Der Staat ist der Feind – Teil 6

In der Woche der Bauernproteste ist ein bemerkenswerter Artikel von Martina Meister erschienen, das ist die Frankreich-Korrespondentin der WELT, welcher den Titel „Warum französische Abgeordnete demonstrierende Landwirte nicht als „Mob“ betiteln würden“ trägt. Und natürlich bezieht sich Frau Meister in ihrem Text auf die Anfeindungen, welchen sich die Bauern von Seiten der Politik aber auch der deutschen Presse ausgesetzt sahen, nicht nur zu Beginn der Proteste, als sich Seine Exzellenz der Herr Grosstransformator nicht von seiner Fähre herunter traute, sondern auch in deren weiterem Fortgang. Die Autorin schreibt:

„In Deutschland genügen 30, 40 aufmüpfige Landwirte auf dem Landungssteg einer Fähre im hohen Norden, und schon wird in raunenden Untertönen vor Zuständen wie zu Zeiten der Weimarer Republik gewarnt. Statt die Anliegen der Bauernschaft zur Abwechslung auch einmal ernst zu nehmen, wird sogleich die Frage einer rechtsextremen Unterwanderung in den Raum gestellt.“

Und:

“Das Volk (In Frankreich – rp), „le peuple“, ist der Souverän und als solcher geachtet, und keine Gewählte, kein Amtsträger käme darauf, Willensäußerungen dieses Volkes irgendwie abzutun oder unter Ideologieverdacht zu stellen.

Demonstrierende Landwirte als „Mob“ zu betiteln, fiele keinem Verbandsvertreter oder Abgeordneten ein. Frankreichs Medien hüten sich vor jeder Abqualifizierung sozialer Proteste und pflegen eisern einen neutralen Ton (…)“

Und das, obwohl, darauf weist Frau Meister natürlich ausdrücklich hin, die Protestkultur unserer westlichen Nachbarn um einiges extensiver und intensiver ist, als wir es hierzulande gewöhnt sind, man erinnere sich nur an die Dauer und die Heftigkeit der sogenannten Gelbwesten-Proteste, die in Deutschland wohl weniger als „Proteste“, sondern vielmehr als bürgerkriegsähnliche Zustände aufgefasst worden wären.

Und so muss man der Autorin wohl zustimmen, wenn sie folgert: „Der Rhein trennt zwei politische Kulturen, die sich diesbezüglich kaum fremder sein könnten.“

Und da stellt sich natürlich die Frage: Warum ist das so? Und eine mögliche Antwort könnte in der speziellen Verfasstheit der im Jahre 1958 gegründeten V. französischen Republik zu suchen sein, die eigentlich auf einer stillschweigenden Übereinkunft beruhte, wonach das französische Volk es seiner Elite, die sich im Wesentlichen aus den Abgängern einiger weniger Hochschulen und den Abkömmlingen einiger weniger Familien rekrutiert, nachsieht, wenn sich diese die lukrativsten Posten in der Regierung, dem Beamtenapparat, dem Finanzwesen, den Staats- und Grosskonzernen gegenseitig zuschanzt, solange es das Volk auch einigermassen nett hat. Diese Übereinkunft funktionierte lange erstaunlich gut, auch weil die Deutschen einem prosperierenden Nachkriegs-Frankreich nach Gründung der EWG, dem Vorläufer der EU, sehr bereitwillig unter die Arme griffen und auch bis heute tuen, etwa in der jährlichen Bereitstellung von Milliarden Euro an EU-Mitgliedsbeiträgen, welche dann in den Empfängerländern gerne von französischen Konzernen für die Erstellung dringend notwendiger Infrastrukturprojekte wie beispielsweise neue Autobahnen abgegriffen werden. Die Franzosen verstanden schon sehr früh, dass deutsche Schuld und ein deutscher „Wiedergutmachkomplex“ in Kombination durchaus sehr einträglich sein können, was auch mittlerweile einige afrikanische Nationen bemerkt haben dürften, da sie von deutscher Seite mit viel Geld immer wieder darauf hingewiesen wurden und werden, dass Opa Willis Schergen vor über 120 Jahren nicht sonderlich pfleglich mit den damaligen Einheimischen umgegangen sind – was deren Nachkommen eigentlich schon längst vergessen hätten – damit sich dem Bunsepräsident endlich, endlich mal wieder eine Gelegenheit eröffnet, sich in irgendeiner afrikanischen Steppe in den Staub zu werfen und mit Kränzen um sich zu schmeissen oder irgendwelche und eigentlich von den Briten geraubten Kunstschätze generös und zeichensetzend und haltungszeigend zurückzugeben. Aber wie das mit stillschweigenden Übereinkünften nun mal so ist, halten sie selten ewiglich, zumal wenn ihr wirtschaftliches Fundament etwas wackelig wird und die Kompensationsleistungen der französischen Eliten an ihr Volk bereits bedenkliche Höhen erklommen haben, sodass die Sozialausgaben des französischen Staates mittlerweile zu den höchsten in der Welt zählen. Zwischenzeitliche Versuche der französischen Elite der abgehängten eigenen Industrie im Wettbewerb mit der deutschen Industrie wieder entscheidende Vorteile zu verschaffen, indem man beispielsweise auf EU-Ebene verschärfte Emissionsrichtlinien und Batterie-Autos als mobiles Klima-Allheimlittel durchdrückte, erwiesen sich leider als Rohrkrepierer, da die französische Autoindustrie jetzt zwar nicht mehr die verbrennertechnologisch enteilten Deutschen an den Hacken hat, sich dafür aber mit chinesischer Spitzentechnologie konfrontiert sieht, die zudem im Reich der Mitte noch wesentlich kostengünstiger gefertigt werden kann. Also hatte die französische Elite eigentlich – so rein pekuniär gesehen, versteht sich – keine andere Wahl, als die stillschweigende Übereinkunft mit ihrem Volk auch stillschweigend wieder aufzukündigen. Das Blöde bei stillschweigenden Kündigungen von stillschweigenden Übereinkünften ist aber, dass das gar nicht stillschweigend geht, weil die Eliten dem Volk lieb gewonnene Zugeständnisse wieder wegnehmen müssen, an welche sich dieses lange gewöhnt hatte. Und weil diese Zugeständnisse eben nicht „nur“ blosse Subventionen oder Privilegien wie beispielsweise günstige Spritpreise oder ein niedriges Renteneintrittsalter sind, sondern immer auch Bestandteil der stillschweigenden Übereinkunft auf welcher sich die ganz V. Republik gründet, die mit der netten Hilfe der doofen Deutschen immerhin schon fast 66 Jahre alt werden durfte, haften diesen Zugeständnissen, die jetzt wieder weggenommen werden sollen, entschieden Grundsätzliches an. Man könnte schon fast sagen, dass sie der eigentliche Leim sind, der die V. Republik, das Volk und die Eliten, wenn auch unter heftiger Inanspruchnahme deutscher Penunzen, lange Jahre zusammengehalten hat. Da vermag es dann nicht mehr zu verwundern, dass auch noch das kleinste Reförmchen in Frankreich den Charakter eines Kulturkampfes gewinnen und sich unter ihm dann schnell der Abgrund des Bürgerkrieges eröffnen kann.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die unterschiedlichen politischen Kulturen der Deutschen und der Franzosen, der dem ersten nicht unbedingt entgegenstehen muss, und dieser liegt in einer Besonderheit der französischen Geschichte begründet, für die es sich in der deutschen Historie kein echtes Äquivalent finden lässt, und das ist, wie könnte es anders sein: Die Französischen Revolution von 1789. Auch wenn dieses historische Grossereignis zunächst in einer Staatsform mündete, die man nur sehr bedingt eine echte Demokratie nennen konnte, bevor diese I. Französische Republik sodann im Tugendterror Dantons und Robespierres zerfleddert wurde, um schliesslich in das napoleonische Kaiserreich überführt zu werden, das dann wieder von einem Königreich abgelöst worden ist, so lässt sich kaum bestreiten, dass das französische Bürgertum, wenn auch unterstützt von einem Haufen Proleten, sich durch diese Revolution die Bürgerrechte gewissermassen „aus eigener Kraft“ erkämpft hatte. So sind die Losungen der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, nicht von ungefähr der Wahlspruch der heutigen V. Französischen Republik, sondern stehen selbstverständlich sehr bewusst in der Tradition der Französischen Revolution, in welcher der heutige Souverän, das Volk, das erste Mal überhaupt sein Haupt erhob und die Macht, wenn auch nur sehr kurzzeitig, eroberte. Bei den Deutschen sieht das etwas anders aus, abgesehen von der Deutschen Revolution 1848, deren nachfolgende Operetten-Demokratie gleich schon wieder von den Königen und Fürsten im noch ungeeinten deutschen Reich kassiert wurde, kamen die Deutschen zur Demokratie eigentlich immer wie die Jungfrau zum Kinde, anders formuliert könnte man schreiben, sie legten sich zweimal willentlich und begeistert mit Despoten ins Bett und wachten sodann nach Jahren der Albträume als Demokraten ungefragt und wider Willen wieder auf. Anders als die Franzosen erhob der deutsche Souverän nie wirklich sein Haupt und somit steht die deutsche Demokratie auch nicht wirklich in einer wahrhaften revolutionären Tradition. Der Deutsche bekam seine Demokratie gewissermassen „übergestülpt“, das erste Mal durch „progressive“ Kräfte, die nach der Kapitulation der deutschen Reichswehr 1918 in den Wirren der Novemberrevolution 1918/19 die Abdankung des Kaisers erzwangen und danach die „Weimarer Republik“ gründeten, die von grossen Teilen der deutschen Bevölkerung nur sehr bedingt unterstützt wurde, und die schliesslich, Zeit ihres Bestehens von den politischen Extremen rechts und links heftigst bekämpft, 1933 im Nationalsozialismus mündete. Und das zweite Mal nach der bedingungslosen Kapitulation 1945, nachdem die deutsche Wehrmacht sprichwörtlich einen Krieg bis zum bitteren Ende focht, der militärisch eigentlich schon verloren war, als die USA mit der Sowjetunion im November 1941 ein Lend-and-Lease-Abkommen schloss, um die Rote Armee massiv mit Rüstungsgütern und Rohstoffen im Krieg nicht nur gegen Hitler, sondern vor allem gegen Deutschland zu unterstützen. War man sich 1941 seitens der deutschen Generalität vielleicht noch nicht der fast unerschöpflichen Ressourcen des amerikanischen Kapitalismus und der russischen Bevölkerung an jungen Soldaten bewusst, hätte den Generälen schon nach dem Kessel von Stalingrad im Winter 1942/43 dämmern müssen und hat dann spätestens nach dem Scheitern des Unternehmens Zitadelle im Sommer 1943 ganz sicher gedämmert, als die Wehrmacht an der Ostfront die militärische Initiative für immer verloren hatte, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Dennoch kämpfte man in auswegloser Situation noch zwei Jahre weiter und dies mit furchtbaren Konsequenzen, bis fast ein ganzer Kontinent in Trümmern lag und Millionen von weiteren und militärisch vollkommen sinnlosen Opfern vor allem in der europäischen Zivilbevölkerung zu beklagen waren. So furchtbar verbissen und letztlich feige hielten die deutschen Volksgenossen ihrem Führer die Treue.

Diese beiden ernüchternden Erfahrungen, das Scheitern der Weimarer Republik als auch das barbarische Wüten der NS-Diktatur, welche sich auf Heerscharen fanatisierter Volksgenossen fast blind verlassen konnte, hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes natürlich im Hinterkopf, als sie sich 1948 im Auftrag der drei westlichen Siegermächte daran machten, für den westlichen Teil des ehemaligen Deutschen Reiches, die zukünftige Bundesrepublik Deutschland, einen neuen demokratischen Staat zu konzipieren. Und deshalb galt es, gewisse Webfehler der Verfassung der Weimarer Republik nicht zu wiederholen, die den Aufstieg eines Diktators wie Hitler einst begünstigten. War die Verfassung der Weimarer Republik ein seltsamer Mix aus direkter Demokratie, Präsidialdemokratie und Repräsentativer Demokratie gewesen, die den politischen Parteien aus gewissen historischen Gründen misstraute, entschied sich der mit der Gründung der Bundesrepublik befasste Parlamentarische Rat, der von September 1948 bis Juni 1949 in Bonn tagte, für eine starke Repräsentative Parteien-Demokratie, mit lediglich rudimentären Elementen direkter Demokratie, da man dem Volk nicht über dem Weg traute, und für ein Staatsoberhaupt, den Bundespräsidenten, der anders als der Reichspräsident nicht mehr direkt vom Volk gewählt werden durfte und der selbst über wenig bis gar keine echten Befugnisse verfügt, sondern sich in erster Linie auf das Repräsentieren zu beschränken hat, da man mit dem einen starken Mann an der Spitze von Deutschland nunmal sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Wurde die Exekutive, das ist die Regierung und ihr Apparat, allein schon durch diese beiden Massnahmen gestärkt, da ihr kein Volk und kein Präsident mehr in die Suppe spucken konnte, nahm man auch noch die Justiz an die Kandare, die während der NS-Diktatur eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hatte. Fortan wurden Richter in der neuen Bundesrepublik durch Richterwahlausschüsse vorgeschlagen, aber letztlich durch die zuständigen Minister ernannt, die obersten Richter wurden lange Zeit und zudem wenig transparent in Hinterzimmern des Bundestages zwischen den Parteien ausgekartelt, während die Staatsanwaltschaften an die Weisungen ihrer jeweiligen Justizminister gebunden sind. All diese Massnahmen stärkten die Exekutive, die Regierung, noch einmal immens und waren so kurz nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, in welchem ein wahnsinnig gewordenes Deutschland einen ganzen Kontinent in grösstes Elend gestürzt hatte, sicherlich gerechtfertigt, denn ein junger demokratischer Staat, wenn auch geschützt durch die Anwesenheit der Besatzungstruppen, konnte sich ja kein neues Volk suchen, sondern hatte die ehemaligen Volksgenossen Hitlers zu regieren und musste sich hierbei auch noch grösstenteils auf den verbliebenen Beamtenapparat und die Justiz der NS-Diktatur stützen. Also stärkte man die Exekutive, die Regierung, um sie möglichst unangreifbar zu machen, und legte man letztlich alle Macht in die Hände der sie bildenden Parteien, die somit und sozusagen zu den „Gralshütern der Demokratie in Deutschland“ wurden. Das hatte jedoch seinen Preis, denn um die „Webfehler“ der Weimarer Republik, welche das Abgleiten Deutschlands in die Diktatur begünstigten, zu vermeiden, versah man die „Verfasstheit“ des neuen deutschen Staates mit einem anderen Webfehler und dieser besteht in erster Linie in einer nur sehr ungenügenden Gewaltentrennung zwischen Regierung, Parlament und Justiz. Die Gewaltentrennung oder Gewaltenteilung ist aber eigentlich ein unabdingbarer Wesenskern einer jeden Demokratie, da sie dafür sorgen soll, dass sich die drei staatlichen Gewalten, die Regierung als Exekutive, das Parlament als gesetzgebende Legislative und die Justiz als Judikative, gegenseitig kontrollieren. So gibt es in Deutschland bis heute keine echte Gewaltentrennung zwischen Exekutive, der Regierung, und Legislative, dem Parlament, nicht nur weil Politiker als Bundestagsabgeordnete und Kabinettsmitglieder gleichzeitig Mitglied der Regierung als auch des Parlamentes sein können und sind, sie also über ihre eigenen Gesetzesvorlagen abstimmen können, sondern auch weil sich die Exekutive qua Parteien-Fraktionszwang regelmässig zur erweiterten Legislative aufbläst, da sie das „richtige“ Abstimmungsverhalten der eigentlich frei gewählten und „unabhängigen“ Abgeordneten durch Parteidisziplin erzwingt. Verschlimmert wird diese Praxis noch durch das Verhältniswahlrecht, wodurch eigentlich nicht direkt gewählte Kandidaten dennoch über einen sicheren Listenplatz in den Bundestag einziehen können, sie also nicht dem Wähler, sondern allein ihrer Partei zur Rechenschaft verpflichtet sind, vor allem dann, wenn sie dieses Privileg eines erfolgversprechenden Listenplatzes bei den nächsten Wahlen von der Parteiführung wieder gewährt bekommen wollen. Sodann gibt es, wie bereits geschildert, keine echte Gewaltentrennung zwischen der Exekutive und der Judikative, ein aus demokratischer Sicht beinahe schon skandalöser Umstand, dessen Heilung Teile der deutschen Richterschaft schon seit Jahrzehnten vergebens fordern. So bemerkte etwa Richter a.D. Udo Hochschild, ehemaliger Vorsitzender Richter des Verwaltungsgerichts Dresden:

„In Deutschland ist die Justiz fremdbestimmt. Sie wird von einer anderen Staatsgewalt – der Exekutive – gesteuert, an deren Spitze die Regierung steht. Deren Interesse ist primär auf Machterhalt gerichtet. Dieses sachfremde Interesse stellt eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Rechtsprechung dar. Richter sind keine Diener der Macht, sondern Diener des Rechts. Deshalb müssen Richter von Machtinteressen frei organisiert sein. In Deutschland sind sie es nicht.“

Und:

“Die deutsche Staatsorganisation verhindert nicht schon aus sich heraus die Bündelung von Macht in wenigen Händen. Die Gewaltenteilung in Deutschland erschöpft sich in wesentlichen Punkten in einem Verfassungsgebot. Ob und in welchem Maße dieses Verfassungsgebot befolgt wird, hängt von dem guten Willen und der Rechtstreue der im Dienst der Öffentlichkeit handelnden Personen ab.“

Da die Regierung als Exekutive die Judikative als dritte Staatsgewalt fremdbestimmt, indem beispielsweise Richterkarrieren vom politischen Wohlwollen der regierenden Parteien abhängig sind, wird die Judikative de facto zum integrativen Bestandteil der Exekutive. Staatsanwälte wiederum sind per se schon Teil der Exekutive, da sie als Organ der Rechtspflege auf die Einhaltung der geltenden Gesetze achten. Aber auch bezüglich ihrer Stellung kennt die deutsche Staatsverfasstheit eine Besonderheit, denn Staatsanwälte werden in Deutschland nicht nur von der Exekutive ernannt und sind dann bezüglich ihrer persönlichen Karriereplanung natürlich vom politischen Wohlwollen der regierenden Parteien abhängig, sondern sie sind zudem auch noch weisungsgebunden, in dem Sinne, dass sie politischen Weisungen folgen müssen und ihre Aufgaben nicht allein nach Recht und Gesetz wahrnehmen dürfen. Diese sehr enge Abhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften von den politischen Entscheidungsträgern ist dann sogar dem Europäischen Gerichtshof zu viel, der im Mai 2019 entschied, dass deutsche Staatsanwälte nicht den demokratischen Ansprüchen der Unabhängigkeit von der Exekutive genügen, weshalb sie keine europäischen Haftbefehle beantragen dürfen, auch weil sie politisch durch deutsche Parteipolitiker instrumentalisiert sein könnten. Dass es auch anderes geht, der Staatsanwalt eine grössere Unabhängigkeit von den politischen Entscheidungsträgern haben kann, zeigt ein Blick über den grossen Teich in die USA, dort wird der District Attorney, der Staatsanwalt, in 47 Bundesstaaten direkt vom Volk gewählt.

Einzig das Bundesverfassungsgericht hat sich seine Unabhängigkeit gewissermassen ertrotzt. Ursprünglich auch als Teil der Exekutive unter Aufsicht des Justizministers gestellt, verlangte es bereits 1952 mit dem Hinweis, es könne schlecht eine Behörde, gemeint war das Justizministerium, kontrollieren, der es formal unterstellt sei, seine Unabhängigkeit als eigenes Verfassungsorgan mit eigenem Etat und besonderen Befugnissen. War die Bundesregierung als Exekutive von diesem Ansinnen zunächst nicht begeistert, wurde dem Gericht dann doch bereits 1953 dieser besondere Status gewährt. Die Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes ist seitdem eine Erfolgsgeschichte. Viele richtungsweisende Entscheidungen haben die Geschicke der Bundesrepublik in fast allen gesellschaftlichen Bereichen positiv befeuert. Dennoch muss auch festgestellt werden, dass die „echte“ Unabhängigkeit der Richter erst dann einsetzt, wenn sie ernannt worden sind. Und bei der Auswahl und Ernennung der Richter, hälftig durch Bundestag und Bundestag in einem seit 2015 dann vordergründig transparenten, aber hintergründig immer noch intransparenten Entscheidungsprozess, natürlich immer das zu Tragen kommen sollte, was Udo Hochschild weiter oben den „Guten Willen“ und die Rechtstreue der im Dienst der Öffentlichkeit handelnden Personen (vulgo: Parteipolitiker – rp)“ nannte. Dass dem gerade in der jüngsten Vergangenheit nicht immer Rechnung getragen worden ist, bei der Besetzung der obersten Richter nicht ausschliesslich juristische Exzellenz ausschlaggebend war, sondern immer mal wieder vor allem parteipolitische Nähe, ist leider deshalb auch Teil der Wahrheit.

Dennoch ist das Verfassungsgericht das Verfassungsorgan mit den weitreichendsten Befugnissen, um die deutsche Exekutive zu kontrollieren und gegebenenfalls in die Schranken zu weisen. Sie ist somit das schärfste Schwert des Grundgesetzes. Andere Institutionen oder Organe hinken da weit hinterher wie beispielsweise die Opposition, die aufgrund der Praxis des permanent angewandten Fraktionszwanges ausser der Bereicherung der Debattenkultur nicht so wahnsinnig viel zu melden hat, lediglich gelegentlich wird sie benötigt, wenn die Exekutive bei bestimmten Gesetzesvorhaben wie beispielsweise Grundgesetzänderungen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Plenum braucht. Dann gibt es noch den Bundesrat, die inoffiziell sogenannte Länderkammer, die legislative Aufgaben wahrnimmt, indem sie zustimmungspflichtigen Bundesgesetzen zustimmen muss, damit diese Gesetzeskraft erlangen können, die aber beileibe keine Legislative ist, welche die Macht der Exekutive im Sinne der Gewaltenteilung kontrollieren soll, sondern selbst aus 16 Landesregierungen besteht, also mithin so eine Art Super-Exekutive ist, die laut Verfassung mit der Bundes-Exekutive um den Ausgleich von Länder- und Bundesinteressen im Gesetzgebungsverfahren rangeln soll. Und schliesslich gibt es natürlich noch die vierte Gewalt, die Presse oder die Medien, welche die Politiker kontrollieren und kritisieren sollen, um das Gemeinwesen vor deren Machtmissbrauch zu schützen. Wenn auch die Pressefreiheit in Artikel 5 des Grundgesetzes verankert ist, so schreibt das Grundgesetz den Medien keine „offizielle“ Funktion als vierte Gewalt innerhalb des Systems der Gewaltenteilung zu, dennoch hat sie diese Aufgabe in den letzten Jahrzehnten erfolgreich wahrgenommen. Allerdings hat sich dies in den letzten Jahren verändert, das Internet hat die Medienlandschaft durchgeschüttelt. Die traditionellen Massenmedien sind verunsichert durch sinkende Auflagen, die keinen Boden zu finden scheinen, zugleich hat sich eine neue Generation von Journalisten etabliert, die ihre Hauptaufgabe weniger in der Kritik der politisch Mächtigen als vielmehr in der Durchsetzung einer politischen Agenda sieht, weshalb die „richtigen“ Politiker eher nicht kritisiert, sondern mehr hofiert werden, um ihnen eine möglichst grosse Reichweite einzuräumen. Insbesondere der Öffentlich-Rechtliche Sektor ist hier zu nennen, deren Protagonisten schon „quasi-verbeamtet“ sind, aber auch Verlagshäuser der privaten Medien haben sich einem vermeintlichen Berufsethos unterworfen, der nicht mehr sagt, was ist, sondern das, was sein soll. Das soll nicht heissen, dass es keinen kritischen Journalismus mehr in Deutschland gibt, dennoch muss man konstatieren, dass die Staatsnähe vieler Verlagshäuser in den letzten Jahren grösser geworden ist, wenn sie nicht schon ganz oder teilweise durch die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft übernommen worden sind, die sich zu 100% im Eigentum der SPD befindet, oder aufgrund stark gesunkener Erlöse auf staatliche Unterstützung und Förderung hoffen müssen, was in den letzten Jahren immer mal wieder diskutiert worden ist und auch sicher ein Thema bleiben wird.

Lange hat’s nicht gehoben…

Vergleicht man nun im Lichte dieser beiden historischen Kontexte, der deutschen und der französischen demokratischen Traditionen, die Stellung oder das Selbstverständnis des deutschen und des französischen Souveräns, des deutschen und französischen Bürgers, so wird man finden, dass der französische Souverän, der in seiner revolutionären Tradition steht, eine Souverän „sui generis“ aus sich selbst heraus ist, denn über ihm steht nichts, von ihm ging und geht alle Gewalt aus. Der deutsche Souverän hingegen ist ein Souverän, dem das Souverän-Sein gewissermassen zugestanden worden ist und zwar so zugestanden worden ist, dass er möglichst immer und vollständig unter der Kontrolle einer sehr starken Exekutive steht. Und wo etwas zugestanden wird, muss es auch etwas geben, das zugesteht, das zugestehend oder ein Zugestehendes ist. Und „zugestehend“ kann „es“ natürlich nur sein, wenn es über dem Souverän steht. Die Verfasstheit des deutschen Staates steht in der Tradition der Katastrophe des Nationalsozialismus und atmet bis heute das Misstrauen vor dem Bürger, seinem Souverän, vor dem sich der Staat in einer möglichst starken Exekutive verbarrikadiert hat. Und zwar so stark, dass selbst der angeblich mächtigste Mann der Welt, der us-amerikanische Präsident, von der Potenz der deutschen Exekutive nur träumen kann, muss der sich doch mit einer echten Legislative, den beiden Kammern im Kongress, deren Mandatsträger ALLE direkt gewählt sind, herum plagen, die aufgrund einiger Besonderheiten des amerikanischen Wahlrechts auch noch von der Opposition dominiert sein und Gesetzesvorlagen – wie gerade jetzt wieder – sehr effektiv blockieren können. Der amerikanische Bürger, der Souverän, steht eben auch in einer besonderen Tradition. Es waren die Siedler, die das weite Land eroberten, zwischendurch noch die britische Kolonialmacht vertrieben, und sodann ihren Staat gründeten. Der us-amerikanische Bürger ist somit auch ein Souverän „sui generis“, während der deutsche Staat seine Bürger immer noch so behandelt, als seien sie immer noch erst kürzlich militärisch niedergeworfene Nazi-Volksgenossen.

Die deutsche Exekutive auf dem Vormarsch. Der Typ in der Mitte,
der mit der Standarde, das ist Olaf

Und natürlich kann man jetzt argumentieren, dass der Parlamentarische Rat, die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht wissen konnten, auf was sich einliessen, als sie sich 1948 daran machten, die Deutschen in die Demokratie zu transferieren, ein Experiment, das schon einmal schrecklich schief ging, weshalb es gut und richtig gewesen ist, die Exekutive so stark zu machen, sodass sie jederzeit nicht nur auf ihren Apparat, sondern auch auf die Gerichte zugreifen konnte, um mit neuerlichen antidemokratischen Untrieben sprichwörtlich kurzen Prozess machen zu können. Eine Exekutive, die durchregiert und sich dabei nicht mit kleinlichen demokratischen „checks and balances“ aufhält, die beispielsweise die USA immer mal wieder an den Rand der Unregierbarkeit bringen. Aus heutiger Sicht weiss man natürlich, dass dieses demokratische Experiment ein grosser Erfolg geworden ist und die damaligen Sorgen unbegründet waren. Die Westdeutschen der Nachkriegszeit, die in den Trümmern Nazi-Deutschlands hausten, hatten keine Lust mehr auf Experimente der politischen Extreme, vielmehr nahmen sie die neue Demokratie an, wozu auch das bald einsetzende Wirtschaftswunder nicht unerheblich beitrug. Denn neben den konstitutionellen Webfehlern war vor allem die Weltwirtschaftskrise ein Hauptgrund für das Scheitern der Weimarer Republik gewesen. Startete man 1949 also mit einem Misstrauensvorbehalt gegenüber dem eigenen Volk in die demokratische Zukunft, erwies sich die zügig prosperierende junge Republik jedoch sehr schnell als stabile Demokratie, welche den Menschen auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft auch nie gekannten Wohlstand ermöglichte, was das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie nochmals festigte. Man hätte also von Seiten der Politik bereits auf dem Weg darüber nachdenken können, diesen anfangs durchaus berechtigten Misstrauensvorbehalt aufzugeben, da er ganz offensichtlich gegenstandslos geworden war. Und tatsächlich verlautbarte 1969 der frisch gewählte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung auch, man wolle jetzt „mehr Demokratie wagen“, woraus aber erstens zumindest, was die starke Stellung der Exekutive anging, nichts wurde und zweitens nichts werden konnte, weil bereits die Formulierung „mehr Demokratie wagen“ schon in sich widersprüchlich ist, da sie eine paternalistische Konnotation enthält. Denn wer wagt denn mehr Demokratie und geht damit ein „Wagnis“ ein? Und gegenüber wem? Der Kanzler, die Exekutive, gegenüber dem Volk? Ist das „Wagen“ also eigentlich als ein „Gewähren“ gemeint und steckt in diesem Gewähren eine Gefahr? Und wenn ja, für wen? Für die Exekutive oder das Volk? Und überhaupt ist dieses „Wagen“ als ein „Gewähren“ nicht doch ein sehr seltsames Unterfangen für einen demokratischen Staat, in dem nach Artikel 20 des Grundgesetzes doch „Alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht“? Wie auch immer, ist dieses Unterfangen auch in der kurzen Regentschaft Brandts relative blass geblieben und wurde wenig mit Leben gefüllt, auch weil Willy Brandt eben doch durch und durch Parteipolitiker war und erst dann Demokrat.

Und so verwundert es nicht, dass die deutsche Exekutive bis heute in ihren Händen viel Macht vereint oder um im Duktus des Grundgesetzes zu bleiben: Sehr viel Staatsgewalt geht von ihr aus, die nur sehr unzureichend durch das eigentlich dafür vorgesehene demokratische Instrument der Gewaltenteilung kontrolliert, eingedämmt und korrigiert wird. Punktuell kontrolliert werden kann diese Machtkumulation in Händen der Exekutive effektiv nur durch das Bundesverfassungsgericht, aber auch nur, wenn es dazu aufgefordert wird. Punktuelle Kontrolle aber kann permanente Kontrolle, die eigentlich durch eine funktionierende Gewaltenteilung gewissermassen „automatisch“ erreicht werden soll, nicht vollumfänglich ersetzen. Dass eine zu starke Exekutive auch eine Gefahr für die Demokratie sein kann, dämmert inzwischen sogar „Spitzenpolitikern“ wie Armin Laschet, der erst kürzlich in einem Interview mit der FAZ verlautbarte:

“Aber wenn in einem deutschen Bundesland die AfD tatsächlich in eine Regierung käme oder sogar den Ministerpräsidenten stellte, könnte sie wichtige Institutionen und Schlüsselstellen wie den Verfassungsschutz, Gerichte oder Polizeipräsidien besetzen. Sie könnten in kurzer Zeit die Säulen der Demokratie ins Wanken bringen.“

Die AfD könnte also, wenn sie erst einmal in der Exekutive wäre, das machen, was die anderen Parteien bisher – und das gibt Armin Laschet ja implizit und etwas unbedacht zu – in der Vergangenheit auch immer machten, nämlich sich den Staat durch den ungehinderten Zugriff auf dessen Institutionen und Organe untertan zu machen, um ihn für den Machterhalt zu nutzen. Geschützt vor Machtmissbrauch wäre der Bürger also gerade nicht durch die demokratische Verfasstheit des Staates, der Gewaltenteilung, sondern allein durch den „Guten Willen“ oder die „demokratische Gesinnung“ der handelnden Politiker in der Exekutive. Nur etwas zugespitzt, könnte man dieses spezielle Laschetse Demokratieverständnis, das leider unserem Staat und den in ihm handelnden Partei-Politikern tatsächlich zugrundeliegt, auch auf den Nenner bringen: „La démocratie, c’est moi!“. Denn eine Exekutive, die nicht effektiv und permanent von „aussen“ durch die anderen Gewalten kontrolliert wird, ob sie sich an Recht und Gesetz hält, braucht eine starke „innere“ Kontrolle, eben weil sie in ihrer durch den Fraktionszwang regelmässig herbeigeführten Einheit als „Legislativ-Exekutive“ Recht und Gesetz macht. Oder anders ausgedrückt: Sie braucht etwas, von dem sich im ganzen Grundgesetz leider nichts finden lässt, sie braucht ein Mindestmass an demokratischem Anstand. Eine innere demokratische Gefestigtheit, die zur permanenten Selbstkontrolle mahnt und die verlockende Selbstermächtigung so gut es nur geht vermeidet. Und wen würde es jetzt tatsächlich noch verwundern, wenn unser politischer Apparat und hier natürlich in erster Linie dessen Exekutive den mannigfaltigen Verlockungen der eigentlich demokratisch-moralisch verbotenen Früchte, welche unser Staat durch seine sehr, sehr spezielle Verfasstheit auch noch sehr, sehr niedrig gehängt hat, nicht vollumfänglich widerstehen könnte?

Hmm?

If I were the devil

In eigener Sache: Und auch, weil schon gefragt worden ist: JA, die Arbeiten an Pandora Republic werden fortgesetzt. Der Autor war in den letzten Monaten beruflich nur etwas stärker eingespannt als sonst. Ende 2022 hat das Haus Tanneck nämlich noch eine Tochtereinrichtung bekommen, das Haus Nagoldtal in Calw-Hirsau, das einige Herausforderungen bereithielt, die inzwischen bewältigt worden sind. Das neue Haus hat eine Instagramseite. Wer will, kann ja mal vorbeischauen: haus_nagoldtal

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