Vielfältige Neozoen sind durch sein Verschulden in den letzten Jahrzehnten in den See eingebracht worden, deren Reaktion auf die durch den Menschen vorgenommene massive Veränderung ihres Lebensraumes und den daraus resultierenden Implikationen und Kausalitäten man kaum überblicken konnte. Man hatte aus den Sünden der Altvorderen, die den See zumüllten, bis er zu kippen drohte, wenig gelernt, jetzt verfiel man in das umgekehrte Extrem, da man sich im Besitz des heiligen Grals „Naturzustand“ wähnte, wollte man auf Biegen und Brechen einen nährstoffreichen Voralpensee gemäss EU-Wasserrichtlinien in den Naturzustand einer „Unterwasswüste“ überführen, wobei man sich des Beifalls der naturbesoffenen Deutschen natürlich sicher sein konnte. Wenn man aber so ein gewaltiges und noch nie dagewesenes Experiment unternimmt, den drittgrössten Binnensee Europas in den herbei gesehnten „Naturzustand“ zu überführen, dann sollte man sich ziemlich sicher sein, was da so alles unter der Wasseroberfläche schwimmt und filtriert. Dass man da seitens der Wissenschaft nicht immer so sattelfest war oder ist, bewies unlängst wieder eine Posse um einen kleinen Fisch, den Stichling. 1951 das erste Mal im Bodensee nachgewiesen, identifizierte man den Fisch als invasive, ursprünglich nicht im See heimische Art, die bereits im 19. Jahrhundert von frühen Aquarianern in den Bodensee eingebracht worden sein müsste. Dann fristete der Stichling jahrzehntelang eine von der Wissenschaft wenig beachtete Existenz, bis man einen Schuldigen für den massiven Rückgang der Felchenbestände benötigte. Als diesen identifizierte die Fischereiforschungsstelle Langenargen den kleinen Fisch, der sich ab 2012 explosionsartig vermehrt haben müsste, sodass er jetzt über 96% des gesamten Fischbestandes im Bodensee stelle. Zig Millionen kleine Fische also, die den Felchen ordentlich zusetzten, da sie deren Brut das Plankton weg frässen und sich zudem in Massen über die Eier und die Larven des Edelfisches hermachen würden. Fortan stand der 5 – 8 cm grosse Killer unter besonderer Beobachtung der Fischereiforscher, welche dann noch herausgefunden haben wollten, dass dieser erstaunliche kleine Fisch entgegen seiner üblichen Gepflogenheiten nicht nur die Uferzonen bevölkerte, sondern plötzlich auch noch massenhaft im Freiwasser unterwegs war, was dann eiligst DNA-Forscher auf den Plan rief, da man in der Fischereiforschungsstelle Langenargen mutmasste, eine neue Art, den sogenannten „Freiwasser-Stichling“, entdeckt zu haben. Nach Untersuchung des Erbgutes des angeblich im 19. Jahrhundert eingewanderten „Uferzonen-Stichlings“ und des vermeintlich neu entdeckten „Freiwasser-Stichlings“ stellte sich jedoch heraus, dass es nur eine gemeinsame genetische Variante des Stichlings im Bodensee gibt. Somit folgerte man in der Fischereiforschungsstelle nun, dass der „Freiwasser-Stichling“ aus der Population der „Uferzonen-Stichlings“ hervorgegangen sein müsste. Und weil das Genom des „Freiwasser-Stichlings“ schon einige kleine Unterschiede zu dem des „Uferzonen-Stichlings“ aufweisen würde, verstand man sich in der Fischereiforschungsstelle jetzt als Zeugen eines aufregenden „Artenbildungsprozesses“, der in der Evolution normalerweise Jahrtausende dauern würde, in den Wassern des Bodensees aber gewissermassen den Turbo gezündet hatte: „Im Bodensee“, so freute man sich in der Fischereiforschungsstelle nun allen Ernstes ein Loch in den Bauch, „scheint die Evolution sinnbildlich gerade in ihre Sieben-Meilen-Stiefel gestiegen zu sein“, weshalb der Autor dieser Zeilen nicht nur deshalb das Datum der zugehörigen Pressemeldung mehrmals auf ihr Datum prüfte, um sicherzustellen, dass diese nicht am 1. April verfasst worden war. Allerdings währte die Freude über diesen evolutionären Quantensprung des kleinen Fisches schmerzlich kurz, denn nur vier Monate nach der Analyse des Stichling-Genoms machte sich die Fischereiforschungsstelle im September 2024 an die alle fünf Jahre stattfindende Fisch-Inventur im See. Und was den Stichling anging, war der Befund ernüchternd, um nicht zu sagen schockierend, denn die Wunderfische, die angeblich über 96% des Fischbestandes im Bodensee gestellt haben sollen, hatten sich sozusagen in Wasser aufgelöst, nur noch sehr wenige Exemplare gingen den Forschern vereinzelt ins Netz, welche sich das nicht recht erklären konnten. Womöglich, so mutmassten sie jetzt, hätten Viren oder Bakterien den Stichling massenhaft dahingerafft. Ein massives Sterben von zig Millionen Fischen also, das von den Forschern gänzlich unbemerkt geblieben ist. Aber vielleicht haben auch die Fischer recht, die behaupten, die Stichlinge seien in diesen Massen niemals im See gewesen. Und so darf man der Wochenzeitung Kontext entnehmen:
„Bernd Kaulitzki, den Vorstand im Verein Bodenseefisch, bringt das Thema Stichlinge sichtlich in Rage. Er hat nämlich eine ganz andere Erklärung für das rätselhafte Verschwinden: “Die vielen Stichlinge, die hat es nie gegeben, das sagen wir schon seit Langem, aber es hört keiner auf uns.” Die angeblich großen Bestände vergangener Jahre seien lediglich mit dem Echolot ermittelt worden. Diese Echolot-Untersuchungen seien aber ganz offensichtlich fehlerhaft gewesen, ist Kaulitzki überzeugt. “Ich habe in den letzten Jahren kaum Stichlinge gefangen, meine Fischerkollegen ebenso – warum wohl?” Theorie und Praxis würden seit Jahren weit auseinanderklaffen, sagt Kaulitzki, “aber Langenargen wird nie im Leben zugeben, dass sie sich getäuscht haben”. Wenn 96 Prozent aller Fische plötzlich verschwunden seien, dann gäbe es jetzt also nur noch vier Prozent des Fischbestands im See. Das sei doch kompletter Unsinn. “Millionen Fische können nicht einfach verschwinden”, so das Fazit des Fischers.“
Eine Fischereiforschungsstelle, der unbemerkt 96% der Fische im See abhanden kommt, seien diese von ihr selbst in den See hinein halluziniert worden oder nicht, ist tatsächlich eine etwas fragwürdige Institution, der man durchaus zutrauen könnte, auch in anderen die Seefauna betreffende Fragen nicht immer richtig zu liegen, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Und wenn dann aufgrund solcher „wissenschaftlicher“ Expertise politische Entscheidungen über das Wohl und Weh des Ökosystems Bodensee getroffen worden sind, kann schon mal was daneben gehen. Und dass etwas „daneben“ gegangen ist, dürfte nach der massiven Ausbreitung der Quaggamuschel im See unstrittig sein. Die Frage ist, ob eine weniger stark ergrünte „Wissenschaft“, die ein weniger romantisches und mehr distanziertes Verhältnis zu „Mutter Natur“ pflegt, dies hätte verhindern können. Letztlich eine akademische Frage, da ihre Beantwortung an dem derzeitigen Zustand des Sees nichts mehr ändern wird, sollte sie aber in ferner Zukunft von einer wieder objektiven, grün-ernüchterten Wissenschaft positiv beantwortet werden, so würde der Bodensee zu einem Symbol werden für eine Zeit oder eine Gesellschaft, die es zuliess, dass durch den grünen Wahn einiger weniger nicht nur ihre Industrie, ihre Wirtschaft und ihr Wohlstand zerstört worden ist, sondern am Ende auch die „Natur“ selbst.
Denn der Bodensee befindet sich auf einer Reise ohne Wiederkehr. Der weiteren Ausbreitung der Muschel hat das Gewässer nichts mehr entgegenzusetzen. Eine Eindämmung der Quagga durch die am und im See ansässigen Prädatoren, den Wasservögeln und den verbliebenen Fischen, ist illusorisch, zu zahlreich ist die Muschel inzwischen. Auch eine „Düngung“ des Bodensees mit dem Ziel, den Fischbestand und damit den Prädationsdruck wieder zu erhöhen, wäre kontraproduktiv, da dies die Ausbreitung der Muschel noch begünstigen dürfte. Eher wird zudem das Gegenteil eintreten, die Quaggamuscheln sind extrem gründliche Filtrierer, eine einzige dieser kleinen Muscheln filtriert am Tag ein Liter Wasser und mehr, um sich von dem darin enthaltenen Plankton zu ernähren. Das hat den „positiven“ Effekt, dass das Wasser des Sees immer klarer wird, da die Muschel auch alle Schwebstoffe aus dem Wasser filtriert und sie bindet, und den negativen, dass dem Wasser durch immer mehr Muscheln auch immer mehr Nährstoffe entzogen wird, die dem Nachwuchs der Fische fehlen werden, weshalb die Fischbestände noch weiter zurückgehen könnten. Wo also wird die Reise des Bodensees enden? Das kann heute niemand mit Sicherheit sagen. Im besten Falle reguliert sich das Ökosystems See wieder von selbst irgendwie ein, indem vielleicht Faktoren ein- oder Protagonisten auftreten, die man heute noch nicht kennt. Im schlimmsten Falle breitet sich die Muschel weiterhin rasant aus. Der Bodensee hat eine Fläche von ca. 540 Quadratkilometern, der Seegrund oder Seeboden soll laut Chat-GPT aufgrund seiner Topographie eine Fläche von ca. 570 Quadratkilometern aufweisen. Das wären insgesamt ca. 570 Millionen Quadratmeter. Nach heutiger Erkenntnis können 25.000 Exemplare dieser Muschel auf einem Quadratmeter Seeboden siedeln. Demnach könnte die Population rein rechnerisch auf insgesamt über 14 Billionen Exemplare anwachsen. Der See hätte dann einen sehr speziellen „Naturzustand“ erreicht, so eine Art Aqua-Monokultur randvoll mit ukrainischen Muscheln, die sich irgendwann gegenseitig die Nährstoffe entziehen und ihren Nachwuchs kannibalisieren, bis die Muscheln in Massen absterben und eine gewaltige Biomasse mikrobakteriell zersetzt wird.
Ein Prozess, der dem See Unmengen an Sauerstoff entzieht, bis dann schliesslich das eintreten wird, wovor man ihn ursprünglich ab Ende der 1950er Jahre hatte bewahren wollen: Der See kippt.