Der Methusalem-Komplex

Es gibt Sätze, die sind so vollkommen bescheuert, werden aber dennoch immer wieder verwendet, warum, weiss ich eigentlich nicht. Vermutlich weil sie einfach einfach sind. Weil man nicht nachdenken muss. Oder wasauchimmer.

Also gut:

Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern an die Zeiten, als

Und jetzt? Wie weiter?

als.

als..

als…

als man den Motoren in den Autos die Anstrengung noch anmerkte, sie sich zumal in bergigen Regionen Steigungen mühsam hochqäulten, es elendig lange dauerte, bis man die angepeilte Reisegeschwindigkeit endlich, endlich erreichte und der russige Abgasqualm sich im Rückspiegel langsam lichtete, da man den vierten und letzten Gang eingelegt hatte, um mit 75 Stundenkilometern oder so und mit einigermassen erträglicher Drehzahl den Berg emporzuzuckeln. Und weil damals die allermeisten eben nicht Mercedes, Porsche oder BMW fuhren und Audi noch eine bräsige Automarke war, mit umhäkelter Klopapierrolle oder Jägerhut auf der Ablage des Heckfensters, war es nicht selten, dass man mit seinem 75StundenkilometerberagaufFahrzeug auf eine anderes Allerweltsauto auffuhr, das noch langsamer den Berg emporzuckelte. Was dann wüste Verwünschungen zur Folge hatte und, da Überholen aufgrund mangelnder PS eigentlich unmöglich oder zu lebensgefährlich, man deshalb gezwungen war, wieder den dritten Gang einzulegen, damit der Motor nicht Gefahr lief jämmerlich abzusaufen, was zur Folge hatte, dass der Motor wieder stärker russte und man die ganzen anderen Allerweltsautos, die nach und nach ebenfalls auffuhren im Heckfenster irgendwann nicht mehr erkennen konnte. Das Emporzuckeln im Konvoi war damals eigentlich ein alltägliches Phänomen.

Damals.

Dieses spezielle Damals endete dann irgendwann Ende der Achtziger Jahre, als die Allerweltsautos und auch die Sprudellaster allmählich stärker motorisiert wurden. Konvoifahren wegen schwacher Motorisierung wurde seltener, die Russwolken verschwanden und sollte man doch hin und wieder auf ein einzelnes langsames Fahrzeug auffahren, so verfügen die Motoren in der Regel jetzt auch über genug Reserven zum Überholen, wenn es der Gegenverkehr denn zulässt. Das Phänomen des Konvoifahrens allein aufgrund schwacher Motorisierung verschwand und geriet so in Vergessenheit.

Seit ein paar Jahren aber trifft man wieder öfter auf Autos, die nur sehr langsam bergauf bewegt werden, sodass man unweigerlich wieder an das alte Konvoifahren erinnert wird. Allerdings sitzen die heutige Fahrer nicht in untermotorisierten Karossen sondern steuern in der Regel Fahrzeuge, die mehr als ausreichend motorisiert sind. Das Phänomen des neuerlichen Konvoifahrens kann also nicht durch mangelnde oder leistungsschwache Technik erklärt werden sondern hat seine Ursache vielmehr in den Fahrern selbst und das hat wiederum seine Ursache in einem sozialen Phänomen, das der kürzlich verstorbene Frank Schirrmacher 2004 wie folgt beschrieben hat:

“Manches spricht heute dafür, dass jene demografischen Veränderungen, die 2014 zweifellos schon für jedermann mit Händen zu greifen sein werden, das 20. Jahrhundert beerdigen werden. Was uns bevorsteht, kommt mit der Wucht einer Naturgewalt. Altern, diese angstbesetzte und zutiefst verleumdete Lebenserfahrung des Menschen, wird zum ersten Mal zu einem Massenphänomen.”

Es mag in der Geschichte der motorisierten Welt schon immer Fahrer gegeben haben, die aufgrund ihres hohen Alters ihr Fahrzeug vorsichtiger bedient haben, die langsamer fuhren oder länger brauchten, um Verkehrszeichen zu identifizieren. Genau so, wie es zu allen Zeiten ältere Verkehrsteilnehmer gegeben hat, die ihr Fahrzeug sicher beherrschten und zügig fuhren. Es gibt heute aber aufgrund der von Frank Schirrmacher beschriebenen dramatischen Überalterung unserer Gesellschaft viel, viel mehr ältere Herrschaften als zu irgendeiner Zeit und deshalb von beiden obengenannten Typen der älteren Verkehrsteilnehmer eben auch überproportional mehr, wobei natürlich nur die langsamfahrenden dem Revival des Konvoifahrens ursächlich sind und damit auffällig werden.

Und deswegen hatte Frank Schirrmacher 2004 natürlich Recht, das Phänomen der dramatischen Überalterung unserer Gesellschaft ist tatsächlich heute, 2014, für jedermann mit Händen zu greifen, wobei das Revival des Konvoifahrens nur eine demographiebedingte Veränderung unserer alltäglichen Erfahrungswelt bleibt.

Frank Schirrmacher verglich in seinem Buch “Der Methusalem-Komplott” die Veränderungen, die unserer Gesellschaft durch den demographischen Wandel erwachsen mit nichts anderem als einer Revolution, “…in der alle gewohnten familiären und sozialen Beziehungen auf dem Spiel stehen.” Der erste wirkliche Schock wird sich seiner Meinung nach zwischen 2010 und 2020 ereignen, wenn die Generation der zwischen 1960 und 1970 Geborenen in ihre ganz persönliche Alterskrise kommen, da sie zum einen verstehen, dass sie nicht mehr jung sind und zum anderen mit einem durch den Jugendwahn unser Zeit definierten Altersbegriff konfrontiert werden, der bei ihnen ein Klima der grossen Traurigkeit und Angst entstehen lassen wird. Und weil durch die gestiegene Lebenserwartung viele der Vertreter der älteren Generationen bis zu den Geburtenjahrgängen des Zweiten Weltkrieges noch leben würden, entstünde ein “Mix” aus sehr heterogenen Generationen, die alle auf die eine oder andere Art als “alt” definiert würden und die letztendlich die gesellschaftliche Mehrheit repräsentieren werden.

Aus dieser gesellschaftlichen Mehrheit wollte Schirrmacher aber keine politische Macht ableiten, wenn er etwas schwurmelig schreibt,: “Das (…) heißt (…), dass die Vorstellung ziemlich unrealistisch ist, wonach die Älteren von morgen aufgrund ihrer hohen Zahl die Jüngeren politisch dominieren würden. Wir werden uns in den Schutz der Jungen begeben. Die Jungen sind weniger, aber sie sind stark: Es sind die Polizisten, die Bankbeamten, die Journalisten, die Ärzte, die Krankenschwestern, die sich gegen uns auflehnen werden, wenn wir wirklich beabsichtigen, mit Hilfe unserer Wählerstimmen uns als ausbeutende Klasse über sie zu erheben.” Schirrmacher folgert daraus, dass die Jungen ein Interesse daran haben müssten, das negative gesellschaftliche Image des älteren Menschen zu revolutionieren, es ins Positive zu verkehren, um “…in der künftigen Gesellschaft das überlebenswichtige Selbstbewusstsein zu verankern.” Das ist edel und selbstlos von Schirrmacher, aber er übersieht dabei leider zweierlei:

Erstens, die nicht sehr ausgeprägte Neigung von Menschen, sich als Teil eines Ganzen, einer Generation zu begreifen, die gemeinsam homogene Interessen zu Gunsten Dritter verfolgt sondern vielmehr und immer nur egoistischen, d. h. heterogenen Interessen folgen wird.

Zweitens, die sehr ausgeprägte Neigung der Politik oder der Parteien an der Macht bleiben zu wollen und zu diesem Zweck heterogene und egoistische Partikularinteressen grosser Wählergruppen homogen zu bündeln, zu bedienen und zu ihrem eigenen Vorteil, dem Machterhalt, zu nutzen.

Die Fehleinschätzung Schirrmachers verwundert, denn er selbst zitiert den “Chef” des Mirriam-Webster, dem US-amerikanischen Duden, der bereits für 2003 eine starke Zunahme der medizinischen oder gerontologischen Begrifflichkeiten im US-amerikanischen Wortschatz verzeichnete und dies folgendermassen begründete: “Die Babyboomer (In den USA sind die Jahre 1946-1964 die Geburtsjahrgänge der sogenannten Baby-Boomer. In der BRD hingegen 1955-1969 – rp) haben alles verändert. Wir erleben jetzt das letzte und grösste Beispiel der Veränderung, das Altern der Boomer. Wer glaubt, dass die Boomer als Teenager genervt haben und dass sie als junge Erwachsene unausstehlich waren, der wird sich über die Boomer als Ältere wundern. Sie werden ein Maß an Gesundheitsfürsorge und Zuwendung verlangen, das zumindest dem ihrer Eltern entspricht, obwohl ihre Eltern eine viel kleinere Gruppe waren. Die Boomer werden die Gesellschaft zwingen, sich mit Gesundheitsfürsorge zu beschäftigen, und sie werden uns zwingen, uns mit Gerontologie zu beschäftigen, ob wir wollen oder nicht.”

Jüngst überraschte CSU-Chef Seehofer mit dem Bekenntnis, er halte es für möglich, dass die Union bei der nächsten Bundestagswahl 2017 eine absolute Mehrheit erzielt oder in deren Nähe kommen kann. Seinen Optimismus begründet er mit den seit der letzten Wahl stabil gebliebenen Umfragewerten sowie der gegenwärtigen Parteienlandschaft. Eine Parteienlandschaft ist aber immer nur das Spiegelbild des Wahlverhaltens, weshalb Seehofer auch hätte sagen können, er halte eine absolute Mehrheit 2017 aufgrund der stabil gebliebenen Umfragewerte und der gegenwärtigen Wählerlandschaft für realistisch. Und natürlich ist auch die Wählerlandschaft ganz entscheidend geprägt durch das, was man den demographischen Wandel nennt – und zwar in einem ganz dramatischen Masse, da:

Erstens, die über 60-Jährigen schon jetzt über 29% aller Wahlberechtigten repräsentieren, Tendenz stark steigend.

Zweitens, diese schon numerische starke Wählergruppe auch überproportional stark zur Wahl mobilisiert werden kann, während die Wahlbeteiligung der jüngeren Wählergruppen kontinuierlich sinkt, was das Gewicht dieser Wählergruppe noch einmal potenziert.

Drittens, die über 60-Jährigen im ganz überwiegenden Masse strukturkonservativ (CDU/CSU 48,7%, SPD 28,4%) wählen, weil zum einen in diesen Generationen noch eine starke traditionelle Stammwählerbindung vorherrscht, die es bei jüngeren Wählergruppen so nicht mehr gibt noch geben wird, und zum anderen Menschen im Alter vielleicht wirklich dazu neigen, die Welt strukturkonservativ zu sehen, möge bitte alles so bleiben, wie es ist. (rp berichtete)

Das alles hat zur Konsequenz, dass eine Wahl, egal welche, gegen diese starke strukturkonservative Wählergruppe immer nur verloren, mit ihr aber alles gewonnen werden kann. Von dieser Tatsache profitieren in erster Linie die beiden “Volksparteien”, jedoch schliessen andere Parteien langsam auf, oder glaubt wirklich irgendjemand, es sei Zufall, dass beispielsweise Winfried Kretschmann auf seinem langen Marsch durch die Institutionen ausgehend vom Kommunistischen Bund Westdeutschland inzwischen beim Zentralkomitee der Katholiken angekommen ist und auf Landesebene die Pflege-WGs durchsetzt und im Bundesrat für den Asylkompromiss stimmt?

Das, was also Frank Schirrmacher edelmütig im Geiste der Generationengerechtigkeit ausschliessen wollte, die Dominierung der Jüngeren durch das Wahlgewicht der Älteren oder wie er es formulierte, dass die Älteren sich mit Hilfe ihrer Wählerstimmen als ausbeutende Klasse über die Jüngeren erheben, ist heute schon längst Realität.

Symptome dieser neuen Realität finden sich in den jüngsten Wohltaten und Wahlgeschenken, die die gegenwärtige Regierung der Wählergruppe der über 60-Jährigen teilwerden liess. Und das, obwohl diese Wählergruppe eigentlich die goldene Generation Deutschlands darstellt, sie verfügt über die höchsten Renten, die wohl jemals ohne Zusatzversicherung ausbezahlt werden, des Weiteren über eine in dieser Höhe noch nie dagewesene Kaufkraft sowie über die höchsten Vermögenswerte aller Altersgruppen im Land. Dennoch hat die grosse Koalition ein weiteres Rentenpaket beschlossen, dessen Wohltaten wie Mütterrente und Rente ab 63 durch die jüngeren Generationen mit zig Milliarden aus Versicherungsbeiträgen und Steuern finanziert werden müssen. Widerstand regt sich bisher kaum, denn wer mag schon ernsthaft gegen eine Mütterrente opponieren. Jeder hatte oder hat doch eine Mutter. Und wer möchte nicht, dass es den Müttern gut geht? Und eben genau deshalb heisst sie auch Mütterrente.

Ein weiteres Symptom der neuen Realität findet sich in der Pflegepolitik der letzten Jahre. Jahrzehntelang hat man die Pflegeheime mit Verordnungen, Richtlinien und Gesetzen überhäuft, die eigentlich alles, von der Personalausstattung bis hin zur Beschaffenheit des Wasserhahns reglementieren. Das hatte unter anderem den Effekt, dass Pflege in den Pflegeheimen immer teurer geworden ist. Gleichzeitig trieben einige Protagonisten, unter ihnen der Alt-Bürgermeister von Bremen, Henning Scherf, den politischen Durchbruch der Pflege-WG voran. Dabei kam ihnen zupass, dass Pflegeheime nicht unbedingt unter guten Imagewerten leiden, es herrscht vielmehr eine diffuse medial gezüchtete Angst vor Pflegeheimen, die bei näherer Betrachtung eigentlich die Angst vor der eigenen Hinfälligkeit und Bedürftigkeit ventiliert. Die Pflege-WG erscheint deshalb vielen Menschen als romantisiertes Gegenmodell zu den Heimen, das die Realität leider nicht wird einlösen können, von der älteren Bevölkerung aber irgendwann gewollt werden musste. Bezüglich der Realisierung der Pflege-WGs war aber von Seiten der Politik zunächst ein grundlegendes Problem zu lösen. Und dieses Problem war die Finanzierbarkeit. Pflege-WGs sind eigentlich nichts anderes als atomisierte Pflegeheime, deren pauschalisierten Dienstleistungen wie Wohnen, Verpflegung, Pflege, Therapie etc. man in seine Einzelteile zerlegt, um diese in der kleinteiligeren Wohnform der Pflege-WG wieder zusammenzusetzen. Kleinteilige Pflegewohnformen sind teuer, da die Bewohner einer WG sich die einzelnen Leistungen, die sie im Pflegeheim pauschal erhalten, in der Pflege-WG unter ungünstigeren Kostenstrukturen individuell von unter Umständen verschiedenen Dienstleistern zusammenkaufen müssen. Um die Finanzierbarkeit unter Schonung der Geldbeutel der WG-Bewohner zu realisieren, wurden von der Politik in den letzten Jahren unter dem Motto “Ambulant vor Stationär” die Leistungen der Pflegeversicherung für ambulante Pflege immer mehr erhöht und die Pflege-WG, eigentlich eine stationäre Wohnform, unter einigen Verrenkungen zur ambulant betreuten Wohnform erklärt. Das erlaubte zweierlei, zum einen können Pflege-WG-Betreiber, bzw. deren Bewohner auf die nun üppig bemessenen Leistungen der Pflegeversicherung für ambulante Pflege zurückgreifen und zum anderen, da die Pflege-WG-Bewohner ja in ihrer “eigenen” Häuslichkeit wohnen, anders als im Pflegeheim auch noch Leistungen für die Behandlungspflege aus der Krankenversicherung abschöpfen. Da rechnet sich so eine Pflege-WG zumindest theoretisch, auch weil der Gesetzgeber nicht versäumte, die baulichen und personellen Standards der Pflege-WGs auf ein absolutes Mindestmass zu reduzieren. Gerade das Beispiel der Pflege-WGs veranschaulicht deshalb sehr gut, welche Macht die goldene Generation hat und wie fast schon panisch Politik total bescheuerte Pflege- und Finanzierungskonzepte umsetzt, von denen Politik und Senioren glauben, dass sie diese unbedingt wollen und brauchen. Jahrzehntelang hat man, getrieben von Presseberichten über echte und vermeintliche Pflegeskandale, die Kontrollen in den Pflegeheimen immer weiter verschärft, um nun mit einem Handstrich eine neue stationäre Pflegewohnform zu etablieren, deren Standards bis auf eine Minimum gesenkt wurden und die sich in einigen Bundesländern der regelmässigen Kontrolle durch die staatlichen Heimaufsichten qua Gesetz entzieht. So werden wiederum zig Milliarden Euro an Sozialversicherungsgeldern in ein Pflegekonzept gebuttert, von dem Politik ganz genau weiss, dass es Misstände und Missbrauch geradezu produzieren muss. Verantwortungsvolle Politik sieht eigentlich anders aus, auch und gerade vor dem Hintergrund der schieren Masse der zu bewältigenden zukünftigen Pflegebedürftigkeit, welche zu einem Grossteil durch die beitragszahlenden jüngeren Generationen zu finanzieren sein wird, und Politik eigentlich auch weiss, dass die Pflegeheime hinsichtlich Qualität und Kosten immer noch die unschlagbar beste und kostengünstigste professionelle Versorgungsstruktur anbieten. Aber was tut man nicht alles, um Wahlen zu gewinnen.

Weitere Symptome der neuen Realität finden sich nicht nur indem, was Politik unternimmt sondern gerade auch indem, was sie unterlässt. Eine grosse Idee ist eine grosse Idee und bleibt eine grosse Idee, auch wenn sie unter die Apparatschiks gefallen ist. Die Europäische Union ist so eine grosse Idee, ganz sicher die beste, welche in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Die europäische Idee ist kostbar, denn sie enthält bei allen schwierigen Problemen, mit denen europäische Regierungen derzeit kämpfen, immer noch eine Verheissung nicht nur für die deutsche sondern auch für die Jugend Europas. Derzeit gleicht diese Idee aber einem gestrandeten verlassenen Boot auf einer Sandbank und man kann nur rätseln, welches Schicksal ihm zugedacht ist. Wahrscheinlich soll es dort verfaulen oder besser noch vom nächsten Sturm zerschlagen werden. Wenn man es genau bedenkt, dann gibt es eigentlich nur ein einziges wirklich schlagendes Argument, warum einer repräsentativen Demokratie der Vorzug vor einer direkten Demokratie zu geben ist. Und das ist, dass man von demokratischen und verantwortungsvollen Volksvertretern erwarten muss, heute notwendige und richtige Entscheidungen für ein besseres Morgen zu treffen, auch auf die Gefahr hin, bei der nächsten Wahl durch ein populistisches und egoistisches Heute abgewählt zu werden. Eine repräsentative Demokratie aber, die ihre Handlungsrichtlinien anhand aktueller Umfrageergebnisse ständig neu improvisiert, die also eine Art indirekte direkte Demokratie veranstaltet, braucht eigentlich kein Mensch, da sie sich selbst widerlegt. Dass die Einführung des Euros erheblichen Konstruktionsfehlern unterlag, ist heute kein Geheimnis oder tiefe Erkenntnis mehr. So wie es auch keine tiefe Erkenntnis mehr ist, dass die Probleme der Krisenländer hausgemacht sind, da sich korrupte Eliten bereicherten oder notwendige Reformen verschleppt wurden. Es wird aber gern vergessen, dass das was man heute Eurokrise nennt einst als Bankenkrise begann und seinerzeit von der Politik nichts unterlassen wurde, um die Banken und damit auch die Vermögenswerte der wohlhabenden Schichten zu retten. Den Preis dafür zahlte und zahlt die Jugend Europas mit einer Jugendarbeitslosikgkeit, die in einigen Regionen 30, 40, 50 und sogar 60% übersteigt. Manche Experten sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer verlorenen Generation, die von der Politik anders als seinerzeit die Banken aber nicht als “too big to fail” eingeschätzt wird und das wiederum aus drei Gründen:

Erstens, da diese Generation der jungen Habenichtse eben über keine nennenswerten Vermögenswerte verfügt, die es zu schützen gilt, sondern vielmehr selbst Milliardeninvestitionen bedarf, wollte man ihr wirksam helfen. Und diese Milliardeninvestitionen in Deutschland ein erhebliches Geschrei auslösen würden, insbesondere bei den wohlhabendsten Generationen, denen sich in der AfD eine eurokritische Wahlalternative eröffnet hat, die bis jetzt von den Wählergruppen der über 60-Jährigen noch nicht entdeckt wurde und

zweitens, die Bankenkrise noch nicht wirklich durchgestanden ist und deshalb das Pulver trocken gehalten werden muss, um notfalls wieder Banken und Vermögen statt Zukunft und Jugend zu retten, und

drittens, Politik den Bürgern, wollte man ihnen Opfer abverlangen, auch etwas anbieten muss und das derzeit Angebotene, die aktuelle Verfassung der Europäischen Union, aber leider nur über die Strahlkraft eines ausgelatschten Turnschuhs verfügt. Es wird von Politik immer so getan, als sei diese Form der EU, die EU der Apparatschiks, der abgehalfterten Ex-Politiker, der Pöstchen, der Eurokraten, der Subventionen, der Lobbyisten alternativlos, als gäbe es nur diese Form der EU oder keine. Die Bürger haben zuweilen ein feines Gespür dafür, wenn ihre politische Kaste nicht mehr an das glaubt, was sie selbst propagiert und fragen sich deshalb zurecht, warum sie für etwas zahlen sollen, das ohnehin einen langsamen Tod stirbt oder auf einer Sandbank einfach liegengelassen worden ist.

Es wird in diesen Tagen oft der Begriff der “schwäbischen Hausfrau” missbraucht. Das soll wohl suggerieren, dass Mutti das Geld zusammenhält. Dieses Bild aber ist falsch, die “schwäbische Hausfrau” ist sicher kein Synonym für Verschwendungssucht, aber in erster Linie war und ist es immer ihr Bestreben, die Familie zusammenzuhalten, weshalb sie sich der dafür absolut notwendigen Ausgaben auch nicht verweigern würde. Kurzfristig mag diese Politik der planvoll zaudernden alten Frau, die wir gerade erleben, ihr Ziel, die absolute Mehrheit der CDU/CSU in 2017, erreichen. Mittel- oder auch langfristig beschädigt sie die Zukunftschancen der Jugend Europas, auch die der deutschen, die derzeit in abgespeckten Bachelor-Studien einer schnellstmöglichen Anschlussverwendung zugeführt wird, da Deutschland nicht auf Dauer eine Insel des Wohlstandes in einem Meer der Wirtschaftskrise wird bleiben können. Wer nichts hat, der kauft nichts. Auch nicht in China.

Es liessen sich noch mehr Symptome für den “Methusalem-Komplex”, dem zynischen Kalkül der Politik, durch Umverteilung von Jung nach Alt wahltaktische Ziele zu erreichen, finden, beispielsweise das Unterlassen einer aktiven und echten Einwanderungspolitik, die nicht nur Stückwerk ist und die eine überalterte Gesellschaft wie die unsere dringend braucht, aber die bei Erfolg unter Umständen betonierte Mehrheitsverhältnisse aufbrechen und Überfremdungsängste gerade bei der älteren Stammwählerschaft wecken könnte. Und noch viele weitere Symptome, wie beispielsweise die eklatante Vernachlässigung der deutschen Bildungsinfrastruktur, da man den Euro eben nur einmal ausgeben kann – aber der Text ist ohnehin schon viel zu lang geworden.

Der “Methusalem-Komplex”, die Umverteilung von Jung nach Alt, ist ein Phänomen des demographischen Wandels, er bedeutet nicht, wie Frank Schirrmacher befürchtet und zugleich ausgeschlossen hat, dass sich die Alten willentlich als ausbeutende Klasse mit der wahlentscheidenden Masse ihrer Wählerstimmen über die Jungen erheben oder dass die über 60-Jährigen aktiv die beschriebenen Bonus-Leistungen der Politik für sich einfordern. Er bedeutet aber, dass die Politik ihr historisches Glück einer grossen Wählergruppe für sich entdeckt hat, die ein bestimmtes Wahlverhalten zeigt, das diese Gruppe sehr wahrscheinlich nicht mehr ändern wird, auch weil die Politik vermutlich sehr erfolgreich versuchen wird, sich das Wohlwollen dieser Wählergruppe unaufgefordert aber durch vorauseilendem Gehorsam mittels weiterer Wahlgeschenke dauerhaft zu sichern. Was dabei herauskommt, ist eine planvoll zaudernde Politik, die im Heute das Morgen vergisst. Dabei waren wir alle und auch die modernen selbstbewussten Alten von heute schon einmal viel weiter. So weit, dass wenn wir es wüssten, es niemals zulassen würden, im Russ der für uns verbrannten Ressourcen die Zukunftschancen unserer Kinder und Enkelkinder im Rückspiegel schwinden zu sehen. Und das ist ja das eigentlich Perfide.

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