120 deutsche Minuten

Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Chefredaktion zu viel mit der CSU telefoniert und so gar keine Zeit mehr hat, ihrem eigentlichen Geschäft nachzugehen, denn anders lässt es sich kaum erklären, dass im ZDF offensichtlich die Praktikanten die Macht übernommen haben und sodann frisch, fromm, fröhlich, frei Texte in die Welt absondern, die im Sendung-mit-der-Maus-Stil Thesen verkünden, bei deren Lektüre man nicht recht weiss, ob man weinen oder lachen oder besser doch einfach nur schreiend davon laufen soll. So steht zum Beispiel zu lesen in einem Text auf der Webseite des ZDF, der offenbar einen Sendebericht des Auslandsjournal nacherzählen soll:

„Das statistische Bundesamt veröffentlicht Zahlen zur Pflegesituation, die alarmierend sind. Die Pflege in Deutschland ist so teuer, dass viele Senioren und ihre Angehörigen kein Altenheim mehr bezahlen können. Zwar gibt es die staatliche Pflegeversicherung, doch selbst die kann nur für einen Teil der Kosten für die Pflege aufkommen. Das Problem drängt, denn die deutsche Gesellschaft wird immer älter und Jahr für Jahr gibt es mehr Pflegefälle.“

Ob das statistische Bundesamt tatsächlich alarmierend verlautbart hat, dass Pflege in Deutschland zu teuer ist, entzieht sich der Kenntnis der reformpflege. Das statistische Bundesamt hat aber ganz sicher verlautbart, dass die deutsche Gesellschaft immer älter wird und es deshalb mehr und mehr Pflegefälle gibt. Das tut es nämlich ständig, das interessiert nur keinen und die Politiker schon gar nicht.

Die Autorin fährt fort:

„Unterschiedliche Lösungsansätze für das Problem gibt es bereits.“

Was sie damit meint, wird im Fortgang des Textes klar, sie thematisiert zuerst die vielen osteuropäischen Haushaltshilfen, die im häuslichen Bereich betreuende Aufgaben übernehmen:

„Sie wohnen meist im Haus des Pflegebedürftigen und begleiten diese durch den Tag. Solche qualifizierten Pfleger kosten im Monat meist weit weniger als ein durchschnittlicher Heimaufenthalt.“

Wir arbeiten selbst – wie viele andere ambulante Pflegedienste – mit diesen osteuropäischen Haushaltshilfen regelmässig zusammen. Das ist auch absolut in Ordnung. Es ist uns bisher aber noch nicht aufgefallen, dass es sich bei diesen Haushaltshilfen um qualifizierte Pfleger, mithin also Pflegefachkräfte handelt. Das mag in früheren Jahren so gewesen sein, mittlerweile werden Pflegefachkräfte, auch osteuropäische, nicht nur in Deutschland händeringend auf dem ersten Arbeitsmarkt gesucht, wo sie zu besseren Konditionen pflegen und arbeiten können als in einer fremden Häuslichkeit. Darum scheint es der Autorin aber nicht zu gehen, sie fährt, die Katze jetzt aus dem Sack lassend, fort:

„Jetzt wird unter Pflegeexperten und Politiker über neue Ansätze diskutiert. Der CDU-Politiker Willi Zylajew regte jüngst an, dass man deutsche Rentner doch im Ausland pflegen lassen könne. Die Idee ist nicht absurd. Denn viele Senioren leben bereits in einem Heim in der Slowakei, Tschechien oder Ungarn.“

Genausowenig absurd wie die Idee, einmal darüber nachzudenken, ob die Praktikanten beim ZDF vielleicht doch nicht die Macht übernommen haben, die Chefredaktion vielmehr noch in Amt und Würden ist, eben weil sie nicht nur mit der CSU telefoniert sondern auch noch mit den selbsternannten Pflege-Caritas-Experten der CDU. Der Text bricht dann runter auf den konkreten Einzelfall:

„Christa Scherbaum ist auch eine von diesen Seniorinnen, die ihren Lebensabend nicht in der Heimat verbringen werden. Die finanzielle Belastung des Sohnes war zu stark geworden, denn mehr als 1600 Euro musste er monatlich zu dem Heimaufenthalt seiner Mutter im Fränkischen Oberasbach zusteuern. Statt 3200 Euro kostet ihr neues Pflegeheim in der Slowakei 1000 Euro im Monat. Erschwinglich – und auch qualitativ ist an dem slowakischen Heim und den Pflegerinnen nichts auszusetzen. Obwohl es Schwierigkeiten bei der Verständigung gibt, hat sich die Frau ganz gut eingelebt. Zwar ist klar, dass ihre Familie sie fortan weniger sieht, doch hat ihr Sohn versprochen sie oft besuchen zu kommen. Frau Scherbaums Demenz ist ohnehin so stark, dass sie ihre Angehörigen wahrscheinlich kaum noch erkennt.“

Auch eine von diesen Seniorinnen, die erschwinglich und irgendwie qualitativ für nur 1000 Euro versorgt werden. Und da treibt es einem wirklich die Tränen der Rührung in die Augen ob dieser qualifizierten osteuropäischen Pfleger, die sich nicht nur in deutschen Häuslichkeiten verdingen sondern auch in ihrer Heimat für einen Bruchteil des Geldes arbeiten, das sie einige Kilometer weiter westlich verdienen könnten. Gut für Frau Scherbaum. Blöd nur, dass sie ihre Familie weniger sieht und auch kein Slowakisch versteht. Macht aber nix, weil die Frau Scherbaum ist ja eh dement. Merkt ja nichts mehr, die Gute. Das erreicht jetzt schon einen Grad des Zynismus, der mit blosser Schludrigkeit nicht mehr zu entschuldigen ist, unterstellt der Text doch implizit, dass Menschen bei fortgeschrittener Demenz ohnehin nicht mehr adäquat betreut werden müssten, da sie durch die Krankheit bereits sozial entkernt worden sind. Die Autorin ist aber noch nicht fertig:

„Was auf den ersten Blick ein wenig wie eine Abschiebung der demenzkranken Mutter aussieht, ist für viele Familien der einzige Ausweg. Frau Scherbaum ist in guter Gesellschaft. Allein in ihrem Heim gibt es noch zwei andere deutsche Patienten.“

Da taucht dann das Kostenargument zum wiederholten Male auf, das aber an keiner Stelle diskutiert oder gar differenziert wird. Es ist natürlich richtig, dass die Pflegeversicherung nur einen Teil der Pflegekosten bezahlt und deshalb die Pflegebedürftigen den Restanteil der Pflegekosten aus eigenen Mitteln zu bestreiten haben. Es ist auch richtig, dass, sollten diese eigenen Mittel nicht ausreichen, das Sozialamt den Restanteil der Pflegekosten im Rahmen der Hilfe zur Pflege bezahlen kann. Und es entspricht weiter den Tatsachen, dass das Sozialamt, bevor es Hilfe zur Pflege gewährt, zunächst die Unterhaltspflicht der direkten Angehörigen prüft und diese gegebenenfalls zur Kostenbeteiligung heranzieht. Es entspricht aber ganz und gar nicht den Tatsachen, dass die Beteiligung der Angehörigen an den Pflegekosten durch das prüfende Sozialamt für diese zur Armutsfalle wird. Vielmehr wird jeder Einzelfall unter Berücksichtigung des individuellen Einkommens und bestimmter Selbstbehaltsgrenzen geprüft, wie unter anderem hier nachzulesen ist:

„Es gibt keine klaren Einkommensgrenzen, ab denen auf jeden Fall Unterhalt gezahlt werden muss. Zu kompliziert sind die Regelungen, die die finanzielle Leistungsfähigkeit von Angehörigen betreffen. Dafür kommt rechtlich das Prinzip des Selbstbehalts zum Tragen. Der Selbstbehalt ist die Summe, die einem Angehörigen zugestanden wird, um seine eigene Lebensführung angemessen bestreiten zu können.(…) Die konkrete Berechnung erfolgt jedoch nicht mechanisch, sondern berücksichtigt die soziale Stellung und die Lebensgewohnheiten des Unterhaltsverpflichteten. Niemand muss nach herrschender Rechtsprechung eine spürbare und dauerhafte Senkung seines Lebensstandards hinnehmen – es sei denn, er lebt in luxuriösen Umständen (und dann fiele die Unterhaltszahlung wohl kaum ins Gewicht!) Vermögenswerte der Kinder wie Wohneigentum, Geldanlagen bzw. Sparguthaben werden – soweit sie nicht außergewöhnlich hoch sind – nicht beansprucht.“

Mit derlei komplizierten Spitzfindigkeiten hält sich die Autorin aber freilich nicht auf. Für sie und für viele Familien ist das osteuropäische Pflegeheim der einzige Ausweg, zumal sich Frau Scherbaum, eben noch zu dement und somit bereits zu sozial entkernt, um ihre Familie noch zu erkennen, auf einmal dann doch deutscher Mitbewohner erfreuen darf. Im Folgenden wird der neue „Lösungsansatz“ noch gefeiert, wobei der Text seltsam indifferent wird, als sei sich die Autorin bezüglich des neuen „Lösungsansatzes“ plötzlich doch nicht mehr ganz so sicher:

„Die Vermittlung an ein Pflegeheim in Osteuropa erscheint wie ein Kompromiss, der für alle Seiten erträglich ist. (…) Schlechter als in Deutschland ist die Pflege in Osteuropa selten und somit ist der Heimaufenthalt auch für die Alten so erträglich wie nur eben möglich.“

Und wenn man dann noch den kruden Schlusssatz des Absatzes,

„Auch der Vermittler freut sich, denn Unternehmer wie Artur Frank verdienen beachtliche Provisionen bei dem Geschäft mit der Vermittlung Ost.“,

liest, fragt man sich dann zum wiederholten Male, ob man womöglich einem etwas verunglückten Satirestück aufgesessen ist, was aber letztlich unerheblich bleibt, denn die Idee des Herrn Zylajew ist nunmehr in der Welt und sorgt für mächtig Wirbel in Pressemitteilungen, Internetforen und Kommentarspalten. Und so entsteht dann wie üblich eine grosse Aufgeregtheit über Pflege, die dann natürlich in einer sonntäglichen Talkshow kulminiert, in welcher die üblichen Experten – Politiker, Betroffene, Heimleiter – zusammensitzen und den üblichen Mist verzapfen und eine ehemalige Bundesgesundheitsministerin beispielsweise genau jenes Pflege-Minuten-Modell geisselt, das sie in achtjähriger Regentschaft ganz vergessen hat abzuschaffen, so wie ein Caritas-Mensch erzählt, er würde sich in seinem eigenen Heim nicht pflegen lassen, denn gute Pflege sei in Deutschland nur schwer möglich wegen der hier herrschenden geringen Personalschlüssel, wobei er nicht vergisst zu erwähnen, dass der Anteil der Personalkosten in seinem Heim bereits 80% betragen (Und dann doch vergisst zu konkretisieren: Anteil an was? Am Umsatz oder an den Gesamtkosten?), weil die Dementen so einen grossen Bewegungsdrang hätten (Was natürlich stimmt. Vor allem bei ausbleibender oder nicht adäquater Therapie und Beschäftigung), obwohl sein Heim doch über so einen schönen Sinnesgarten verfügt, und dann erzählt ein weiterer Politiker noch irgendwas und der Moderator überreicht Blumen an irgendwen und kein Mensch hat schlussendlich eine Antwort bekommen auf die eingangs der Sendung formulierte Frage: Wird Pflege unbezahlbar?

Und natürlich hat reformpflege auch keine Antwort auf diese Frage. reformpflege hat hat aber eine Antwort auf die Frage, warum Pflege so teuer ist, wie sie eben ist. Und diese Antwort soll anhand des Pflegesatzes eines der reformpflege zufälligerweise näher bekannten Pflegeheimes hier einmal exemplarisch dargestellt werden.

Die Heimkosten eines jeden deutschen Pflegeheims setzen sich (bei Vernachlässigung der in einzelnen Bundesländern erhobenen Ausbildungsumlage) aus insgesamt drei grossen Kostenblöcken zusammen. Diese sind:

- Investitionskosten

- Unterkunft und Verpflegung

- Pflegebedingter Aufwand

Investitionskosten sind, wie der Name schon sagt, die Kosten, die notwendig sind, damit auf der grünen Wiese eine Pflegeeinrichtung entsteht und dieses auch komplett funktionsfähig ausgestattet ist. Auch wenn die Einrichtung bereits in Betrieb ist, können weitere Investitionskosten entstehen, wenn beispielsweise Gesetzesänderungen umfangreiche Um- oder Anbauten notwendig machen. Die Investitionskosten sind die einzigen Kostenbestandteile, die durch das Heim in eigener Regie berechnet und veranschlagt werden können, wenn die Einrichtung keine Fördermillionen in Anspruch genommen hat. Der Investitionskostensatz des Haus Tanneck beträgt:

Euro 17,35 täglich.

Die zwei restlichen Kostenbestandteile – Unterkunft und Verpflegung sowie der pflegebedingte Aufwand – sind Kosten, die das Pflegeheim nicht frei festsetzen kann, diese muss es mit den Kostenträgern, also den Pflegekassen und dem Sozialhilfeträger, verhandeln. Wobei Verhandlung eine ziemlich euphemistische Umschreibung dessen ist, was sich regelmässig in allen Pflegeeinrichtungen vollzieht, da die Pflegeeinrichtungen natürlich dringend einen genehmigten, also verhandelten Pflegesatz benötigen, um ihre Arbeit auch abrechnen zu können, sie aber eigentlich über kein wirkliches Druckmittel verfügen, und die Vorteile bei den Verhandlungen somit immer auf Seiten der Kostenträger liegen.

Der zweite Kostenblock sind die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, diese umfassen alle Dienstleitungen – nicht Investitionen – die, wie der Name schon sagt, der Unterkunft und Verpflegung zuzurechnen sind. Der Kostensatz für die Unterkunft und Verpflegung im Haus Tanneck beträgt derzeit:

Euro 19,00 täglich.

Mit diesen beiden Kostenanteilen und ohne die Kosten für den pflegebedingten Aufwand hat man bis dahin die Kostenstruktur eines hotelähnlichen Betriebs. Die Investitionskosten sorgen für die Immobilie und die Ausstattung des Hauses und die Kosten für Unterkunft und Verpflegung finanzieren den laufenden Hotelbetrieb. Addiert man also beide Kostenblöcke, erhält man somit die sogenannten Hotelkosten. Die Hotelkosten im Haus Tanneck betragen demnach:

Euro 36,35 täglich.

Was erhält man für diese Kosten. Oder anders gefragt, was ist der Gegenwert dieser Euro 36,35 täglich?

Der Gegenwert ist zunächst einmal ein warmes, beheiztes Zimmer mit Nasszelle, fliessend Warmwasser, Strom usw., das hinsichtlich der Grösse und der Ausstattung den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen muss, das also barrierefrei ist, das eine bestimmte Grösse hat, das bereits möbliert ist und das natürlich tagtäglich gereinigt wird. Ausserdem erhält man noch das Recht auf Mitbenutzung aller Gemeinschaftsräume, die da beispielsweise sind: Speisesäale, Therapieräume, Cafeteria, Bibliothek, Pavillon als auch der Gärten (Nein, keine Sinnesgärten) und der zwei Aufzüge, die allesamt ebenso tagtäglich beheizt (Die Gärten natürlich nicht), gereinigt und durch den eigenen haustechnischen Dienst instandgehalten werden. Man erhält des Weiteren fünf Mahlzeiten mit Getränken am Tag, wie Frühstück, Zwischenmahlzeit am Vormittag, 3-Gänge-Menu zu Mittag (Suppe, Hauptspeise und Nachtisch), Zwischenmahlzeit am Nachmittag, Abendessen und bei Bedarf sogar noch eine sechste Mahlzeit, die sogenannte Spätmahlzeit. Alle Mahlzeiten werden täglich frisch in der eigenen Hausküche zubereitet, 365 Tage im Jahr. Damit aber auch noch nicht genug, verfügt das Haus noch über eine eigene Waschküche, die nicht nur die Hotelwäsche reinigt sondern auch die Leibwäsche der Bewohner, welche gewaschen, gebügelt und zusammengelegt jeden Werktag in die persönlichen Schränke der Bewohner eingeräumt wird.

Man erhält für diese Euro 36,35 täglich also ziemlich viel, wenn man so will, könnte man sagen, man erhält eine umfassende Vollpension, die bei weitaus geringerem Preis weit über das hinausgeht, was in so manchen Pensionen oder Hotels unter dem Begriff Vollpension verstanden wird.

Menschen kommen aber in der Regel nicht in Pflegeeinrichtungen, um dort Urlaub zu machen, sie kommen, da sie pflegebedürftig sind und sich deshalb in einer professionellen Pflegeeinrichtung eine Lebensqualität versprechen, die in der eigenen Häuslichkeit so nicht mehr zu gewährleisten ist. Diese Lebensqualität soll neben der Unterkunft und Verpflegung durch Pflege sichergestellt werden. Die Kosten für die Pflege oder des pflegebedingten Aufwandes variieren, je nachdem, welcher Pflegestufe der einzelne Bewohner zugeordnet worden ist. D. h. der Pflegebedarf der Bewohner ist individuell unterschiedlich. Es gibt Bewohner, die benötigen mehr Grundpflege, dafür aber weniger Behandlungspflege oder Therapie. Andere übernehmen grosse Teile der Grundpflege unter Anleitung selbst, werden aber aufgrund ihrer Demenz an 365 Tagen im Jahr von morgens bis abends in einer unserer Demenzgruppen betreut. Wieder andere Bewohner sind nicht dement, genesen aber von einer schweren Operation und haben deshalb einen immensen Bedarf an Behandlungspflege, da ihre Wunden jeden Tag auf’s Neue aufwendig versorgt werden müssen. Das hat zur Folge, dass der Gegenwert oder der Nutzen für die Kosten des pflegebedingten Aufwandes anders wie bei den Investitionskosten oder den Kosten für die Unterkunft und Verpflegung nur sehr schwer allgemein und verständlich dargestellt werden können. Aber vielleicht hilft hier ein statistischer Kunstgriff weiter. Die durchschnittliche Pflegestufe im Haus Tanneck entspricht rein statistisch betrachtet ziemlich genau der Pflegestufe II. Um die Leistungen der Pflegestufe II zu erhalten, muss ein pflegebedürftiger Mensch laut Pflegeversicherungsgesetz einen Grundpflegebedarf (Nicht Therapie-, Betreuungs- oder Behandlungspflegebedarf) von mindestens 120 Minuten täglich haben.

120 Minuten.

Was bezahlt man in Deutschland für 120 Minuten? Oder anders gefragt, was sind in Deutschland 120 Minuten Dienstleistung und Arbeit wert? Und damit sind jetzt nicht die 120 Minuten eines Kanzlerkandidaten oder eines Krankenkassenvorstandes oder eines Investmentbankers oder eines Unternehmensberaters oder eines Bundesgesundheitsministers gemeint, sondern die 120 Minuten, wie sie Menschen in ihre Rechnungen schreiben, die einem ganz normalen Handwerk oder Sprechwerk nachgehen, so wie Pflege ein ganz normales Hand- und Sprechwerk ist.

Und weil das Haus Tanneck nicht nur Rechnungen schreibt, sondern auch Rechnungen bezahlt und diese sodann in Aktenordern abheftet, damit der nette Mensch vom Finanzamt sie irgendwann einmal sichtet und prüft, finden sich in diesen Aktenordnern viele Rechnungen von Menschen, die einem ganz normalen Hand- und Sprechwerk nachgehen.

Es findet sich die Rechnung eines Installateurs, der für 60 Minuten Arbeitszeit Euro 42,90 netto berechnet. Brutto kosten den Endverbraucher demnach 120 Minuten Installateur:

Euro 102,10

Es findet sich die Rechnung eines KFZ-Fachbetriebes, der für 5 Minuten Arbeitszeit Euro 5,04 netto berechnet. Brutto kosten den Endverbraucher demnach 120 Minuten KFZ-Fachbetrieb:

Euro 143,94

Es findet sich die Rechnung des Miele Kundendienstes, den wir immer rufen müssen, wenn die alte Miele Industriewaschmaschine kaputt ist und wir sie nicht mit Bordmitteln reparieren können. Eine Stunde Miele Kundendienst kostet Euro 91,80. Brutto kosten den Endverbraucher demnach 120 Minuten Miele Kundendienst:

Euro 218,48

Keine dieser Rechnungen weist ausdrücklich eine Fachkraft aus. Es finden sich lediglich die Bezeichnungen Monteur oder Arbeitszeit. Auf meine Nachfrage, ob denn ein Stundensatz von Euro 91,80 nicht ein bisschen happig sei, entgegnete der nette Miele Kundendienst Monteur, tja, was ist denn heute noch billig? Tja, Pflege ist heute noch billig. Brutto wie netto kosten den Endverbraucher der Pflegestufe II 120 Minuten Pflege im Haus Tanneck:

Euro 55,20

Welche zudem noch alle weiteren Kosten für Therapie, Betreuung und Behandlungspflege abdecken müssen. Und das ist nicht nur billig. Das ist auch noch beschämend. Es ist beschämend, dass die Installation einer Toilette, der Austausch einer Einspritzpumpe und die Reparatur einer Waschmaschine nicht nur offenbar wesentlich wertvoller sind als der vornehme Dienst an alten, kranken und schwachen Menschen sondern sich auch noch grösserer gesellschaftlicher Akzeptanz erfreuen dürfen, während um Pflege eine Debatte entbrennt, sie sei zu teuer, obwohl sie nachweislich zu billig ist.

Und das ganze wird noch beschämender, wenn man zwischen den ganzen Online-Kommentaren, die auf einen Artikel der SZ folgten und die grösstenteils von den immer gleichen Idioten mit Schaum vor dem Mund verfasst werden, den Kommentar eines offensichtlich noch jungen Menschen mit dem Pseudonym Calmacil findet, der sich beinahe dafür rechtfertigen will, dass er sein Geld mit Pflege verdient:

„Meine Freundin und ich arbeiten beide als Pflegekräfte in einem Heim hier im Ort. Mit dem Gehalt, das wir bisher verdienten und noch erarbeiten werden (und dem Geld unserer Eltern ohne das unser Gehalt nicht dafür gereicht hätte) haben wir von der Gemeinde einen Bauplatz erstanden und Handwerker aus der Umgebung bezahlt, um ein Haus zu bauen. Wir fahren ein Auto von einer in der Nähe gelegenen Firma und kaufen unsere Lebensmittel von Händlern vor Ort.

Im Gegenzug haben wir bereits Angehörige von Bürgermeistern, Bäckern, Autobauern, Pfarrern, Handwerkern uvm gepflegt.

Ich halte das eigentlich für ein ziemlich gutes System.

Pflege in Heimen ist “teuer”?

Pflege ist vor allem keine besonders beliebte Möglichkeit, Geld auszugeben. Während Autos, Urlaub und technische Gadgets sexy sind, wird Pflege als notwendiges Übel gesehen. In einer egoistischen Konsumgesellschaft sind Dinge eben wichtiger als Menschen.“

In einer egoistischen Konsumgesellschaft sind Dinge eben wichtiger als Menschen. Dem kann man kaum widersprechen. Forscht man aber etwas tiefer über die mangelnde Wertschätzung, die Pflege entgegengebracht wird, findet man neben der Tatsache, dass Pflege nun einmal grösstenteils und traditionell Frauensache ist, und die Arbeit von Frauen generell und immer noch als minderwertig oder minderwertiger erachtet wird, den Grund der mangelnden Wertschätzung im eigentlichen Sujet von Pflege, man findet ihn in der abgrundtiefen gesellschaftlichen Verachtung von Alter, Krankheit und Schwäche, oder anders ausgedrückt in der Verachtung der Unproduktivität von Pflegebedürftigkeit. Pflege produziert nichts, keine Toiletten, Motoren oder Waschmaschinen, Pflegebedürftigkeit verbraucht nur Ressourcen. Und anders als in den Institutionen am anderen Ende der Bedürftigkeits-Biographie, den Kindergärten, bringen diese Ressourcen auch zu späteren Zeiten keinen Ertrag, denn während am Ende des Ressourcenverbrauchs in den Kindergärten die ehemaligen Kindergartenkinder irgendwann als zahlende, produzierende und somit verwertbare Mitglieder in die egoistische Konsumgesellschaft eintreten, steht am Ende des Ressourcenverbrauchs der Pflege immer nur der Tod. Ausser Spesen nichts gewesen. Diese Verachtung des Alters, der Schwäche und der Krankheit, der Unproduktivität, welche durch die Geringschätzung der Pflege hindurch schimmert, ist umso erstaunlicher, als wir alle alt zu werden wünschen, wir also das Alter gerne in Kauf nehmen würden – aber bitte immer nur ohne Krankheit, Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Aus diesem Grunde werden dann auch Slogans erfunden wie „50 ist das neue 30“ oder „70 ist das neue 50“. Wir sollen uns das Alter jung träumen. Das Alter ist aber nicht jung, es wird für die meisten von uns verbunden sein mit Krankheit, Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Und eben daran erinnert uns immer Pflege. Und genau das verzeihen ihr viele nie.

Was nun die Frage angeht, warum Pflege das kostet, was sie nun einmal kostet, so ist die Antwort denkbar einfach: Weil Pflege nun einmal von Menschen gemacht wird, die – wie alle anderen auch – von ihrer Arbeit leben wollen und zwar in Deutschland und nicht in Osteuropa.

Und natürlich ist Pflege so „teuer“, weil sie jeden Tagen benötigt wird, wochen-, monate- und manchmal sogar jahrelang, und weil immer mehr Menschen sie benötigen werden, was eine grosse, wenn nicht sogar die grösste Herausforderung an die gesellschaftliche aber auch familiäre Solidarität ist, der sich jetzt schon so viele entziehen. Die Frage, wie Pflege im Zeichen des Demographie-Wandels zukünftig finanziert werden soll und kann, ist aber keine Frage, die Pflege zu beantworten hat. Das ist vielmehr eine politische Frage, die also von den Politikern beantwortet werden sollte, die es derzeit noch vorziehen, zu ihren persönlichen PR-Zwecken dämlich von ihren Ministeriums-Webseiten herabzugrienen, statt die Lösung endlich anzugehen.

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